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Eine normative Betrachtung aus sozialmedizinischer Perspektive

Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit

Historie

Die öffentliche/staatliche Organisation und Unterstützung der Langzeitpflege („long-term care“) ist europaweit sehr heterogen geregelt. Dies betrifft sowohl Rechtsgrundlagen, Strukturen, inkludierte Personengruppen, Kriterien und Methoden zur Ermittlung des Bedarfs und des Leistungsanspruchs als auch Art und Umfang der Leistungen sowie deren Finanzierung (Wingenfeld 2014). Um in Deutschland „eine umfassende Lösung der Pflegeproblematik herbeizuführen“ wurde vor 25 Jahren mit Geltung erster Vorschriften ab 01.06.1994 mit dem Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG) vom 26. Mai 1994 die soziale Pflegeversicherung (SPV) mit Ergänzung des Sozialgesetzbuchs (SGB) um das Elfte Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) unter Federführung des damaligen Bundesarbeits- und -sozialministers Dr. Norbert Blüm stufenweise eingeführt. Ziel war es, als bedeutsame Leistung „für unser sozialstaatliches Gemeinwesen“ einerseits die Versorgung Pflegebedürftiger umfassend zu verbessern, andererseits die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) unter anderem durch Ausgliederung der dem Umfang nach bei lediglich ambulanter Pflege gewährten und begrenzten Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den bis 1994 geltenden §§ 53–57 SGB V sowie die Länder und Gemeinden als Träger der Sozialhilfe langfristig finanziell zu entlasten. Die SPV wurde als gegenwärtig letzte „eigenständige Säule der sozialen Sicherheit unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen.“ So sollten der Aufbau einer „eigenständigen kostenträchtigen Verwaltung“ vermieden und „die Erfahrungen der Krankenkassen in der Prävention, Akutbehandlung, Rehabilitation und häuslichen Pflege genutzt“ werden [BT-Drs. 12/5262]. Dem bereits mit dem im Jahr 1989 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) etablierten Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nach § 275 ff. SGB V wurde dabei neben seiner genuinen Sachverständigenfunktion (s. unten) insbesondere auch eine mitwirkend gestaltende Aufgabe übertragen. Im Auftrag der Kranken- und Pflegekassen – Behörden im Sinne des SGB zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung – und ihrer Verbände nimmt der MDK folgende sachverständige Aufgaben nach SGB V und XI wahr: Begutachtungen von Versicherten, Qualitätsprüfungen in Versorgungseinrichtungen, Beratungen zu Grundsatz- und Versorgungsfragen sowie Fortbildungen für Sozialleistungsträger (Gaertner u. Gnatzy 2011).

Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband – GKV-SV) unterstützt die Krankenkassen und ihre Landesverbände bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Wahrnehmung ihrer Interessen. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) berät den GKV-Spitzenverband in allen medizinischen und pflegefachlichen Fragen der diesem zugewiesenen Aufgaben. Er koordiniert und fördert die Durchführung der Aufgaben und die Zusammenarbeit der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung in medizinischen und organisatorischen Fragen, insbesondere auch im Sinne einer einheitlichen Begutachtung. Zudem erlässt er Richtlinien und nimmt übergeordnete Berichtspflichten wahr.

Konzeption der SPV

Als Sozialversicherung innerhalb des demokratischen und sozialen Bundesstaates (Art. 20 GG) wird die SPV ausgehend von der sozialen Wertetrias Freiheit – als Kristallisationspunkt und „Zweck des Staates“ (Spinoza 1670) – sowie Gerechtigkeit und Gemeinwohl konturiert durch die beiden „Baugesetze der Gesellschaft – Solidarität und Subsidiarität“ (von Nell-Breuning 1968). Diese beiden nun, als Kernbestand, können gemeinsam mit Personalität und Nachhaltigkeit als die vier klassischen Sozialprinzipien oder als an keine Konfession gebundene Gestaltungsgrundsätze im Rang einer sozialethischen Grammatik für offene Gesellschaften gelten (Höffe 2019).

Personalität

Aus der Unantastbarkeit der Würde des Menschen sind die Menschenrechte und als für die Sozialgesetze maßgebende bedingten Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie der Unverletzlichkeit der Freiheit der Person abzuleiten (Art. 1–2 GG). Dies findet programmatisch Niederschlag im ersten Abschnitt „Aufgaben des Sozialgesetzbuchs und soziale Rechte“ des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I). Dem Status des Menschen als Freiheitswesen wurde im SGB XI mit den allgemeinen Vorschriften der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung explizit Rechnung getragen: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen, auch in Form der aktivierenden Pflege, wiederzugewinnen oder zu erhalten“ (§ 2). „Die Versicherten sollen durch gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an Vorsorgemaßnahmen und durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dazu beitragen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. Nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit haben die Pflegebedürftigen an Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der aktivierenden Pflege mitzuwirken, um die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhindern“ (§ 6).

