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Ein Beitrag zum Arbeitsunfähigkeits-Management

Betriebsärztliche Frühberatung

Daten zur Arbeitsunfähigkeit

Der BKK Gesundheitsreport 2017 weist durchschnittlich 17,2 Arbeitsunfähigkeitstage je Mitglied (ohne Rentner) aus, was im Vergleich zum Vorjahr einen leichten Rückgang um 0,2 Tage bedeutet. Etwa jedes zweite Mitglied war in diesem Berichtszeitraum mindestens einmal krankgeschrieben.

64,7% der AU-Fälle dauerten maximal eine Kalenderwoche, 30,7% führten zu Arbeitsunfähigkeiten bis sechs Wochen und 4,6% der AU-Fälle verursachten Krankheitszeiten von sechs Wochen und mehr. In Bezug auf die AU-Tage entfielen 16,8% auf Kurzzeiterkrankungen (bis zu einer Woche), 38% auf den Zeitraum bis zu sechs Wochen und 45,2% auf Langzeiterkrankungen über 6 Wochen.

Das Spektrum der Diagnosen zeigte mit 24,7% die Muskel-Skelett-Erkrankungen als wichtigste Ursache auf, gefolgt von psychischen Störungen (16,6%) und Atemwegserkrankungen (14,8%). Während bei Frauen deutlich mehr AU-Tage auf psychische Störungen und Atemwegserkrankungen entfielen, waren es bei Männern vor allem die Muskel-Skelett-Erkrankungen und Verletzungen/Vergiftungen (BKK Gesundheitsreport 2018, s. „Weitere Infos“).

Für die Reintegration längerfristig erkrankter Mitarbeiter stehen die stufenweise Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell (§74 SGB V bzw. §44 SGB IX) und das Betriebliche Eingliederungsmanagement (§167 Abs. 2 SGB IX) als etablierte Instrumente zur Verfügung.

Arbeitsunfähigkeits-Management bei AbbVie

Das Biotechnologie- und Pharmaunternehmen AbbVie arbeitet seit 2010 an einem betrieblichen Gesundheitsmanagement für seine rund 2600 Beschäftigten. Das Arbeitsunfähigkeits-Management ist ein wichtiges Teilelement, bei dem die Betriebsärzte mit allen Verantwortlichen im Unternehmen, aber auch mit externen Ansprechpartnern eng zusammenarbeiten. Für die Reintegration längerfristig erkrankter Beschäftigter werden die Instrumente der stufenweisen Wiedereingliederungen und des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) genutzt.

Stufenweise Wiedereingliederungen dienen dazu, arbeitsunfähige Versicherte nach länger andauernder, schwerer Erkrankung schrittweise an die volle Arbeitsbelastung am bisherigen Arbeitsplatz heranzuführen. Sie werden bei AbbVie grundsätzlich von den Betriebsärzten begleitet. Durch die Einbindung der betriebsärztlichen Expertise kann sichergestellt werden, dass die Inhalte der stufenweisen Wiedereingliederung bestmöglich zu den Anforderungen am Arbeitsplatz passen. Dadurch können durchschnittlich rund 95% der Beschäftigten nach Abschluss der stufenweisen Wiedereingliederung am alten Arbeitsplatz weiterarbeiten, nur ca. 4% übernehmen eine andere Tätigkeit und 1% bricht die Maßnahme aus gesundheitlichen Gründen ab.

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) wird im Unternehmen auf Grundlage einer 2009 in Kraft getretenen Betriebsvereinbarung durchgeführt. Darin sind die Betriebsärzte als erste Ansprechpartner für die teilnehmenden Beschäftigten fest verankert. Dadurch ist sichergestellt, dass in die teils komplexen Lösungsfindungen immer das betriebsärztliche Know-how mit einfließen kann. Auswertungen des Krankheitsspektrums zeigen, dass bei beiden Reintegrationsmaßnahmen insbesondere psychische Erkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen im Vordergrund stehen.

In der Praxis zeigt sich insbesondere bei Langzeiterkrankungen immer wieder, dass es an den Schnittstellen der einzelnen medizinisch-rehabilitativen Versorgungssysteme bzw. in der trägerübergreifenden Vernetzung zu signifikanten Zeitverlusten kommen kann. Die Folge sind verlängerte Krankheitsphasen, teilweise eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Betroffenen und nicht zuletzt eine finanzielle Mehrbelastung der Unternehmen und des Sozialsystems. Die Erfahrungen zeigen auch, dass in einer sich schnell verändernden Arbeitswelt die Reintegration von Langzeiterkrankten umso schwieriger ist, je länger eine krankheitsbedingte Abwesenheit dauert.

