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Zum Beitrag von Prof. Dr. Dieter Ahrens

“Gesundheitsökonomische Bewertung des betrieblichen Gesundheitsmanagements“

In: Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51 (11): 794–799

Aus hier vertretener betriebsärztlicher Sicht stellt die Arbeit von Dieter Ahrens eine begrüßenswerte und überfällige Analyse des sog. betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) dar.

Begrüßenswert, da die theoretisch so häufig postulierten Erfolge des BGM und der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) im betrieblichen Alltag oft spärlich ausfallen oder zumindest schwer messbar sind.

Überfällig, da in den einschlägigen Medien die Themen BGF und BGM nahezu ausschließlich positiv und oft mit erstaunlicher Oberflächlichkeit präsentiert und manchmal regelrecht beworben werden. Zumindest vermisst man meistens das in jedem Qualitätsmanagement unabdingbare Vorgehen nach dem Deming-Zyklus mit seinem Plan-Do-Check-Act. Die typischen und häufig redundanten Darstellungen gehen nicht über Plan und Do hinaus und Letzteres ähnelt in der Praxis oft einem wenig hinterfragten, unstrukturierten Aktionismus.

Dass Check und Act dringend nötig sind, zeigt die Analyse von D. Ahrens, indem er u. a. herausarbeitet, dass der ROI umso geringer ausfällt, je seriöser man untersucht.

Dieter Ahrens merkt weiter an, dass die Übertragbarkeit klassischer epidemiologischer Evaluationsmethoden auf die komplexen Interventionen im BGM fraglich erscheint. Eine Anpassung an diese Komplexität sei erforderlich. Dies ist eine interessante und zukunftsweisende These, deren Realisierung vielleicht tatsächlich einmal positive Ergebnisse nachweisen wird – Ergebnisse jedoch, die nicht so schnell zu erwarten sind.

Aber BGF und BGM finden schon heute statt und binden in den Unternehmen zunehmend umfangreiche personelle und finanzielle Ressourcen. Und insofern besteht schon heute ein berechtigtes Interesse der Beteiligten am Outcome der Aktivitäten: aus Sicht des Unternehmers, der einen Imagegewinn und einen positiven ROI z.B. durch Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquote erwartet, und aus Sicht der Beschäftigten, die ein Recht haben, eindeutig zu erfahren, ob die BGF-Angebote tatsächlich die Teilnahme mit dem damit verbundenen Aufwand lohnen.

Um einen Beitrag zur Vermeidung von Fehlentwicklungen zu leisten, soll an dieser Stelle aufgrund von Erfahrungen nach über zehnjährigem Engagement in der betrieblichen Praxis von BGF und BGM und Meinungsaustausch mit einer Vielzahl betriebsärztlicher Kolleginnen und Kollegen auf Schwächen und Schwierigkeiten im Umgang mit BGF und BGM hingewiesen werden:

  • Die Begrifflichkeit „BGM“ entbehrt bis heute jeglicher Legaldefinition. Deshalb verwundert es nicht, dass immer wieder unterschiedliche Vorstellungen damit verknüpft werden und der Bewertung ein verbindlicher, allgemein anerkannter Standard fehlt. Immer wieder wird auch von BGM gesprochen, wenn BGF gemeint ist und umgekehrt.
  • Auch die Begrifflichkeit „BGF“ bietet Schwierigkeiten: Gesundheit lässt sich schützen, was schon schwer genug ist, fördern jedoch per Definition nicht. Dies ist nicht trivial, mag doch diese semantische Ungenauigkeit tendenziell bei einigen Beschäftigten falsche Erwartungen wecken. Zwar ist im Präventionsgesetz eine saubere Definition gelungen („Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns“) und auch das Konzept der Salutogenese im Sinne von Aaron Antonovsky bietet Hilfe. Beides ist jedoch in der Praxis zu sperrig. Und so wird im allgemeinen Sprachgebrauch unverdrossen Gesundheit „gefördert“.
  • Gleichfalls zu Missverständnissen kann eine Mitarbeiterbefragung als Einstieg in ein BGM führen, wenn sich im Vorfeld die Unternehmensleitungen nicht klar gemacht haben, dass evtl. unliebsame Ergebnisse auftreten können. Wenn diese dann negiert werden oder für die Beschäftigten spürbare Verbesserungen ausbleiben, ist BGF und erst recht das sog. BGM bei den Beschäftigten emotional bereits beendet, bevor es richtig in Fahrt gekommen ist.
  • Schaut man sich die Umsetzung von BGF über längere Zeit an, so stellt man fest, dass man mit den Maßnahmen typischerweise nicht jene erreicht, die – einfach gesprochen – es eigentlich nötig hätten, sondern vielmehr jene, die ohnehin schon gesundheitsbewusst leben, entsprechend der Lebenserfahrung, dass nur die Gläubigen in die Kirche gehen. Damit im Zusammenhang steht, dass die Teilnahmequoten besonders bei längerfristig angelegten BGF-Maßnahmen oft deutlich unter 10 % bleiben.
  • Was die Anbieter von BGF-Aktivitäten anbetrifft, so trifft man oft auf ein unübersichtliches Spektrum von Akteuren, das von multifunktionalen Moderatoren und Beratern über Coaching-Experten bis hin zu esoterisch geprägten Freiberuflern reicht und das einen betriebsärztlichen Laien als Entscheider im Unternehmen und hier vor allem in den KMU-Betrieben schlichtweg überfordert.
  • In der Praxis besteht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention, den eigentlich gleichberechtigten Säule von BGM. Es dominieren die Appelle an die Beschäftigten, sich fit zu machen z. B. durch sog. gesunde Ernährung, Gewichtsabnahme sowie Teilnahmen an Bewegungsprogrammen und Anti-Stress-Seminaren. Eine untergeordnete Rolle spielt demgegenüber die Verhältnisprävention mit gesundheitlich relevanten Veränderungen der Rahmenbedingungen der Arbeit wie z. B. der Begrenzung ständiger Leistungsverdichtung und Leistungserwartungen einschließlich impliziter Aufforderung zur „Selbstoptimierung“.
  • Was schließlich die Evaluationsversuche in den Unternehmen anbetrifft, so bewegen sich diese häufig auf äußerst schlichtem Niveau wie z. B. in Form von Teilnehmerzahlen an Kursen, Vorträgen oder Workshops. Weitergehende Bemühungen um eine Wirksamkeitskontrolle sind durchzogen von methodischen Schwächen, namentlich in Form von Selection Bias und Attribution Bias (s. D. Ahrens). Vor allem die Nachhaltigkeit, soll heißen: die langfristige Wirksamkeit der Maßnahmen und Konzepte über die optimistisch stimmende Anfangsphase hinaus, bleibt unklar bzw. verflüchtigt sich erkennbar rasch. Diese Nachhaltigkeit stellt nach hier vertretener Einschätzung die Achillesferse von BGF und BGM dar.
  • Der kritische Beobachter stößt inzwischen auf Hinweise, dass BGF bzw. BGM in der Vorstellung einiger Unternehmensleitungen in eine Richtung interpretiert werden, die zwar verständlich sein mag, aber sicherlich nicht von der Grundidee vorgesehen war. Hierzu zählt z. B. die Auffassung, dass BGF-Maßnahmen verpflichtenden Charakter haben müssten, damit sich endlich die erkennbar ausbleibenden Erfolge z. B. gemessen am Rückgang der Arbeitsunfähigkeitsquote einstellen. Oder die Auffassung, dass im Falle einer betriebswirtschaftlich relevanten Senkung der Arbeitsunfähigkeitsquote die gewonnene Arbeitskapazität für weitere Stellenkürzungen genutzt werden kann, um so zu einem nennbaren ROI zu kommen.

Ein Blick über den Tellerrand der betrieblichen Praxis hinaus führt zum Präventionsgesetz, mit dem auch viele Betriebsärztinnen und Betriebsärzte große Erwartungen verknüpft hatten und verknüpfen. Doch sollte man sich aus hier vertretener Ansicht bescheiden angesichts der thematischen wie bürokratischen Komplexität und der geringen finanziellen Ausstattung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, die annähernd einem einzigen Tag der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im deutschen Gesundheitswesen entspricht. So mag einen der Verdacht beschleichen, dass dem Gesetzgeber selber eine größere Investition in die (Primär-)Prävention und Gesundheitsförderung zu riskant ist, was aufgrund der ernüchternden Erfahrungen mit umfangreichen z. T. staatlich gestützten Interventionen im angelsächsischen Raum nicht verwunderlich wäre.Zweifellos gibt es auch positive Erfahrungen mit BGF in der Praxis bis hin zu veröffentlichungswürdigen Leuchtturmprojekten. Aber deren Beschreibung sollte gerade nicht Gegenstand dieses Diskussionsbeitrags sein.

Stand heute ist es nach hier vertretener Einschätzung nicht zu rechtfertigen, BGF bzw. BGM vorbehaltlos anzupreisen. Vielmehr sind ein kritischer Umgang mit diesen Themen und eine differenzierte Überprüfung der Ergebnisse des gesundheitsorientierten betrieblichen Handelns analog dem Qualitätsmanagement erforderlich. Denn es bestehen zahlreiche Probleme und Missverständnisse in der betrieblichen Praxis. Und Wirksamkeit wie Wirtschaftlichkeit sind derzeit nicht hinreichend belegt (s. D. Ahrens).

Kurz gefasst: Wir haben noch viel zu tun! Für einen Misserfolg sind die Ideen gesundheitsorientierten Handelns auf betrieblicher Ebene zu wichtig.

Verfasser

Dr. med. Klaus Leemhuis

Facharzt für Arbeitsmedizin

Facharzt für Allgemeinmedizin

Gesundheitsförderung und Prävention

Tannenstr. 20

58332 Schwelm

klee1@t-online.de

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