Solidarität

In wechselseitiger, sozialstaatlich geregelter normativer Verpflichtung sind der Einzelne und die Gemeinschaft für das individuelle Wohlergehen sowie für das geordnete Gemeinwohl (mit-)verantwortlich. Die „Gemeinsame Verantwortung“ findet im SGB XI ihren Ausdruck: „Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Länder, die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten … Sie unterstützen und fördern darüber hinaus die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch hauptberufliche und ehrenamtliche Pflegekräfte sowie durch Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen und wirken so auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hin“ (§ 8 Abs. 2). Dabei hat die solidarisch finanzierte Institution der Pflegeversicherung „die Aufgabe, Pflegebedürftigen Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind“ (§ 1 Abs. 4).

Subsidiarität

Subsidiarität ist das Komplement der Solidarität. Sie besagt, dass dem Einzelnen – im Respekt auf Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und -verwirklichung – oder aber lokalen gesellschaftlichen Gruppen bzw. Zwischeninstanzen das zu überlassen ist, was mit eigener Kraft, aus persönlicher Initiative und in begründeter Zuständigkeit zu leisten ist: „Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung. Bei teil- und vollstationärer Pflege werden die Pflegebedürftigen von Aufwendungen entlastet, die für ihre Versorgung nach Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit erforderlich sind (pflegebedingte Aufwendungen), die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung tragen die Pflegebedürftigen selbst“ (§ 4 Abs. 2 SGB XI). Der Subsidiarität zufolge sind, um Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern, beizeiten durch die jeweils zuständigen Sozialversicherungs-/Rehabilitationsträger alle geeigneten Leistungen zur Prävention, zur Krankenbehandlung, zur medizinischen Rehabilitation sowie ergänzenden Leistungen in vollem Umfang einzuleiten bzw. einzusetzen, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden (§ 5 SGB XI). Weiterhin sind Angebote zur Unterstützung im Alltag sowie Förderung der Weiterentwicklung des Ehrenamts und der Selbsthilfe vorgesehen (§ 45a ff.). So bietet die Pflegeversicherung mit ihrem akzessorisch unterstützendem, aber auch abgrenzendem, also bewusst nicht vollkompensatorischem Charakter im Wesen einer – und dies konzeptionell-konstituierend – Teilabsicherung des Pflegerisikos (lediglich) eine zusätzliche Hilfe zur Selbsthilfe (s. oben) nicht zuletzt mit dem Ziel, vor Entmündigung, Freiheitseinschränkung und autoritativer Einflussnahme durch übergeordnete Instanzen zu bewahren.

Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit bezeichnet kontextabhängig ein Handlungsprinzip zum angemessenen, effektiven, effizienten, umweltschonenden und generationengerechten Einsatz der bereitstehenden oder -zustellenden Ressourcen ohne beteiligte Systeme (perspektivisch) irreversibel zu schädigen. Der Begriff bringt in der Bedeutung von Kontinuitätsgewährleistung also die zukunftsweisenden Zielsetzungen von Dauerhaftigkeit, Stabilität oder Langlebigkeit zum Ausdruck. Und dies im sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht durchaus auch mit dem Anliegen einer soliden Finanzierbarkeit nach dem Umlageverfahren einschließlich des Moments eines so genannten Generationenvertrags, allerdings bei systemischer Nachhaltigkeitsverpflichtung ohne etwa grundgesetzliche verbürgte Gewährleistungsgarantie für den Einzelnen (Hebeler 2018).

Eng damit verbunden ist – aufgrund der bedingten Vorhersehbarkeit der Handlungsfolgen – das Moment der Korrigierbarkeit, auch unter dem Aspekt der sozialpolitischen Abwägung der Allgemeininteressen. So wurde die SPV seit ihrem Bestehen beständig durch Gesetzesnovellen und Änderungen der untergesetzlichen Vorschriften dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und den sozialen Anforderungen angepasst. Zudem können nach § 8 Abs. 3 SGB XI „Maßnahmen wie Modellvorhaben, Studien, wissenschaftliche Expertisen und Fachtagungen zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, insbesondere zur Entwicklung neuer qualitätsgesicherter Versorgungsformen für Pflegebedürftige“ wie neue Wohnformen, Leistungen der häuslichen Betreuung durch Betreuungsdienste oder Maßnahmen zur Kompetenzförderung Pflegender gefördert werden.

Durch die strukturelle Anbindung an die GKV sind die allgemeinen Grundsätze – Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit – nach § 70 SGB V auch für die SPV als verbindlich zu betrachten (BT-Drs. 12/5262). Die qualitativ adäquate und humane Pflege nach § 8 SGB XI (s. oben) ist gemäß dem Wirtschaftlichkeitsgebot zu erbringen: „Pflegekassen, Pflegeeinrichtungen und Pflegebedürftige haben darauf hinzuwirken, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden“(§ 4 Abs. 3 SGB XI).

