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Veränderte Erwerbsbiografien und Wertewandel als Herausforderung

Betriebliches Gesundheitsmanagement im Wandel

Die individualistischen Lebensgestalter

Ein Blick in die Geschichte verschafft Klarheit über das Heute. In der deutschen Nachkriegszeit wollten Menschen sein wie ihre Nachbarn, einen Ford fahren, eine Waschmaschine haben und nach Italien reisen. Bauknecht wusste, was Frauen wünschen. Es herrschte Konformismus.

Heute haben Millionen von Menschen ein völlig anderes Lebenskonzept: Sie verstehen sich als „individualistische Lebensgestalter“ und streben nach Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Das beginnt mit der Auswahl des Kindergartens – Waldorf, Montessori, Waldkindergarten oder mehrsprachige Talentförderung im zarten Alter – und reicht bis zur Entscheidung über das Wohnen im Alter, wo die Wahl auf die Senioren-WG, das betreute Wohnen oder die Residenz mit philosophischen Beiprogramm fällt, falls die Mittel dies erlauben. Dieser Einstellungswandel schreibt Biografien um.

„Multigrafie“ statt lineare Lebensläufe

Im Vergleich zum Jahr 1900 haben die Deutschen heute im Schnitt ungefähr 30 Jahre mehr Zeit, ihr Leben zu gestalten. Dazu eröffnen sich ungekannte Chancen, zum Beispiel im Hinblick auf Bildung, Wohnort und Partnerwahl. Die „Multi-Options-Gesellschaft“ von heute bietet eine Vielfalt von Möglichkeiten und die individuelle Freiheit, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Das Konzept der „Multigrafie“ veranschaulicht diese Veränderung.

Die „Multigrafie“ verzeichnet völlig neue Lebensphasen. Nach der Jugend folgt nicht einfach das Erwachsenenleben, sondern die „Post-Adoleszenz“, also die Nachjugend. In dieser Lebenszeit, ungefähr zwischen dem 20. und 30. Geburtstag, lässt sich eine Kultur der Herauszögerung beobachten. Nach der Berufsausbildung geht es nicht mit übergangslos in den Job fürs Leben, sondern beispielsweise erst einmal auf Reisen. Auch private Entscheidungen fallen später; Heirat und Kinderwunsch rücken häufig ins vierte Lebensjahrzehnt. Jugendliche Verhaltensmuster werden also bis weit ins Erwachsenenalter gepflegt, um die Phase der Optionenvielfalt zu verlängern.

Ab dem 30. Lebensjahr wird es dann allerdings problematisch, weil alles auf einmal ansteht: Partnerschaft, Kind und Karriere. Die „Rush Hour“ des Lebens ist eine Zeit der großen Entscheidungen wie Heirat, Nachwuchs, Hauskauf und Übernahme von Führungsverantwortung. Nach dem Ende der „Erziehungsphase“, irgendwann im Alter zwischen 55 und 65 Jahren, rücken im „zweiten Aufbruch“ die eigenen Bedürfnisse wieder in den Vordergrund und es wird ausprobiert, wovon schon immer geträumt wurde: das Mountain Bike, der Trommelkurs, der Umzug, zuweilen auch ein jüngerer Ehepartner. Der Begriff vom „Un-Ruhestand“ bringt die große Suche und das eher seltenere Finden auf den Punkt. Deshalb definieren völlig verschiedene Lebensentwürfe die Lebenswirklichkeit der älteren Generation. Erst danach folgt das traditionell ruhige Alter.

Eine ungewohnte Arbeitsethik

Das Zukunftsinstitut hat 2013 in Deutschland eine repräsentative Online-Umfrage unter 20- bis 35-Jährigen, die als Bildungsabschluss mindestens die (Fach-)Hochschulreife haben, durchgeführt. 77 % der Befragten unter 40-Jährigen stimmten der Aussage zu: „Wenn der Job Spaß macht, bin ich bereit, alles zu geben“.Gleichzeitig hielten jedoch 81 % die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für wichtig, und zwar Frauen und Männer. Das heißt, jüngere Menschen haben Karriereambitionen und sind bereit, ein hohes Arbeitspensum zu leisten, jedoch unter neuen Prämissen: Die Ära der Selbstaufgabe für den Job ist vorbei.

Eine Umfrage von IfD Allensbach unter 16- bis 26-Jährigen bestätigt über die eigene Familie hinaus die Bedeutung, die das soziale Umfeld für heutige Menschen hat: 92 % halten gute Freundschaften und enge Bindungen zu anderen Menschen für wichtig (IfD Allensbach, Basis: Jugendliche von 16 bis 26 Jahren, Megatrend Dokumentation, Zukunftsinstitut, 2018).

