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Zum Beitrag von Prof. Dr. Thomas Behrens et al.

“Synergistische Effekte nach Mehrfachexposition — Bewertung für die Regulation“

In: ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 452–458

Behrens et al. stellen in ihrem Artikel fest, dass bei Abwesenheit entsprechender Evidenz nur die Einzelstoffe entsprechend der bestehenden Grenzwerte kontrolliert werden können. Da sie diesen Beitrag ausdrücklich zur Diskussion stellen, ein Kommentar aus der Praxis.

Dieser Kommentar beruht ausschließlich auf Erfahrungen aus der Praxis. Der Autor dieses Kommentars hat weder versucht, die mathematischen Modelle im Beitrag von Behrens et al. zu verstehen, noch die vielen zitierten Quellen gelesen. Er geht davon aus, dass die Vorgehensweise in der Praxis in all diesen Quellen außer Acht gelassen wurde.

Behrens et al. betrachten die Möglichkeiten, die Expositionen gegenüber allen an einem Arbeitsplatz vorliegenden Stoffe zu bewerten und kommen zu dem Schluss, dass bei Abwesenheit entsprechender Evidenz nur die Einzelstoffe entsprechend der bestehenden Grenzwerte kontrolliert werden können – vermutlich wohl wissend, dass zu kaum einem binären System und schon gar nicht zu den in der Praxis meist vorliegenden Multistoffsystemen Erkenntnisse zum Zusammenwirken vorliegen und auch langfristig nicht vorliegen werden.

Es ist sicher wissenschaftlich interessant, sich mit solchen Fragestellungen zu beschäftigen. Aber wie sieht die Praxis aus?

In der Praxis werden im Arbeitsschutz die Pflichten nach der Gefahrstoffverordnung ähnlich konsequent befolgt wie die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen. Zumindest in den kleineren und mittleren Unternehmen, also in mindestens 80% der Betriebe.

Es gibt aber auch Unterschiede zum Verhalten auf Autobahnen. Jeder kennt die Bestimmungen zur Einhaltung der Geschwindigkeiten, während in sehr vielen Betrieben die Vorschriften der Gefahrstoffverordnung nicht bekannt sind und daher auch nicht befolgt werden:

  • Es wird nicht ermittelt, ob Grenzwerte eingehalten werden und
  • Expositionen sind nicht bekannt.

Selbst wenn dies aber der Fall ist, erleichtert das Regelwerk mit seinen vielen Begriffen wie AGW, MAK, DNEL, ERB, Beurteilungsmaßstab etc. dem Unternehmer die Beurteilung der Exposition seiner Mitarbeiter nicht.

Zudem gibt es nur für einen Bruchteil der in den Betrieben eingesetzten Stoffe staatliche bzw. europäische Grenzwerte. REACH hat diese Defizite noch einmal deutlich gemacht.

Behrens et al. beziehen ihre oben zitierte Schlussfolgerung dann auch nur auf Stoffe mit Grenzwerten. Zu bewerten ist aber laut Gefahrstoffverordnung (§6, s. auch §6 (14)) die Exposition gegenüber allen Stoffen am Arbeitsplatz bzw. den Gemischen, ob mit oder ohne Grenzwert (s. zum Beispiel §7 (9) GefStoffV).

Zudem gilt das Minimierungsgebot (§7 (4)), was sich ebenfalls nicht nur auf Stoffe mit Grenzwerten bezieht und für krebserzeugende Stoffe in noch schärferem Maße gilt (§10 (1)).

Eine Minimierung der Exposition gegenüber krebserzeugenden Stoffen ist immer notwendig, unabhängig davon, wie hoch die Exposition ist, wie weit man Expositionen messen kann oder ob ein oder mehrere Krebsstoffe vorliegen.

Daher würde eine Addition der Stoffindices (Exposition durch Grenzwert) zu einem Summenindex keine Verschärfung gegenüber dem derzeitigen Recht bedeuten.

Die Einführung eines Summenindex für alle krebserzeugenden Stoffe an einem Arbeitsplatz unabhängig von den jeweils betroffenen Zielorganen würde das (ohnehin geltende) Minimierungsgebot lediglich verdeutlichen.

Dazu sind keine wissenschaftlichen, epidemiologischen, statistischen oder sonstigen Überlegungen notwendig, sondern eine Rückbesinnung auf die Grundpflichten des Chemikalienrechts.