Als im SGB XI explizierte normative Ziele der SPV können demnach benannt werden:

  • Hilfe zur möglichst selbstständigen und selbstbestimmten, der Menschwürde entsprechenden Lebensführung (§ 2),
  • Wiedergewinnung oder Erhaltung körperlicher, geistiger und seelischer Kräfte (§ 2),
  • Wahrnehmung der Eigenverantwortung für eine gesundheitsbewusste Lebensführung (§ 6),
  • Wahrnehmung der gesamtgesellschaftlichen gemeinsamen Verantwortung (§ 8),
  • Vorrang der häuslichen gegenüber stationärer Pflege (§ 3) und
  • Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation (§ 5).

Im Jahr 2017 wurden von den insgesamt 3.414.378 Pflegebedürftigen 76 % zu Hause (davon etwa die Hälfte zusammen mit Pflegdiensten) und 24 % vollstationär in Heimen versorgt (www.destatis.de).

Die SPV als Säule des Sozialversicherungssystems

Im Unterschied zu vielen europäischen Staaten ist die SPV als eigenständige Versicherung strukturiert, wenn auch unter dem Dach der GKV: „Träger der sozialen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen; ihre Aufgaben werden von den Krankenkassen … wahrgenommen“ (§ 1 Abs. 3 SGB XI). Neben den drei Versicherungen der im Jahr 1912 in Kraft getretenen Reichsversicherungsordnung (RVO), Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, und der als vierte im Jahr 1927 eingeführten Arbeitslosenversicherung wird die SPV als fünfte Säule der Sozialversicherung bezeichnet. Im Vergleich zu den drei ehemaligen RVO-Versicherungen weist die SPV einige strukturelle Spezifika auf. Ihre Besonderheit lässt sich schon – nicht wie bei der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung als „gesetzliche“ qualifizierte und insbesondere für die GKV zutreffend am Bedarfsprinzip orientierte – an der Bezeichnung „soziale“ ablesen. Dies dürfte ihrem explizit subsidiären Charakter als Teilabsicherung – die Leistungen der SPV decken nur einen Teil der im Pflegefall anfallenden Kosten – im Bestand des Konstrukts der als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstandenen pflegerischen Versorgung (s. oben) und der Pflegepflichtversicherung für privat Krankenversicherte geschuldet sein: „In den Schutz der sozialen Pflegeversicherung sind kraft Gesetzes alle einbezogen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Wer gegen Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert ist, muss eine private Pflegeversicherung abschließen“ (§ 1 Abs. 2 SGB XI). Als einzige der genannten Versicherungen findet sich bei der SPV der ausdrückliche Bezug auf die Menschenwürde (§ 2 und § 11 SGB XI). Als sozialgeschichtliches Novum wurde zur Finanzierung der SPV erstmals nach dem Modell der Kompensation verfahren. Der für die deutsche Sozialversicherung konstitutive Grundsatz der paritätischen Finanzierung wurde insofern relativiert, dass als finanzieller Ausgleich für den Arbeitgeberanteil die Streichung eines Feiertags (Buß- und Bettags) für die Arbeitnehmer erfolgte. Eine weitere Besonderheit ist es, dass grundsätzlich erst nach sozialmedizinischer Begutachtung eine Leistungsgewährung seitens der Pflegekassen erfolgen kann. Grundlage der Prüfung zu Feststellung von Pflegebedürftigkeit ist ein umfassendes, individuell verpflichtend anzuwendendes Begutachtungsregelwerk, die für alle Medizinischen Dienste verbindlichen „Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs (Begutachtungs-Richtlinien – BRi)“ Es wirkt rechtlich als Beweiswürdigungsregelung (Francke 2018).

Theorie der Pflegebegutachtung

Nach Einführung der SPV wurden zunächst – zugeschnitten auf die Lebenssituationen älterer Menschen und orientiert am Modell der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL)/Activities of Daily Living (ADL) – die Anspruchsvoraussetzungen der drei Pflegestufen geprüft nach Art und Häufigkeit des Fremdhilfebedarfs bei definierten Verrichtungen in drei Bereichen des täglichen Lebens (Körperpflege, Ernährung, Mobilität), deren Zuordnung zum Tagesablauf und deren Zeitaufwand („Minutenpflege“) sowie bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Im Rahmen von Gesetzesnovellen, durch Sozialgerichtsbarkeit, Änderungen bzw. Ergänzungen der Begutachtungs-Richtlinien sowie durch Vorschriften, Verordnungen, Auslegungshinweise und konformierende Begutachtungsanleitungen wurden die Kriterien und das Verfahren sukzessive unter anderem der Situation von Kindern mit Behinderungen, Konstellationen mit extrem aufwändigem oder intensivem Pflegebedarf (Härtefall), Zuständen von besonderer geriatrischer Komplexität sowie insbesondere dem Vorliegen eines erheblichen Bedarfs an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung aufgrund von demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, einer geistigen Behinderung oder von psychischen Erkrankungen (erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz mit Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf) angepasst. Letzteres war überfällig, da es bereits vor Einführung der SPV gefordert worden war (Lachwitz 1994).

