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Mainzer Modell | Mainzer Modell: Risikofaktoren von Fehlbildungen bei Neugeborenen von werdenden Mütter im medizinisch-diagnostischen Bereich

Geburtenregister zur Erforschung teratogener Effekte

Angeborene Fehlbildungen

Bei etwa 5–7 % aller Neugeborenen werden große Fehlbildungen (z. B. Spina bifida, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte) diagnostiziert. Etwa ein Fünftel der Fehlbildungen sind schwer und lebensbedrohlich (Eurocat Report 8 2002, Queißer-Luft u. Spranger 1997). Kinder mit angeborenen Defekten machen etwa ein Drittel aller stationären pädiatrischen Aufnahmen aus und stellen somit – unabhängig von den medizinischen, sozialen und individuellen Folgen – bei der Versorgung der Patienten einen hohen Kostenfaktor dar. In den westlichen Industrieländern steht etwa ein Viertel aller kindlichen Todesfälle im Zusammenhang mit angeborenen Fehlbildungen. Die frühzeitige Diagnose und Prävention, die Einleitung einer bestmöglichen Therapie sowie die problemangepasste Begleitung von Kindern mit angeborenen Defekten und deren Eltern sind daher wesentliche Aufgaben der Pädiatrie.

In etwa 50 % der Fälle ist die Ursache der angeborenen Fehlbildung nicht bekannt. In ca. 20–25 % werden monogen erbliche Ursachen, in 8–10 % chromosomale, in 2–5 % Virusinfektionen, in etwa 2 % eine maternale Medikamenteneinnahme und in ungefähr 2 % ein mütterlicher Diabetes als Ursache angegeben. Die intrauterine Entwicklung des Kindes kann durch äußere Störfaktoren (z. B. chemische und physikalische Noxen, Fehlernährung, ökosoziale Faktoren, berufliche Expositionen) beeinflusst und sehr empfindlich gestört werden (Kalter u. Warkany 1983; Sheppard 1995; Warkany 1971). Fehlbildungen können dann Folge solcher schädigenden Einflüsse sein. Spätestens seit der Thalidomid-Katastrophe sind die möglichen Auswirkungen einer reproduktionstoxischen Substanz in der Schwangerschaft offensichtlich (Lenz W u. Knapp 1962).

Geschichte und Ziele des Geburtenregisters Mainzer Modell

Das Geburtenregister Mainzer Modell (MaMo) wurde 1990 vom Bundesministerium für Gesundheit initiiert. Primärer Auslöser war der Tschernobyl-Unfall, aber auch die Thalidomid-Katastrophe sowie unzureichende Daten zur Häufigkeit und Ursache von Fehlbildungen im Allgemeinen und im Speziellen spielten eine Rolle. Angeborene Fehlbildungen entstehen zu bestimmten Zeitpunkten während der Organogenese im ersten Trimenon der Schwangerschaft (sensible Phase der Schwangerschaft). Fehlbildungen können bei Geburt diagnostiziert und erfasst werden, wenn man aktiv erhebt und sich nicht auf passive Meldesysteme verlässt. Das Mainzer Umfeld mit drei Geburtskliniken, einer Bevölkerung von ca. 370.000 Menschen und mit etwa 3400 populationsbezogenen Geburten im Jahr ist von der lokalen Begrenzung (Ø > 92 % Populationsbezug und der Anzahl an Geburten optimal, um eine Surveillance mit einem intensiven, überschaubaren Studiendesign mit zwei bis drei Ärzten/Wissenschaftlern durchführen zu können.

Es wurden in den vergangenen 25 Jahren alle Lebendgeborenen standardisiert klinisch und sonografisch (routinemäßig Nieren, Hüften) auf Fehlbildungen von Kinderärzten mit großer neonatologischer und genetischer Expertise untersucht. Alle weiterführenden diagnostischen Maßnahmen können postpartal veranlasst werden, um auffällige Befunde abzuklären (z. B. ein „Herzschall“ bei entsprechenden Auskultationsbefunden oder ein Ultraschall des Schädels bei entsprechender Anamnese).  Abbildung 1 zeigt die logistischen Strukturen und Quellen im MaMo.

Ziel des MaMo ist es, unbeeinflusst qualitativ hochwertige medizinische und anamnestische Angaben sowie Untersuchungsbefunde aller Kindern zu erhalten, wobei als Zielgrößen Fehlbildungen und deren mögliche Ursachen im Vordergrund stehen.

