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Warum Schadensersatzklagen nach arbeitsmedizinischen Diagnosen schwierig sind

“Privilegierte“ Betriebsärzte

Sachverhalt

Der Kläger war 20 Jahre im Postzustelldienst beschäftigt. Im Juli 2015 diagnostizierte die Betriebsärztin, der Kläger sei „nicht mehr in der Lage, seine Tätigkeit als Postzusteller zeitgerecht auszuführen“. Ein von einem zweiten Arbeitsmediziner in Auftrag gegebenes psychiatrisches Fachguten bestätigte diesen Befund. Der Arbeitgeber versetzt den Kläger mit einer Änderungskündigung in den Innendienst.

Der Kläger beantragte

  • die Feststellung, dass die Äußerung „medizinisch unwahr“ ist, und
  • ein Schmerzensgeld, dessen Höhe er in das Ermessen des Gerichts stellt.

Urteil des LG Leipzig

Das Landgericht Leipzig weist die Klage ab wegen fehlender Pflichtverletzung (LG Leipzig, Urteil v. 12. April 2017 (Az. 5 O 2000/16)). Eine solche „Pflichtverletzung kann beispielsweise in Form eines Diagnoseirrtums bestehen, der auf der Fehlinterpretation erhobener Befunde beruht“.

  • Erstens kann aber das „Persönlichkeitsrecht grundsätzlich nicht vor jeglicher unliebsamen Diagnose schützen, wenn diese sich nicht außerhalb des einem Arzt zuzugestehenden Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum befindet“.
  • Zweitens habe der Kläger nicht bestritten, dass die von der beklagten Betriebsärztin ausgestellte Diagnose bestätigt worden sei.

Urteil des OLG Dresden

Der Kläger geht in Berufung. Das Oberlandesgericht Dresden bestätigt das erstinstanzliche Urteil (OLG Dresden, Beschluss vom 3. Juli 2017 (Az. 4 U 806/17)) und wird ausführlicher:

Kein Vertrag

Der Kläger „hat mit der Beklagten keinen Behandlungsvertrag abgeschlossen und ist von ihr auch nicht ärztlich behandelt worden. Die Begutachtung beruht hier vielmehr auf § 3 Abs. 1 Nr. 2 ASiG“.

Keine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung

Die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann zwar einen Anspruch auf Geldentschädigung begründen, „wenn ein schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht vorliegt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann“. Aber „unabhängig von der Frage, ob die Einschätzung der Beklagten zum Gesundheitszustand des Klägers auf einer hinreichend tragfähigen Grundlage fußt, ist nicht davon auszugehen, dass die zugrunde liegenden medizinischen Befunde an Dritte oder an den Arbeitgeber des Klägers“ weitergegeben werden. Denn „der Betriebsarzt hat die ärztliche Schweigepflicht nach § 8 Abs. 1 Satz 3 ASiG auch im Verhältnis zum Arbeitgeber zu beachten“.

Angriff gegen (ärztlichen) Wertungen nur bei grober Leichtfertigkeit

Außerdem sind rechtliche Angriffe gegen Wertungen generell schwierig: „Eine Diagnosestellung ist eine Wertung. Zwar enthält sie zugleich die Behauptung, dass der Kläger über eine ‚starre rigide Denkweise‘ verfüge und sich weigere, Zustellungen auszuführen, wenn ‚der Briefkasten nicht in Ordnung ist‘. Hieraus wird die Schlussfolgerung gezogen, dass der Kläger für den Postzustellungsdienst ungeeignet sei. Bei einem solchen ärztlichen Schluss handelt es sich um eine Meinungsäußerung. Eine solche ärztliche Beurteilung ist wie andere Beurteilungen ihrem Wesen nach nicht widerrufbar. Sie mag angezweifelt werden und kann sich als irrig erweisen. Jedoch kann der Arzt grundsätzlich nicht gezwungen werden, sie zu widerrufen“.

Das OLG ergänzt: „Der dem Arzt im Bereich der Diagnose zustehende weite Beurteilungs- und Wertungsspielraum spiegelt sich auch haftungsrechtlich darin wider, dass selbst Diagnoseirrtümer nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler bewertet werden können. Für die arbeitsmedizinische Beurteilung folgt dies aus § 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2 ASiG [allgemein siehe Wilrich 2016]. Vor diesem Hintergrund käme die Feststellung einer Schadensersatzpflicht allenfalls dann in Betracht, wenn die der Schlussfolgerung vorausgehende methodische Untersuchung oder die zu dem Ergebnis führende Anwendung spezieller Kenntnisse und Fähigkeiten grob leichtfertig erfolgt ist. Eine grob leichtfertige Gutachtenerstattung liegt indes nicht bereits dann vor, wenn – wie der Kläger behauptet – die Diagnose ohne die gebotene ‚medizinische Austestung‘ getroffen wurde, sondern erst dann, wenn dem Gutachter jedwede Kompetenz für die Beurteilung der von ihm beantworteten Frage fehlt oder wenn er zwar über die notwendige Fachkunde verfügt, von seinen speziellen Fähigkeiten und Kenntnissen bei der Begutachtung aber keinen Gebrauch gemacht hat“.