Trotz dieser Anpassungen und der Weiterentwicklung des Verständnisses von Pflegebedürftigkeit wurde das defizit- und nicht gemäß der aktivierenden Pflege ressourcenorientierte Verfahren mit der Bewertung des zeitlichen Hilfebedarfs in Minuten aus pflegefachlicher Perspektive zunehmend kritisiert. Es werde als somatisch ausgerichtetes Assessment der Komplexität der Pflegerealität, der Individualität pflegebedürftiger Menschen und ihres spezifischen Hilfebedarfs – gerade auch in gerontopsychiatrischer Hinsicht – sowie den Menschen mit aufgrund von kognitiv-psychischen Beeinträchtigungen eingeschränkter Alltagskompetenz nicht gerecht. Wegen der verrichtungsbezogenen Disposition des Verfahrens könne der psychosoziale Unterstützungsbedarf nicht in dem der existentiellen Problematik angemessenen Umfang berücksichtigt werden (Kimmel u. Breuninger 2016).

Mit Wirkung zum 01.01.2017 wurde dann der durch universitäre/pflegewissenschaftliche Unterstützung und Evaluation über einen langen Zeitraum und mehreren Phasen vom Jahre 2002 an entwickelte sowie zuletzt im Jahr 2008 unter wissenschaftlicher Begleitung erprobte neue Pflegebedürftigkeitsbegriff verbindlich (Wingenfeld et al. 2011; Windeler et al. 2011; Kimmel et al. 2015). In Anlehnung an den biopsychosozialen Ansatz der funktionalen Gesundheit, auf den die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) der WHO rekurriert, die dann selbst eine zunehmende Bedeutung im Gesundheitswesen erlangt hat (Schuntermann 2018), wurde die Pflegebedürftigkeit neu definiert (§ 14 SGB XI): „Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Stand beim alten Verfahren die Frage „Was kann der Versicherte nicht mehr?“ im Vordergrund, wird nunmehr wesentlich beurteilt „Was kann der Versicherte noch selbst?“ und „Wobei ist Hilfebedarf notwendig?“ (Francke 2018). Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen.“

Maßgeblich für die Bewertung der gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen sind die im § 14 Abs. 2 SGB XI dezidiert aufgeführten insgesamt 64 pflegefachlich begründeten Kriterien in den folgenden 6 Bereichen:

  • Mobilität, wie z.B. Positionswechsel im Bett oder Treppensteigen,
  • kognitive und kommunikative Fähigkeiten, wie z.B. örtliche, zeitliche Orientierung oder Beteiligung an einem Gespräch,
  • Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, wie z.B. Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage oder sozial inadäquate Verhaltensweisen,
  • Selbstversorgung, wie z.B. Körperpflege, An- und Auskleiden oder mundgerechte Nahrungszubereitung,
  • Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, wie z.B. in Bezug auf Medikation, Arztbesuche oder Einhalten einer Diät,
  • Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte, wie z.B Gestaltung des Tagesablaufs oder Interaktion mit Personen im direkten Kontakt.

Nach § 15 SGB XI ist die Pflegebedürftigkeit in Abhängigkeit der Schwere der gesundheitlich bedingten Fremdhilfe erfordernden Beeinträchtigungen nach 5 Graden der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrade) gestaffelt (Bundesergebnisse,  Tabelle 1). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments (BI) standardisiert – edv-technisch unterstützt – modular erhoben und nach einer speziellen Bewertungssystematik ermittelt (Anlagen zu § 15 SGB XI). Die Module des BI entsprechen den oben genannten Bereichen. Die diesbezüglichen sozialgesetzlichen methodischen Vorgaben sind – mit dem Ziel einer bundesweit einheitlichen Rechtsanwendung – operationalisiert in den vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) genehmigten Begutachtungs-Richtlinien. Dieses Regelwerk wird zusätzlich um Auslegungshilfen, ergänzende Erläuterungen (z.B. in Form von „FAQs“) und Mustergutachten der Sozialmedizinischen Expertengruppe „Pflege/Hilfebedarf“ (SEG 2) der MDK-Gemeinschaft zur Standardisierung sowie Unterstützung und Sicherstellung einer bundesweit einheitlichen Begutachtungspraxis ergänzt.

Die Beeinträchtigungen bezogen auf die jeweiligen bereichs-/modulspezifischen 64 Kriterien werden vermittels Kategorien und ihnen zugeordneten Einzelpunkten quantifiziert ( Tabelle 2). Pro Modul werden abhängig von der Summe der jeweiligen Einzelpunkte dem Schweregrad der Beeinträchtigung (von 0 = keine bis 4 = schwerste) gewichtete Punkte zugewiesen ( Tabelle 3). Die in  Abb. 1 angegebene Prozentzahl entspricht dem maximal möglichen gewichteten Punktwert für das jeweilige Modul.