Die Auswertung der Berichte der wichtigsten gesetzlichen Krankenversicherer für das Unternehmen ergab folgendes Bild: Rund zwei Drittel der AU-Fälle mit Ausfallzeiten bis zu einer Woche führten zu annähernd 23% der AU-Tage und 4% der AU-Fälle über sechs Wochen waren für 35% der AU-Tage verantwortlich. Obwohl fast ein Drittel der AU-Fälle mit einer Dauer von ein bis sechs Wochen annähernd 42% der AU-Tage verursachte, existierte dafür bisher kein innerbetriebliches Instrument zur Unterstützung dieser Mitarbeitergruppe.

Vor diesen Hintergründen erarbeiteten die Betriebsärzte das Konzept der betriebsärztlichen Frühberatung, das nach der Verabschiedung im Arbeitskreis Gesundheit Mitte 2017 implementiert werden konnte und im Folgenden vorgestellt werden soll.

Die betriebsärztliche Frühberatung

Inhalt des Konzepts ist es, arbeitsunfähig erkrankten Beschäftigten mit Fehlzeiten über zwei Wochen ein betriebsärztliches Beratungsangebot zu machen, um insbesondere bei Erkrankungen mit Auswirkung auf den Arbeitsplatz dazu beizutragen, zeitnah die bestmögliche medizinisch-rehabilitative Versorgung zu unterstützen, dadurch die Beschäftigungsfähigkeit schneller wiederherzustellen und eine frühzeitige Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermöglichen.

Auf Basis der Arbeitsunfähigkeitszeiten, die von der Personalabteilung erfasst werden, erhalten Mitarbeiter mit Ausfallzeiten über zwei Wochen von den Betriebsärzten ein standardisiertes Schreiben. Darin werden Sinn und Zweck des Beratungsangebots erläutert und die Beschäftigten gebeten, mit einem formalisierten Rückmeldebogen zu signalisieren, ob sie das Angebot annehmen möchten. Besonders betont wird in dem Schreiben, dass es den Mitarbeitern freisteht, dieses Angebot anzunehmen oder abzulehnen und dass aus einer eventuellen Ablehnung keinerlei Nachteile entstehen. Alle in diesem Zusammenhang stehenden Informationen verbleiben bei den Betriebsärzten und werden nur dort dokumentiert.

Sofern der Wunsch nach einer Beratung zurückgemeldet wird, nehmen die Betriebsärzte innerhalb von maximal drei Tagen Kontakt mit den Betroffenen auf. Im Falle einer ausbleibenden Rückmeldung wird nichts weiter unternommen.

Die Betriebsärzte verschaffen sich in den Gesprächen zunächst einen Überblick über die vorliegende(n) Erkrankung(en) und die bisher eingeleiteten Maßnahmen. Dabei wird auch eruiert, ob ein Bezug der Erkrankung(en) zum Arbeitsplatz besteht, ob weitere medizinisch-rehabilitative Maßnahmen erforderlich sind und/oder bereits initiiert wurden. Je nach Situation können die Betriebsärzte dann ganz konkrete Unterstützung anbieten und zum Beispiel gemeinsam mit dem Beschäftigten Anträge für eine medizinische Rehabilitation oder für ein Präventionsprogramm der Deutschen Rentenversicherung stellen. Dabei helfen die betriebsärztlichen Kontakte zu den Ansprechpartnern bei den Rentenversicherungsträgern, um bereits im Vorfeld eventuelle Fragen zu erörtern. Sofern die Erkrankungen der Mitarbeiter keinen Arbeitsplatzbezug haben, ist der Charakter der Gespräche eher beratender Natur.

In der medizinischen Versorgung stellen oftmals längere Wartezeiten auf Facharzttermine ein Problem dar. In solchen Fällen erhalten die Betroffenen die Empfehlung, sich an die Krankenkassen oder die Terminservicestellen der kassenärztlichen Vereinigungen zu wenden, um Unterstützung bei der Terminvereinbarung zu erhalten. Den meisten Beschäftigten sind diese Möglichkeiten unbekannt.