„Privilegierung“ von Aussagen in gesetzlich geregelten Verfahren

Schließlich überträgt das OLG Dresden die Rechtsprechung über „privilegierte Äußerungen“ in gesetzlich geregelten Verfahren auf die arbeitsmedizinische Begutachtung: Nach diesem Rechtsgrundsatz „kann Vorbringen, das in engem und unmittelbarem Zusammenhang mit der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in einem gesetzlich geregelten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren steht, grundsätzlich nicht mit Ehrenschutzklagen abgewehrt werden1. Solche Verfahren sollen nicht durch eine Beschneidung der Äußerungsfreiheit der daran Beteiligten beeinträchtigt werden. Vielmehr sollen die Beteiligten dort alles vortragen dürfen, was sie zur Wahrung ihrer Rechte für erforderlich halten, auch wenn hierdurch die Ehre eines anderen berührt wird“. Dies gilt „auch für sachverständige Äußerungen im Rahmen eines arbeitsmedizinischen Begutachtungsverfahrens2. Dies folgt aus der Stellung des Betriebsarztes, dessen Aufgabe nach § 3 Abs. 1 ASiG allein3 in der Unterstützung des Arbeitgebers bei Fragen des Gesundheitsschutzes besteht. In dieser Tätigkeit ist ein Spannungsverhältnis zwischen der Weisungsfreiheit (§ 8 Abs. 1 ASiG) des Betriebsarztes einerseits, seiner Stellung als Dienstverpflichteter und den Vorstellungen von Arbeitgeber, Betriebsrat und Beschäftigten über die zum Arbeitsschutz und zur Arbeitssicherheit notwendigen Maßnahmen andererseits angelegt. Seine gesetzlichen Aufgaben kann der Betriebsarzt in diesem Spannungsverhältnis nur erfüllen, wenn er nicht befürchten muss, wegen seiner medizinischen Einschätzung im Nachhinein haftbar gemacht zu werden. Dem dient das in § 8 Abs. 1 Satz 2 ASiG geregelte Benachteiligungsverbot sowie die in § 8 Abs. 1 Satz 3 ASiG enthaltene Bindung allein an das ‚ärztliche Gewissen‘. Dies rechtfertigt es, die Grundsätze der privilegierten Äußerung auch auf das Begutachtungsverfahren nach § 3 ASiG zu erstrecken“. Es „könnte die Diagnose der Beklagten in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren überprüft und ggf. abgeändert werden“.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Wilrich T: Sicherheitsverantwortung: Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung – mit 25 erläuterten Gerichtsurteilen. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2016.

Fußnoten

1 So entscheidet der BGH schon seit langem, etwa im Urteil vom 23.02.1999 (Az. VI ZR 140/98).

2 Das hatte der BGH im Urteil vom 11.04.1989 (Az. VI ZR 293/88) noch offen gelassen.

3 So steht es im Urteil. Das Gericht verkennt natürlich nicht, dass es zahlreiche weitere Aufgaben gemäß ASIG gibt.Das „allein“ bezieht sich darauf, dass das ASIG eine Stabstelle „allein“ mit Beratungs- und Unterstützungsfunktion ohne Weisungsbefugnis vorsieht.

    Info

    Auszug aus dem Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG)

    § 3 Aufgaben der Betriebsärzte

    (1) Die Betriebsärzte haben die Aufgabe, den Arbeitgeber beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung in allen Fragen des Gesundheitsschutzes zu unterstützen. Sie haben insbesondere …

    2. die Arbeitnehmer zu untersuchen, arbeitsmedizinisch zu beurteilen und zu beraten sowie die Untersuchungsergebnisse zu erfassen und auszuwerten …

    § 8 Unabhängigkeit bei der Anwendung der Fachkunde

    (1) Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit sind bei der Anwendung ihrer arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Fachkunde weisungsfrei. Sie dürfen wegen der Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben nicht benachteiligt werden. Betriebsärzte sind nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen und haben die Regeln der ärztlichen Schweigepflicht zu beachten.

    (2) Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder, wenn für einen Betrieb mehrere Betriebsärzte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit bestellt sind, der leitende Betriebsarzt und die leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit, unterstehen unmittelbar dem Leiter des Betriebs.

    Autor

    Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich

    Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen

    Hochschule München

    Lothstraße 64

    80335 München

    info@rechtsanwalt-wilrich.de

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