Zur Ermittlung des Pflegegrades sind die Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem festgelegten Punktbereich sowie den sich daraus ergebenden gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ und 3 „Verhaltensweisen und psychische Problemlage“ ist ein gemeinsamer gewichteter Punktwert zuzuordnen, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Der Pflegegrad ergibt sich aus der Summe der gewichteten Punkte aller Module (Gesamtpunkte). Bei pflegebedürftigen Kindern wird der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbständigkeit und ihrer Fähigkeiten mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt ( Tabelle 4). Bei der Begutachtung sind auch solche Kriterien zu berücksichtigen, die zu einem Hilfebedarf führen, für den Leistungen des SGB V vorgesehen sind.

Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit

Das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ist in § 18 SGB XI geregelt und mittels der Begutachtungs-Richtlinien umfassend und detailliert konkretisiert. Die Pflegekassen beauftragen den MDK oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welcher Pflegegrad vorliegt. Ein analoges Verfahren für die privaten Krankenversicherungen wird durch einen eigenen medizinischen Dienst, die MEDICPROOF GmbH als Tochterunternehmen des Verbandes der Privaten Krankenversicherung e. V. (PKV-Verband), durchgeführt.

„Die Aufgaben des Medizinischen Dienstes werden durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften wahrgenommen. Die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Kindern ist in der Regel durch besonders geschulte Gutachter mit einer Qualifikation als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin oder Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger oder als Kinderärztin oder Kinderarzt vorzunehmen“ (§ 18 Abs. 7 SGB XI). In der Begutachtungspraxis des MDK wird die persönliche Befunderhebung vor Ort überwiegend durch Pflegefachkräfte wahrgenommen. Nach § 275 Abs. 5 SGB V sind die Ärztinnen und Ärzte des MDK bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen. In einem aktuellen Referentenentwurf des BMG vom 03.05.2019 für ein „Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen – MDK-Reformgesetz“ ist vorgesehen, zu berücksichtigen, dass bei der Beteiligung unterschiedlicher Berufsgruppen die Gesamtverantwortung bei der Begutachtung anlässlich medizinischer Sachverhalte bei ärztlichen Gutachterinnen und Gutachtern und anlässlich ausschließlich pflegefachlicher Sachverhalte bei Pflegefachkräften liegt.

Der MDK wird zwar im Auftrag der Kranken- und Pflegekassen in Wahrnehmung seiner hoheitlichen (Dienstleistungs-)Aufgaben sachverständig tätig, ist aber als eine von den ihn beauftragenden Sozialversicherungsträgern unabhängige kassenartenübergreifende Arbeitsgemeinschaft institutionalisiert. Seine Unabhängigkeit (eigener Finanzhaushalt und Stellenplan, Freiheit vor der Möglichkeit externer Einflussnahme) bietet die Voraussetzung seiner Unparteilichkeit als sozialmedizinische Experteninstitution (Unbefangenheit, Objektivität, Unvoreingenommenheit und Neutralität). Die Qualifikationsanforderungen ergeben sich aus den „Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Zusammenarbeit der Pflegekassen mit anderen unabhängigen Gutachtern (Unabhängige Gutachter-Richtlinien – UGu-RiLi) nach § 53b SGB XI“. Die MDK-Sachverständigen und die „anderen“ so genannten externen Fachkräfte sind im Rahmen ihrer gutachterlichen Aufgaben innerhalb der institutionellen Hierarchie zwar weisungsgebunden, allerdings dürfen nach § 2 der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) diese hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen (Gaertner u. Gnatzy 2011; Niebler 2017). Die mittels Präsenz- und Spezialseminaren im Verfahren geschulten Fachkräfte (Ärztinnen/Ärzte und Pflegefachkräfte) tragen aufgrund des Spektrums der Pflegebegutachtung nicht nur wesentlich dazu bei, dass Sozialleistungen der Solidargemeinschaft nach den allgemeinen Grundsätzen gesetzeskonform kanalisiert werden, sondern loten maßgebend insbesondere auch die Optionen aus zur Realisierung eines der Persönlichkeit des Pflegebedürftigen genügenden selbständigen und selbstbestimmten Lebens, das der Würde des Menschen entspricht.

Die Antragssteller sind insbesondere bei der Erstbegutachtung grundsätzlich in ihrem Wohnbereich (häusliches Wohnumfeld/vollstationäre Pflegeeinrichtung) zu untersuchen. Im Rahmen der Pflegebegutachtung werden neben der Bewertung der Beeinträchtigungen entsprechend der Module/Kriterien des BI als Hauptteil des ausführlichen Formulargutachtens – für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren im eigenen Format – unter anderem Angaben gemacht zu nachfolgend genannten Aspekten:

  • Anlass des Antrags (z.B. Pflegegeld, ambulante Pflegesachleistungen, vollstationäre Pflege),
  • Art des Antrags (z.B. Erst- oder Höherstufungsantrag, Widerspruch),
  • pflegerelevante Vorgeschichte und derzeitige Versorgungssituation,
  • gutachterlicher Befund,
  • pflegebegründende Diagnose(n),
  • Ergebnis der Begutachtung einschließlich
  • Empfehlung des Pflegegrads,
  • Pflegeaufwand der Pflegepersonen,
  • Sicherstellung der Pflege,
  • Hinweise zur leistungsrechtlich Abgrenzung der Pflegebedürftigkeit,
  • versorgungsrelevante Informationen,
  • Empfehlungen – als Elemente eines individuellen Pflegeplans – zu folgenden Maßnahmen:
  • Förderung oder Erhalt der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
  • therapeutische und/oder weitere Einzelmaßnahmen,
  • medizinische Rehabilitation unter Berücksichtigung von deren Bedürftigkeit, Fähigkeit, Prognose und Ziel, insbesondere mit Zuweisungsempfehlungen für eine geriatrische, indikationsspezifische oder mobile,
  • Hilfs-/Pflegehilfsmittel,
  • Heilmittel oder andere therapeutische Maßnahmen,
  • wohnumfeldverbessernde Maßnahmen,
  • edukative Maßnahmen/Beratung/Anleitung,
  • präventive Maßnahmen,
  • Beratung zu Leistungen zur verhaltensbezogenen Primärprävention nach § 20 SGB V,
  • Veränderung der Pflegesituation,
  • Prognose.

Im Zeitraum von Dezember 2015 bis Dezember 2017 ist die Zahl der pflegebedürftigen Menschen im Sinne des SGB XI von 2,86 auf 3,41 Millionen angestiegen. Die erhebliche Zunahme um mehr als 19 % betrifft zum großen Teil das Jahr 2017 und ist vorwiegend auf die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der den durch kognitive oder psychische Beeinträchtigungen bedingten erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung berücksichtigt, ab dem 01.01.2017 zurückzuführen (www.destatis.de).

Die konkreten Empfehlungen zur Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung gelten, soweit sie zur Erleichterung der Pflege und zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder eine selbständigere Lebensführung ermöglichen, jeweils mit Zustimmung des Versicherten als Antrag auf Leistungsgewährung. Da die Notwendigkeit der Versorgung damit vermutet wird, bedarf es keiner ärztlichen Verordnung mehr. Empfehlungen zur Prävention betreffen nicht nur Leistungen der GKV, sondern insbesondere auch Maßnahmen in Verantwortung des Pflegebedürftigen oder der Pflegenden. Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erfolgt anhand der BRi-Anlage 3 „Optimierter Begutachtungsstandard (OBS) zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs in der Pflegebegutachtung“. Auf der Grundlage der Angaben im Pflegegutachten entscheidet eine Ärztin/ein Arzt des MDK über die Rehabilitationsindikation und Allokation unabhängig von den regional vorhandenen Versorgungsstrukturen. Im positiven Fall gilt dies nach Hinweis auf Eigenverantwortung und Mitwirkungspflicht sowie unverzügliche Mitteilung der Pflegekasse an den zuständigen Rehabilitationsträger, der die Leistungsentscheidung trifft, als Antrag auf Leistungen zur Teilhabe. Im Jahr 2017 wurden bei rund 1,78 Mio. Pflegebegutachtungen – seit 2013 jeweils mit steigender Tendenz – Empfehlungen zu Leistungen der physikalischen Therapie in 25,5 %, der Ergotherapie in 15,3 % und der medizinischen Rehabilitation in 2,3 % ausgesprochen (GKV-SV 2018).

Qualitätssicherung und Dienstleistungsorientierung der Pflegebegutachtung

Die SPV und damit auch die Pflegebegutachtung wurden fortwährend nicht nur sachverständig und wissenschaftlich begleitet weiterentwickelt, sondern ihr wurden zudem von an Anfang an gesetzlich Elemente und Verfahren der Qualitätsentwicklung sowie -sicherung einschließlich umfassender Rechenschaftslegung in Form von Berichten implementiert. Die Sicherung der Qualität in der Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger Menschen gehörte von Beginn an zu den zentralen pflegepolitischen Herausforderungen (Kücking 2014). Die „Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Qualitätssicherung der Begutachtung und Beratung für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung“ regeln dezidiert das gestufte Vorgehen bei den MDK-internen und den bundesweiten, MDK-übergreifenden Qualitätsprüfungen der Pflegegutachten.

Am 01.01.2017 traten die „Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren (Dienstleistungs-Richtlinien – Die-RiLi) nach § 18b SGB XI“ in Kraft. Sie machen allgemeine Verhaltensgrundsätze bei der Durchführung des Begutachtungsverfahrens, Vorgaben zur individuellen und umfassenden Information der Versicherten über das Begutachtungsverfahren, methodisch-basierte Versichertenbefragungen mit wissenschaftlicher Begleitung sowie das Beschwerdemanagement – alles bundesweit einheitlich durchzuführen – verbindlich.