Somit ist dem ebenfalls in der Veröffentlichung von Behrens et al. aufgeführten Satz zuzustimmen „Der Vorteil eines einfachen Additionsmodells liegt sicherlich darin, dass eine Summation als Konvention für die Bewertung krebserzeugender Stoff am Arbeitsplatz zu einer schnellen Beurteilung führt und zudem im Sinne des Arbeitsschutzes für die betroffenen Beschäftigten einen konservativen Ansatz darstellt.“ Nur darf diesen Vorschlag nicht nur auf Stoffe mit staatlichen oder europäischen Grenzwerten bezogen werden, sollen auf alle Stoffe, für die Grenzwerte existieren, beispielsweise auch MAK-Werte oder DNEL.

Insgesamt mag daher der Artikel ein großes Problem wissenschaftlich betrachten. Für die Praxis sind diese Überlegungen wenig hilfreich. Hier wäre weiterhin die Umsetzung der Gefahrstoffverordnung notwendig.

Verfasser

Dr. Reinhold Rühl

Georg-Büchner-Str. 16c

61194 Niddatal

Replik der Autoren

Wir danken Herrn Rühl für seinen Kommentar zu unserem Artikel. Unser Beitrag hatte das Ziel, zum einen eine praxisnahe Empfehlung für den Umgang mit Gefahrstoffen in der Prävention, zum anderen für deren nachträgliche Bewertung im Rahmen des BK-Rechts zu geben.

Dabei haben wir gerade nicht auf mathematische Modelle zurückgegriffen, sondern die inhaltlichen Grundlagen von Kombinationswirkungen und Interaktionen erläutert, um dann ein machbares Vorgehen in der Praxis zu beschreiben. Alle Aussagen sind dabei unabhängig vom Vorliegen eines Arbeitsplatzgrenzwertes (AGW): Sie können genauso auch auf MAK-Empfehlungen, Akzeptanzrisiken, Beurteilungsmaßstäbe o.Ä. angewandt werden.

Bei unserer Darstellung sind wir von zwei Überlegungen ausgegangen:

  1. die Unterstellung eines mindestens additiven Zusammenwirkens zweier Gefahrstoffe, die wir für nicht zutreffend halten, und
  2. die Konsequenzen einer Summation der Einzelstoffe für eine quantitative Ableitung von beruflichen Gesundheitsrisiken.

Dem ersten Punkt liegt die vereinfachende Vorstellung einer impliziten direkten Verstärkung der Einzelwirkungen zugrunde, die in der Realität vermutlich eher selten vorkommt. Eine Interaktion zweier Gefahrstoffe kann auch bei unteradditiven Wirkungen vorliegen. Letztere sind möglicherweise sogar häufiger als überadditive Wirkungen. Hier würde die Kontrolle der Einzelstoffe also ausreichen, um eine erhebliche Risikoreduktion zu erzielen. Alternativ könnten auch die Leitsubstanz (s. Beispiel Schweißrauch) oder die dominierende Gefahrstoffkomponente kontrolliert werden, um eine erhebliche Reduktion der Exposition zu erreichen. Dieses Vorgehen entspricht dabei genau dem in der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) geforderten Minimierungsgebot.

Die Anwendung eines vereinfachenden Summenscores ist dagegen gerade nicht praxisnah, da sie als Konsequenz zu einer anteilsmäßigen Reduktion der einzelnen Grenzwerte führen würde, wie wir auf S. 457 ausgeführt haben. Die Addition kann sogar zu der paradoxen Situation führen, dass mehrere Stoffe in einem komplexen Gemisch, die einzeln deutlich unterhalb des jeweiligen Grenzwertes liegen, in der Summe zu einer Überschreitung führen würden. Dieses Szenario ist offensichtlich nicht praktikabel. Ihm kann aber ebenfalls durch eine Kontrolle der Einzelsubstanzen begegnet werden, um dem Minimierungsgebot der GefStoffV zu entsprechen.

Im Namen aller Koautoren:

Prof. Dr. med. Thomas Behrens, MPH

Institut für Prävention und Arbeitsmedizin

der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung,

Institut der Ruhr-Universität Bochum (IPA)

Bürkle-de-la-Camp-Platz 1

44789 Bochum

behrens@ipa-dguv.de