Die Shell Jugendstudie von 2015 fragte die beruflichen Prioritäten der 12- bis 25-Jährigen mit der Frage ab: „Was müsste dir eine berufliche Tätigkeit bieten, damit du zufrieden sein kannst?“ Der sichere Arbeitsplatz stand an erster Stelle. Der Arbeitgeber ist ein Vertrauensanker in einer zunehmend unübersichtlichen und unsicheren Gesellschaft. Das „sich Einbringen“ steht an zweiter Stelle und einen sinnvollen Job finden 90 % wichtig. 85 % der Befragten möchten „nützlich für die Gesellschaft“ sein; das Leistungsprinzip ist dagegen weit abgeschlagen.

Diese Entwicklungen beschreiben einen Wandel der Arbeitsethik. Jüngere Generationen gehen auf Distanz zur Leistungskultur, das Private und Gesellschaftliche gewinnt gegenüber dem Beruf an Bedeutung. Bei der Arbeit will der heutige Mensch sich engagieren und Sinn stiften.

Arbeit, die zum Leben passt

Eine neue Arbeitsethik und der Abschied von den linearen Biografien der Vergangenheit lassen neue Bedürfnisse entstehen. Wer sein Leben selbst gestalten will, wer Wert auf gute Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie legt, wer sich selbst weiterentwickeln möchte, hat bestimmte Anforderungen an gute Arbeit.

Menschen wollen arbeiten, aber sie wollen auch Zeit für ihre Kinder haben, sie wollen Teilzeit arbeiten, aber trotzdem den nächsten Karriereschritt gehen. Während die einen neben der Berufstätigkeit studieren oder promovieren möchten, wollen die anderen Erfahrungen im Ausland sammeln oder vielleicht sogar 6 Monate aussteigen, um durch die Weiten Patagoniens zu wandern. In späteren Lebensjahren wollen die einen den Beruf und ihr Ehrenamt unter einen Hut bringen, andere brauchen Zeit für die Pflege ihrer Eltern. All diese unterschiedlichen Menschen suchen Arbeit, die zu ihrer Lebenslage passt. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels entsteht hier eine Chance, Mitarbeiter durch flexible Arbeitsangebote in Verwaltung und Produktion an das Unternehmen zu binden.

Karrierefenster weiter öffnen

In deutschen Unternehmen wird Karriere zwischen 30 und 40 Jahren gemacht, also in der „Rush Hour“ des Lebens. Mütter schränken genau in dieser Lebensphase ihre Berufstätigkeit merklich ein. So sind im Alter von 30 Jahren 88 % der Frauen ohne Kinder erwerbstätig, aber nur 62 % der Frauen mit Kindern (Statistisches Bundesamt 2018, Zahlen von 2016). Das heißt, gerade in der Karrierephase steigen die Mütter aus der Arbeit aus. Unternehmen sollten deshalb ihre Karrierefenster viel weiter öffnen, um so Druck aus der Lebenssituation der Jüngeren zu nehmen – sie werden dadurch attraktiv für Mütter nach dem Wiedereinstieg und binden erfahrene Mitarbeiter. Der heutige Arbeitnehmer sollte sich an den Gedanken gewöhnen, dass er mit 40 Jahren noch ungefähr drei Jahrzehnte Arbeitsleben vor sich hat.

Gesundheit „ad hoc“ und „on demand“

Flexible Arbeit macht einen Arbeitgeber attraktiv – ebenso wie gute Gesundheitsangebote. Für diese gelten die gleichen Regeln wie oben: Sie sind umso erfolgreicher, je passgenauer sie auf eine bestimmte Lebenssituation zugeschnitten sind.

Bewegung ist gesund. Doch das Robert Koch-Institut fand in einer Langzeitstudie heraus, dass ab dem 30. Lebensjahr ein deutlicher Absturz der körperlichen Aktivität zu beobachten ist. Der Anteil der regelmäßig mindestens zwei Stunden pro Woche sportlich Aktiven sinkt um über 10 Prozentpunkte (Robert Koch-Institut 2013, zitiert nach: Sportivity, Zukunftsinstitut, 2014). Eine Untersuchung der Techniker Krankenkasse erhellt diesen Befund durch eine Umfrage: 59 % der Deutschen sagen aus, sie hätten aus beruflichen und privaten Gründen keine Zeit, um sich sportlich zu betätigen (Beweg Dich, Deutschland!, Techniker Krankenkasse, 2013) Fast jeder kann diese Aussage aus eigener Erfahrung bestätigen. Unternehmen sollten deshalb körperliche Aktivitäten anbieten, die immer und überall möglich sind. Ein solcher „Ad-hoc-Sport“ kommt ohne Equipment aus, lässt sich mühelos in den Alltag integrieren und funktioniert am Schreibtisch wie auch zu Hause. Außerdem wäre es ein großer Fortschritt, wenn mehr Büros so konzipiert würden, dass sie Menschen davon abhielten, den ganzen Tag zu sitzen.