Der Dienstleistungsorientierung dienen auch vorgeschriebene Fristen. So ist dem Antragsteller spätestens 25 Arbeitstage nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse schriftlich mitzuteilen. Auch gelten bei besonderen Konstellationen, z.B. zur Sicherstellung der ambulanten oder stationären Weiterversorgung im Anschluss an eine stationäre Versorgung, verkürzte Begutachtungsfristen (§ 18 Abs. 3 SGB XI). Im Rahmen des Beschwerdemanagements hat der Beschwerdeführer innerhalb von 4 Wochen eine individuelle schriftliche Antwort vom Vorgesetzten bzw. vom Teamleiter des betroffenen Gutachters bzw. Mitarbeiters zu erhalten.

Folgende regelmäßig zu erstattende Berichte geben Aufschluss über die bundesweite Pflegesituation:

  • Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung und den Stand der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland,
  • Bericht des GKV-Spitzenverbandes nach § 18a Abs. 3 SGB XI über die Erfahrungen der Pflegekassen mit der Umsetzung der Empfehlungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung und der beauftragten unabhängigen Gutachter zur medizinischen Rehabilitation im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit,
  • Pflegequalitätsbericht des MDS nach § 114a Abs. 6 SGB XI,
  • Ergebnisbericht des MDS über die Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Qualitätsprüfungen,
  • Jährlicher Gesamtbericht des MDS zur Versichertenbefragung,
  • Jährliche Ergebnisberichte der Medizinischen Dienste zur Versichertenbefragung.

Der aktuelle 6. Bericht der Bundesregierung vom 15.12.2016 betont, dass seit der Einführung der Pflegeversicherung die Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen maßgeblich verbessert werden konnte und die Leistungen deutlich ausgebaut sowie wirksamer auf die Bedürfnisse der Betroffenen und ihrer Angehörigen ausgerichtet werden konnten. Der Bericht des GKV-Spitzenverbandes zum Berichtsjahr 2017 (Stand: 31.08.2018) hebt hervor, dass die Anzahl der Rehabilitationsempfehlungen im Rahmen der Pflegebegutachtung kontinuierlich angestiegen ist. Der 5. Pflegequalitätsbericht des MDS vom Dezember 2017 fasst die Ergebnisse der 12.810 Qualitätsprüfungen bei Pflegediensten und die 13.304 in Pflegeheimen aus dem Jahr 2016 zusammen. Im Vergleich zum vorherigen Berichtszeitraum zeigten sich größtenteils Verbesserungstendenzen. Bei einzelnen Qualitätskriterien war jedoch eine negative Entwicklung festzustellen. Dies betraf beispielsweise bei Pflegediensten das Beatmungsmanagement, in stationären Einrichtungen die Maßnahmen zur Dekubitusprophylaxe oder die Hygiene bei der Wundversorgung. Aus dem 5. MDS-Gesamtbericht zur Versichertenbefragung 2018 (Stand: 15.04.2019) geht bei positivem Trend im Vergleich zu den Vorjahren hervor, dass die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen zu 88 % insgesamt mit der Pflegebegutachtung, zu 89 % mit dem persönlichen Kontakt und zu 88 % mit dem Auftreten der Gutachter zufrieden waren.

Ausblick

Nicht nur neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Medizin und Pflege hin zu einer insbesondere auch differenzierten, multiprofessionell praktizierten geriatrischen Versorgung, sondern auch soziodemografischer Wandel, Inklusion, Migration, Globalisierung, Europäisierung des Sozialrechts, Überforderung informeller Pflegearrangements/-settings, eine zunehmend renditeorientierte Versorgung und nicht zuletzt kontraproduktive finanzielle Anreize stellen rechtliche Ordnung, Finanzierung, Organisation, Regelung privater Verantwortlichkeiten und öffentlich-kommunaler Zuständigkeiten, Sicherstellung der Qualität sowie Zugang zu einer bedarfsgerechten sozialen Infrastruktur einschließlich angemessener Vergütung und zumutbarer Arbeitsbedingungen in der Pflege vor immense Herausforderungen. Sie erfordern eventuell sogar einen fundamentalen Perspektiv- und Paradigmenwechsel (Schütze 2018). Zwischenzeitlich wurden vom Bundesgesundheitsminister sowohl eine Grundsatzdebatte zur substantiellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung bis hin zu einer Finanzierungsreform angestoßen als auch ein Entwurf für ein MDK-Reformgesetz vorgelegt. Die Selbstverwaltung hat ein wissenschaftlich fundiertes Personalbemessungsverfahren in Pflegeeinrichtungen zu entwickeln und bis zum 30. Juni 2020 zu erproben. Nicht zuletzt steht auch das Begutachtungsinstrument fortgesetzt auf dem Prüfstand und seine Auswirkungen auf häusliche wie auch stationäre Pflege sind zu evaluieren.