Methode und Kollektiv des Mainzer Modells

Im Gegensatz zu einem Fehlbildungsregister (ausschließliche Erfassung von Kindern mit diagnostizierten Fehlbildungen) werden in einem Geburtenregister alle Kinder, d. h. mit und ohne Fehlbildungen, untersucht sowie Angaben zur Berufs- und Sozialanamnese vor der Geburt aus den Klinik- und Hebammenakten übernommen. Die Gruppe der Kinder mit Fehlbildungen wird aus diesem Datensatz heraus markiert, so dass immer eine optimale Vergleichsgruppe (Kinder ohne Fehlbildungen) zur Analyse von möglichen Risikofaktoren vorhanden ist, zumal es sich um Kinder aus der gleichen Population handelt (Quellpopulation = Zielpopulation). Seit 1990 wurden auf die oben dargestellte Weise mehr als 100.000 Kinder standardisiert in der ersten Lebenswoche untersucht und in das Register aufgenommen. Bei Aborten und Totgeborenen wurden die Befunde der Pathologie und Pränatalzentren eingeschlossen. Um Recall Bias zu vermeiden, wurden die anamnestischen Angaben zur Schwangerschaft, Familie, Geburt und Exposition zumeist sechs Wochen vor Geburt (Klinikakten, Hebammenfragebögen und Mutterpässe) erhoben. Diese Angaben wurden gemeinsam mit den Untersuchungsbefunden pseudonymisiert verschlüsselt. Routinemäßig und bei speziellen Fragestellungen werden zumeist populationsbezogen deskriptive und analytische Auswertungen (z.B. Fall-Kontroll-Analysen) durchgeführt – aktuell auch retrospektive Analysen zum Thema der Teratogenität am Arbeitsplatz.

Die Daten werden in Einklang mit den Regeln der „Good Epidemiological/Clinical Practice“ pseudonymisiert und nach Vorgaben des Datenschutzes und der Ethikkommission entsprechend sicher verwahrt und verschlüsselt.

Allgemeine Ergebnisse

Die Vollzähligkeit der populationsbezogenen Datensätze beträgt nahezu 100 %, die der Kernvariablen ebenso. In den vergangenen 25 Jahren haben sich sowohl die Fehlbildungsprävalenz insgesamt als auch die Zuordnung zu den einzelnen Organkategorien nicht wesentlich verändert. Die Fehlbildungsprävalenz liegt insgesamt bei ca. 6 %. Die organbezogene Aufteilung der Fehlbildungen in die verschiedenen Kategorien ist der  Tabelle 1 zu entnehmen, wobei die einzelnen Fehlbildungen bei einem Kind (z. B. bei einer syndromalen Erkrankung) in unterschiedlichen Kategorien aufgeführt werden.

Die Überprüfung bekannter Risikofaktoren (z. B. Antiepileptika, Alkohol) und Analyse neuer Faktoren und deren Wertigkeit ist in  Tabelle 2 dargestellt. Der bekannte Risikofaktor „höheres mütterliches Alter ( 35 Jahre)“ hat für die Gesamtheit aller Fehlbildungen mit einer OR von 1,1 nur eine Borderline-Signifikanz. Die Testung dieses Risikofaktors ausschließlich für chromosomale Aberrationen (ca. 7 % aller großen Fehlbildungen) ergibt eine signifikante Verdopplung.

Bei etwa jedem 16. Kind wird eine große Fehlbildung diagnostiziert. Während die Basisprävalenzen, auch die der Organkategorien, nahezu unverändert blieben, konnten bekannte teratogene Risikofaktoren bestätigt und neue identifiziert werden. So wurden bei den künstlich induzierten Konzeptionen durch ICSI (intrazytoplasmatische Spermatozoen-Injektion) und für bestimmte Antiasthmatika erhöhte Risiken berechnet. In den aktuellen Analysen zum Thema Exposition durch ionisierende Strahlung im medizinischen Umfeld findet sich eine Verdopplung des Fehlbildungsrisikos; dies bedarf einer Abklärung.