Immer mehr Menschen arbeiten zudem „out of office“, in Cafés oder CoWorking Spaces, in Hotels und Zügen oder zu Hause. Manche arbeiten, wenn andere schlafen. Gesundheitsangebote sind für sie nur nutzbar, wenn sie überall und rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Solche Gesundheitsangebote sollten deshalb „on demand“ funktionieren, wie die Streaminganbieter „Netflix“ oder „Spotify“. Gute internetbasierte Gesundheits-Managementsysteme wie „moove“ bieten individuelle Programme und selbst Beratungsgespräche können real oder virtuell stattfinden.

Betriebliche Esskultur – sogar zum Mitnehmen

Gesunde Ernährung ist ein Schlüssel zum gesunden Leben. Wer jedoch viel arbeitet, hat meist keine Zeit zum Kochen – Kantinen werden daher immer wichtiger. Bei Unternehmen wie beispielsweise Google, Spotify, Dropbox oder SAP essen Mitarbeiter nicht nur gratis, sondern auch in Gourmet-Qualität. Das verursacht selbstverständlich Kosten. Dropbox etwa gibt im Jahr rund 6000 US-Dollar pro Mitarbeiter für Verpflegung aus. Und die Speisen in der Kantine des österreichischen Bundesministeriums können auch als Take-Away mit nach Hause genommen werden. So muss sich niemand Sorgen um sein Abendessen machen, wenn es im Büro einmal länger dauern sollte.

Heute ist die betriebliche Esskultur ein Ausdruck der Wertschätzung für die Beschäftigten und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Mitarbeitergesundheit.

Gesundheit braucht guten Schlaf

Nach Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems sind psychische Erkrankungen die zweithäufigste Krankheitsursache in deutschen Unternehmen; laut einiger Krankenkassen führen sie bei Frauen sogar zu den meisten gemeldeten Erkrankungstagen.

Oft beginnt die Krankheit mit Schlafstörungen. Laut Schlafstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2017 schläft jeder Zweite, der erschöpft und gestresst ist, schlecht. Die Folgen reichen von Krankheiten wie Bluthochdruck bis zu niedrigerer Produktivität. Laut dieser Studie liegen die Ursachen am häufigsten in den Arbeitsverhältnissen. Permanenter Leistungsdruck, schlechte Stimmung im Team und eine schlechte Führungskultur sorgen dafür, dass die Mitarbeiter nicht abschalten können. Aber auch eingefahrene Gewohnheiten können Menschen um den Schlaf bringen: Spätes Essen und Alkohol helfen nachweislich nicht dabei, zur Ruhe zu kommen. Hier kann ein Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) ansetzen.

Das Ende von „always on“

Im Schnitt schauen deutsche Smart-Phone-Nutzer 88-mal am Tag auf ihr Handy. Und trotzdem sind die Zeiten, in denen das Internet als Wahrheits-, Demokratie- und Wissensmedium gefeiert wurde, längst vorbei. Mittlerweile steht das Netz auch für Lügen, Cyber-Mobbing, “Verblödung“ in Filterblasen, Datenklau und Suchtverhalten. So mancher geht einfach offline. Dennoch macht die allgegenwärtige Vernetzung das Leben und Arbeiten auch komfortabler und einfacher, der moderne Mensch kann nicht mehr einfach auf die Nutzung digitaler Medien und Geräte verzichten. Die eigentliche Alternative zum „always-on“ ist daher kein simples „Dagegen“, sondern ein intelligentes „Dafür“. Der Begriff der Zukunft lautet „OMline-Sein“. „OMline“-Sein ist die Verbindung von „Online“-Sein und dem buddhistischen „Om“, dem spirituellen Urklang des Universums. „OMline“ sein steht für eine menschenfreundliche Vernetzung. Aus der Überfülle der digitalen Angebote wird das ausgewählt, was dem Einzelnen gut tut. So wird Aufmerksamkeit gesteuert und eine dauernde Ablenkung wird vermieden. Es werden die sozialen Verbindungen gehalten, die unterstützen.