Fazit

Die soziale Pflegeversicherung ist, wie nach ihrer Einführung im Jahr 1994 die außerordentliche vom Innovationsdruck getriebene Dynamik ihrer 25-jährigen Gestaltungsperiode nachweislich belegt, in konstitutiv konstitutioneller Dimension sowie auf systemimmanent typisch hohem Komplexitätsniveau dem „Werden und Wandel des Sozialrechts im Sozialstaat“ multidimensional qualitätskontrolliert unterworfen (Steiner 2019). Dabei disponiert der Sozialstaat in Form institutionalisierter Solidarität, die ihrerseits Soliditätspotential birgt, die gemeinsame Verantwortung für den Mitmenschen angesichts der drei Standardrisiken der industriellen Arbeitsgesellschaft: Alter, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit (Bude 2019). Vor diesem Hintergrund ist die Pflegeversicherung in einer zeitgemäßen Auffassung von Institution keine der „Gußformen“ für das Handeln (Durkheim 1895), kein „stahlhartes Gehäuse“ der Hörigkeit (Weber 1905), sondern positiv und kreativ ein modifizierbares „Handlungsmodell“ (Deleuze 1953), ein Ort der „Dauerreflexion“ (Schelsky 1957), ein „Immunsystem“ der Gesellschaft (Luhmann 1984), ein ausgehend von einem Leitproblem konstruktives Transmissionsmedium kreativen Werdens zur Zeitigung sozialer Effekte (Seyfert 2011]. Folgerichtig haben der MDK und der MDS – sowohl in Reflexion der sozialmedizinischen Erfahrungen bei der Pflegebegutachtung und den Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen als auch in Form von Beratungen einschließlich der Gremienarbeit auf Bundes- und Landesebene sowie durch Publikationen – die Entwicklung der Pflegeversicherung von Anfang an konstruktiv-kritisch begleitet und mit dieser internen Expertise Grundlagen und Maßgaben einer kontinuierlichen Modifikation und Qualifizierung der Pflegebegutachtung geschaffen.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Literatur

Gaertner T , Gnatzy W: Zum Sachverständigenstatus im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung am Beispiel des MDK Hessen. GuP 2011; 5: 166–173.

Kimmel A et al.: „Praktikabilitätsstudie zur Einführung des Neuen Begutachtungsassessments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“. Modellprojekt zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung nach § 8 Abs. 3 SGB XI. Abschlussbericht, April 2015. Essen: MDS; 2015.

Kimmel A, Breuninger K: Pflegereform 2017. Grundlagen des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des neuen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI. Gesundheitswesen 2016; 78: 477–488.

Kücking M: Qualität in der Pflege – die deutsche Perspektive. In: Gaertner T, Gansweid B, Gerber H, Schwegler F, Heine U (Hrsg.): Die Pflegeversicherung. Handbuch zur Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung. 3. Aufl. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2014.

Windeler J et al.: Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Schriftenreihe Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Band 3. Berlin: GKV-Spitzenverband, 2011.

Wingenfeld K, Büscher A, Gansweid B: Das neue Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Schriftenreihe Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Band 2. Berlin: GKV-Spitzenverband, 2011.

Wingenfeld K: Soziale Absicherung des Pflegerisikos im europäischen Vergleich. In: Gaertner T, Gansweid B, Gerber H, Schwegler F, Heine U (Hrsg.): Die Pflegeversicherung. Handbuch zur Begutachtung, Qualitätsprüfung, Beratung und Fortbildung. 3. Aufl. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2014.

Die gesamte Literaturliste finden Sie in der Online-Version des Beitrags auf www.asu-arbeitsmedizin.com oder kann beim Verlag angefordert werden.

    Info

    Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) – ist die föderal organisierte, – unabhängige und unparteiische – sozialmedizinische Sachverständigeninstitution – innerhalb der Solidargemeinschaft – aus gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) – mit der ihr eingegliederten sozialen Pflegeversicherung (SPV).

    Kurzinfo

    •  Die Einführung der sozialen Pflegeversicherung als 5.  Säule der Sozialversicherung hat sich bewährt. 
    • Sie ist als Institution auf die vier klassischen Sozialprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit gründend gestaltet. 
    • Das neue Begutachtungsinstrument zur Prüfung der Pflegebedürftigkeit mit seinen 6 Bereichen basiert auf dem biopsychosozialen Ansatz der funktionalen Gesundheit. 
    • Es rekurriert auf die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten. 
    • Es berücksichtigt in angemessener Weise die somatischen sowie kognitiven oder psychischen Aspekte der Lebenssituation sowie den Rehabilitationsbedarf. 
    • Das Begutachtungsverfahren des MDK sowie dessen Qualitätssicherung und Dienstleistungsorientierung sind durch bundesweit verbindliche Richtlinien einheitlich geregelt. 
    • Die Pflegeversicherung wird fortwährend sachverständig und wissenschaftlich begleitet weiterentwickelt.

    Weitere Infos

    Bundesministerium für Gesundheit: Thema Pflege

    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege.html

    GKV-Spitzenverband: Pflegeversicherung

    https://www.gkv-spitzenverband.de/pflegeversicherung/pflegeversicherung.jsp

    Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS): Gute Pflege im Blick

    https://md-bund.de/index.html

    für die autoren

    Dr. med. Thomas Gaertner

    Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) Hessen

    Zimmersmühlenweg 23

    61440 Oberursel

    t.gaertner@mdk-hessen.de

    Foto: Simon Zimbardo

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