Im Zuge der Beratungsgespräche können zur Unterstützung des Behandlungskonzepts auch Angebote aus den unternehmensinternen Gesundheitsprogrammen empfohlen werden. Sofern sich zu diesem ersten Beratungszeitpunkt bereits abzeichnet, dass eine innerbetriebliche Lösung für die Weiterbeschäftigung gefunden werden muss, kann in Absprache mit dem Mitarbeiter frühzeitig ein Präventionsgespräch nach §167 SGB IX initiiert werden. Die Mitarbeiter werden im weiteren Verlauf kontinuierlich bis zur Reintegration weiterbetreut, um bei aufkommenden Problemen frühzeitig Lösungen zu suchen.

Daten zur Frühberatung

Zwischen Juli 2017 und Dezember 2018 erhielten 451 Beschäftigte von AbbVie ein betriebsärztliches Anschreiben zur Frühberatung, es gingen 91 Rückmeldungen ein. Die Rückmeldequote lag 2017 bei 10,2% und konnte 2018 nach einer intensiven Kommunikationskampagne auf 24,8% gesteigert werden.

52% der Angeschriebenen waren Frauen und 48% Männer. Ein Prozent der Teilnehmer war aus der Altersgruppe bis 29 Jahre, 19% aus der Altersgruppe 30 bis 39 Jahre, 20% in der Altersgruppe 40 bis 49 Jahre, 57% waren zwischen 50 und 59 Jahre alt und 3% waren über 60 Jahre.

35% der Teilnehmer an der Frühberatung stammten aus dem Bereich der pharmazeutischen Produktion, 49% aus Forschung und Entwicklung, 10% aus Corporate Funktionen und 6% aus dem Bereich Commercial. Verglichen mit der Verteilung der Beschäftigten im Unternehmen waren die Mitarbeiter aus Commercial bei der Frühberatung unterrepräsentiert, alle anderen Bereiche hingegen stärker vertreten.

Das Erkrankungsspektrum erstreckte sich auf die Bereiche Orthopädie (40%), Innere (27%), psychische Erkrankungen (19%), Gynäkologie (8%), Neurologie (2%), bösartige Neubildungen (1%) und sonstige Erkrankungen (3%). Bei 30% der Erkrankungen war eine Auswirkung auf den Arbeitsplatz gegeben. Auf die einzelnen Erkrankungen bezogen lag bei 59% der psychischen Erkrankungen, 50% der neurologischen Krankheiten, 32% der internistischen Erkrankungen und 33 % der orthopädischen Erkrankungen eine Auswirkung auf den Arbeitsplatz vor.

Inhaltlich ging es bei 54% der Frühberatungsgespräche um konkrete Beratungen zum weiteren Vorgehen und die sinnvolle Abfolge von medizinisch-rehabilitativen Maßnahmen, Empfehlungen zur Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung (12%), arbeitsmedizinische Empfehlungen für die Ausstattung des Arbeitsplatzes (11%), Anträge auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation (9%), erweiterte psychosoziale Beratungen und die Einschleusung in ein psychotherapeutisches Kurzinterventionsprogramm (9%), Unterstützung bei der Beantragung eines Präventionsprogramms der Deutschen Rentenversicherung (1%) und sonstige Empfehlungen (4%).

Erkenntnisse und weitere Maßnahmen

Die Rückmeldungen der Teilnehmer der betriebsärztlichen Frühberatung bei AbbVie sind sehr positiv. Das Angebot wird als Wertschätzung empfunden, die persönliche und umfassende Beratung und Unterstützung als sehr hilfreich bewertet.

Aus den oben beschriebenen Inhalten der Beratungen ist erkennbar, wie bedeutsam eine betriebsärztliche Lotsenfunktion ist, die mit dem Wissen um die Kontextfaktoren und Anforderungen der Arbeitsplätze die Möglichkeiten der verschiedenen medizinisch-rehabilitativen Maßnahmen einzuschätzen weiß und ganz konkret und zeitnah Unterstützung anbieten kann. Dazu benötigen Betriebsärzte eine gute Vernetzung mit niedergelassenen Ärzten, Krankenkassen, ambulanten Fachdiensten und den Leistungsträgern der Deutschen Rentenversicherung.