Eingebettete Forschungsvorhaben

Wunschkaiserschnitt

Ein Wunschkaiserschnitt hat für Mutter und Kind gesundheitliche und für die Gesellschaft politische und ökonomische Folgen. Der in den vergangenen Jahren zunehmende Trend zum Wunschkaiserschnitt, der auch im MaMo dokumentiert wird, lässt Schlussfolgerungen über Änderungen der gesellschaftlichen Einstellungen zu den Aufgaben der Medizin und der medizinischen Versorgung zu. Sowohl in Deutschland als auch in anderen Industrienationen können beispielsweise als mögliche Ursachen die Zunahme von älteren Schwangeren als auch die Zunahme der „Wunschkinder“ und die damit verbundene veränderte Anspruchshaltung infrage kommen.

Medikamenteneinnahme in der (Früh)Schwangerschaft

Auch heute stehen Medikamente im Zentrum der medizinischen Forschung, explizit ist die Medikamenteneinnahme in der Schwangerschaft von großem Interesse. Schwangere wurden bisher immer von Medikamentenstudien ausgenommen, sogar wenn sie die Zielgruppe waren. Entsprechend sind Surveillance-Systeme, die im Sinne einer Phase-4-Studie Daten generieren, überaus wertvoll, da sie erste Hinweise auf mögliche Probleme liefern können. Basiszahlen und ein Kontrollkollektiv wie durch das MaMo können notwendige Vergleichswerte bereitstellen. Bekannte embryotoxische Medikamente (z. B. Valproinsäure) lassen sich bestätigen, andere Medikamente, z. B. neue Psychopharmaka, können auf embryotoxische Effekte untersucht werden.

Gestationsdiabetes

Schwere medizinische Folgen des Gestationsdiabetes werden für Mutter und Kind beschrieben. Aufgrund der entsprechenden Richt- und Leitlinien gab es in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland viele Bemühungen, den Gestationsdiabetes frühzeitig erkennen und adäquat behandeln zu können. Das Ziel ist, bei diesen Müttern und Kindern Probleme und Komplikationen des Gestationsdiabetes zu vermeiden. Die Daten des MaMo dokumentieren die seit Jahren ansteigenden Zahlen von Müttern mit Gestationsdiabetes.

Rekrutierung in der Schwangerschaft und nicht erst bei Geburt des Kindes

Erste Studienansätze behandeln das wichtige Feld der mütterlichen Rekrutierung schon in der Schwangerschaft, um ggf. bestimmte Expositionen genauer erfassen (messen) zu können.

Angeborene Fehlbildungen als Marker für kindlichen Krebs

Zwischen angeborenen Fehlbildungen und onkologischen Erkrankungen im Kindesalter bestehen eindeutige Korrelationen und Assoziationen. Dies gilt sowohl allgemein als auch für Kombinationen mit spezifischen Risikofaktoren (z. B. hohes Geburtsgewicht, Antibiotikagabe in der Frühschwangerschaft) und einzelnen Krebsentitäten. Bei Kindern mit malignen Erkrankungen besteht insgesamt eine erhöhte Fehlbildungsprävalenz, was in einem „intrauterinen Programming“ begründet sein kann. Zum Auftreten von Krebserkrankungen wurden erste Analysen dieser Assoziationen im Mainzer Modell in Kooperation mit dem Deutschen Kinderkrebsregister und der Mainzer Kinderonkologie durchgeführt.

Das MaMo im internationalen Verbund

Die Daten von Mainz werden, wie auch die der Fehlbildungsregistrierung Sachsen-Anhalt, in den Datenpool von EUROCAT (engl.: European Registry for Congenital Anomalies and Twins) eingepflegt. Seit 1970 tauschen sich auf dieser Plattform Wissenschaftler zu Fehlbildungen aus und entwickeln gemeinsame Forschungsprojekte. Die europäischen Daten werden homogenisiert, gespeichert und vergleichend analysiert. Das MaMo ist seit 1990 vertreten und bis heute das einzige Geburtenregister in diesem internationalen „Surveillance“-System. Von der Europäischen Kommission als „Concerted Action“ wird die Studienzentrale seit einigen Jahren am neu eingerichteten JRC (Joint Research Center in Ispra, Italien) geführt. Am JRC sollen alle „Big-Data“-Projekte im europäischen Kontext gesammelt, verwaltet und organisiert werden. Die Hauptziele sind, valide Daten aus Europa zusammenzuführen und auch für die Allgemeinheit gesicherte Informationen zu Fehlbildungen zur Verfügung zu stellen. Karten zu Häufigkeiten nach Regionen können erarbeitet sowie präventive Maßnahmen auf globalem Niveau geplant und überprüft werden.