Die frühzeitige Steuerung und konkrete, zeitnahe Unterstützung tragen mit dazu bei, den Anteil der Arbeitsunfähigkeitszeiten, die häufig durch systembedingte Wartezeiten entstehen, zu reduzieren. Diese Verkürzung von Arbeitsunfähigkeitszeiten trägt bei manchen Erkrankungen auch zur Verringerung des Risikos einer Chronifizierung bei, zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen, die per se mit deutlich längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten einhergehen als andere Erkrankungen. Nicht zuletzt können auch die Gesamtkosten durch Arbeitsunfähigkeit reduziert werden.

Krankenkassen unterstützen bei der Terminvereinbarung bei Fachärzten, wenn sie von Versicherten darauf angesprochen werden. Die Information der Beschäftigten über diese Möglichkeit ist ein guter Beitrag zur Beschleunigung von medizinischer Versorgung.

Niedergelassene Ärzte sind in vielen Fällen dankbar, wenn Rehabilitationsanträge in Kooperation mit Betriebsärzten erstellt werden, die aufgrund der Arbeitsplatzkenntnis eine detaillierte Beschreibung der arbeitsplatzbezogenen Anforderungen und Belastungen beisteuern können, wodurch eine passgenaue Ausrichtung der Rehabilitationsinhalte ermöglicht wird.

Orthopädische, psychische/psychosomatische und internistische Erkrankungen sind sowohl bei den Frühberatungen als auch bei den Langzeiterkrankungen am häufigsten zu finden. Dass rund ein Drittel davon auch eine Auswirkung auf den Arbeitsplatz hat und sich 42% der Empfehlungen darauf bezogen, bestärkt das Unternehmen darin, das betriebsärztliche Know-how in die Entwicklung des Behandlungs- und Reintegrationsplans einzubringen.

Auffallend ist, dass 57% der Beschäftigten, die eine Frühberatung in Anspruch genommen haben, aus der Altersgruppe 50 bis 59 Jahre stammt und 67% der Erkrankungen mit Auswirkungen auf den Arbeitsplatz ebenfalls in dieser Altersgruppe angesiedelt sind, obwohl nur 29% aller Beschäftigten im Unternehmen dieser Altersgruppe angehören. Hingegen sind die jüngeren Altersgruppen bei der Frühberatung eher unterrepräsentiert. Die Analyse hat ergeben, dass in der Altersgruppe ab 50 Jahren tendenziell eher komplexere und/oder chronische Erkrankungen zu finden sind.

Noch nicht zufriedenstellend ist die Rücklaufquote nach den Anschreiben. Um die Hintergründe dafür besser zu verstehen, ist eine anonyme Befragung aller angeschriebenen Beschäftigten geplant. Zusätzlich wird eine Präsentation für Führungskräfte vorbereitet, die sie z.B. bei Abteilungsbesprechungen verwenden können, um für das Thema zu sensibilisieren.

Insgesamt lohnt es sich, die betriebsärztliche Frühberatung anzubieten, weil so einerseits arbeitsmedizinisches Wissen in die Entwicklung eines passenden medizinisch-rehabilitativen Gesamtkonzepts eingebracht werden kann, was zur Optimierung der Reintegrationsergebnisse beiträgt. Darüber hinaus wird ein Beitrag geleistet, systembedingte Wartezeiten, die oftmals Teil der Gesamtarbeitsunfähigkeitszeiten sind, zu verkürzen, was letztlich auch die Kosten von Arbeitsunfähigkeit reduzieren kann. Wenn sich Betriebsärzte als Ansprechpartner auch für solche Themen verstehen, können sie ihre Rolle im und für Unternehmen erweitern.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Koautoren

    Mitautoren des Beitrags sind: Frau Dr. Nicole Hartmann, Alexandra Tsolakis und Dr. Dieter Pothmann

    Weitere Infos

    Knieps F, Pfaff H. (Hrsg.): BKK Gesundheitsreport 2018. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2018.

    https://www.bkk-dachverband.de/publikationen/bkk-gesundheitsreport.html

    autor

    Dr. med. Andreas Erb

    Leitender Betriebsarzt

    AbbVie Deutschland GmbH & Co. KG

    Arbeitsmedizin & Gesundheitsschutz

    67061 Ludwigshafen

    andreas.erb@abbvie.com

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