Schlussfolgerungen

Die Vorgehensweise des MaMo hat sich in den vergangenen 25 Jahren bewährt und wurde im Verlauf weiter optimiert, wobei das Beibehalten der Inhalte der Vorversionen gewährleistet wurde. Potenzielle Risikofaktoren für angeborene Fehlbildungen konnten überprüft und neue identifiziert werden. Es wurden wichtige Beiträge zur Risikoforschung von Fehlbildungen und deren Vermeidung (z. B. perikonzeptionelle Gabe von Folsäure) geleistet.

Derartige Ergebnisse sind auch für den internationalen Vergleich wichtig. Die Ergebnisse des MaMo können anhand der einheitlich standardisierten Angaben mit präziserem Effektschätzer gemeinsam mit den weiteren europäischen Fehlbildungsregistern für zusätzliche Aspekte und Zusammenhänge herangezogen werden. Mit dem Surveillance-System Geburtenregister Mainzer Modell gibt es in Europa ein einzigartiges Instrument der Fehlbildungserfassung und es steht eine populationsbezogene Vergleichsgruppe (ohne die Diagnose angeborene Fehlbildung bei gleichem Erhebungsmodus) zur Verfügung.

Literatur

Eurocat report 8: Surveillance of congenital anomalies in Europe 1980-1999. Eurocat Central Registry, University of Ulster, Northern Ireland, 2002.

Kalter H, Warkany J: Congenital malformations. Etiologic factors and their role in prevention. N Engl J Med 1983; 308: 424–431, 491–497.

Lenz W, Knapp K: Thalidomide embryopathy. Arch Environ Health 1962; 5: 100–105.

Queißer-Luft A, Spranger J: Fehlbildungen bei Neugeborenen: Mainzer Modell. Kinderarzt 1997; 28: 557–565.

Queißer-Luft A, Wiesel A, Stolz G et al.: Birth defects in the vicinity of nuclear power plants in Germany. Radiat Environ Biophys 2011; 50: 313–323.

Sheppard TH: Katalog of teratogenic agens. John Hopkins University Press, 1995, S. 365–368.

Warkany J: Congenital malformation – notes and comments. Chicago: Year Book Medical Publisher, 1971.

Wiesel A, Stolz G, Queißer-Wahrendorf A: Evidence for a teratogenic risk in the offspring of health personnel exposed to ionizing radiation?! Birth Defects Res A Clin Mol Teratol 2016; 106: 475–479.

Wiesel A, Stolz G, Queißer-Wahrendorf A: Teratogene Effekte bei Kindern von Mitarbeiterinnen im überwachten medizinisch-diagnostischen Bereich. 2017 (eingereicht).

Interessenkonflikt: Alle Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

    Info

    Ausblick zum Arbeitsschutz

    Ionisierende Strahlung im medizinischen Arbeitsbereich stand im Fokus eines aktuellen Forschungsprojekts, um einen Beitrag zur Sicherheit am Arbeitsplatz zu leisten und Bedenken bezüglich eines möglichen Teratogenitätsrisikos für die Mütter und ihre Kinder weiter abzuklären. Die gesundheitlichen Folgen von ionisierenden Strahlen sind entweder aus der „Disasterepidemiologie“ (Hiroshima und Nagasaki, Tschernobyl etc.) oder aus Tiermodellen bekannt. Neben der viel erforschten Kanzerogenität steht heute auch ein möglicher reproduktionstoxischer Einfluss auf die Schwangerschaft und das Kind im Fokus. Dosis-Wirkungs-Korrelationen sind rein technisch schwierig, da es um längere Zeiträume oder sehr schwer zu messende Einflüsse geht. Das MaMo hat in drei explorativen Vor- und Machbarkeitsstudien Hinweise zu einem teratogenen Effekt bei Müttern in medizinischen Arbeitsbereichen beobachtet (Queißer-Wahrendorf et al. 2011; Wiesel et al. 2016; Wiesel et al. 2017). Deshalb sind prospektive epidemiologische Studien an einem unselektionierten Kollektiv erforderlich, um die Effektschätzer zu überprüfen und die epidemiologische Grundlage für die Berechnung solider Dosis-Wirkungs-Kurven zu schaffen.

    Für die Autoren

    Dr. med. Awi Wiesel, MSc.

    Geburtenregister Mainzer Modell

    Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Mainz Universitätsmedizin Mainz

    Langenbeckstr.1

    55131 Mainz

    awi.wiesel@unimedizin-mainz.de

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