Es geht also um „selbstbestimmte Vernetzung“. Die Technik bestimmt nicht mehr das Leben, sondern die Menschen gehen souverän mit ihr um. Die neue Haltung gegenüber dem Internet könnte vielleicht mit „neugieriger Abschottung“ umschrieben werden. Auch diese reflektierte Neu-Justierung der Netzgewohnheiten ist ein Aufgabenbereich der betrieblichen Gesundheitsförderung.

Anleitung zur „Lebensgestaltung“

Bereits vor der Jahrtausendwende beschrieb der französische Soziologe Alain Ehrenberg einen herausragenden Wesenszug der modernen Gesellschaft: „Schrittweise wurde eine auf Disziplin, mechanischen Gehorsam, Konformität und Verboten gegründete Gesellschaft durch eine Gesellschaft verdrängt, die auf Autonomie, das heißt persönliche Leistung, Wahlfreiheit, Eigenverantwortung und die Initiative des Einzelnen setzt.“ (Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Paris 1998). Die „individualistischen Lebensgestalter“ sind zwar autonom in ihren Entscheidungen, aber gefangen im Korsett der Leistungsgesellschaft.

Das führt zu völlig überzogenen Ansprüchen, die in jedem Hochglanzmagazin zu studieren sind. Alles wird optimiert: die Bauchmuskeln, der Sex, die Kinder. Selbst der Job mutiert zum weltverändernden Selbstverwirklichungsprojekt. Zu den Auswirkungen sagt Alain Ehrenberg: „Wo alles erreichbar, alles möglich scheint, steigen die Ansprüche. Dafür sinkt die Zahl akzeptabler Entschuldigungen. Am Ende liegt das Scheitern nur am eigenen Ich“. Das macht die Seele krank. Eine gesunde Organisation sollte ihren Mitarbeitern dabei helfen, sich mit den eigenen Zielsetzungen auseinanderzusetzen, sie auch einmal kritisch zu hinterfragen und authentische Vorstellungen eines guten Lebens zu entwickeln, ohne überzogene Ansprüche. Mitarbeiter brauchen die Fähigkeit zum „Life Design“, der Lebensgestaltung. Das gilt in Zukunft insbesondere für die älteren unter ihnen.

Werte der heutigen Leistungsgesellschaft

Die Leistungsgesellschaft baut auf Werte, die sich eindeutig der ersten Lebenshälfte zuordnen lassen: Kraft, Leistung, Geschwindigkeit, Wettbewerb, Verdrängung und Kampf um Vorherrschaft. Das ist wie auf dem Fußballfeld. Deshalb sind im Stadion Spieler über 40 und Trainer unter 40 Jahren eine Ausnahme.

Doch die heutige Generation 60plus scheint dieser Logik nicht mehr zu folgen. Nie waren ältere Menschen in ihrer Masse körperlich, geistig und seelisch fitter als im 21. Jahrhundert. Sie ernähren sich besser, reisen, treiben Sport, bestellen ihre Medikamente im Internet und haben einen Facebook Account.

In Fitness-Studios, auf Mountain-Bikes, in Parteien und Unternehmen, überall zeigen sich grauhaarige Hochleisterinnen und Hochleister, die den „Fußballwerten“ zu genügen suchen und dies zuweilen erstaunlich gut meistern.

Die „Anti-Aging-Kultur“ präsentiert sich auf Schritt und Tritt, in Kosmetikanzeigen, Reiseprospekten und Illustrierten. Der Begriff „Anti-Aging“ ist so normal geworden, dass nicht einmal mehr darüber nachgedacht wird, wie der Mensch sich selbst gegen das Alter in Opposition bringt. Die „Anti-Aging-Kultur“ spiegelt die jugendlichen Werte der Leistungsgesellschaft. Doch die Leugnung des Alters ist eine Illusion. Auch wer sich noch so anstrengt, wird den körperlich-geistigen Status quo nicht erhalten können.

Die Gesellschaft der Trainer

Die heutige Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Trainer, um im Fußball-Bild zu bleiben, denn sie besteht in ihrer Mehrheit aus über 50-Jährigen. Eine solche Gesellschaft braucht neue Bilder des Alterns, eine „Pro-Aging-Kultur“. Dieser Kulturwandel lässt sich an einem neuen Typus älterer Menschen beobachten, den „Free-Agern“. „Free-Ager“ lehnen die Rolle des passiven, unproduktiven und abseits der Gesellschaft geführten Rentnerdaseins ab, die im 20. Jahrhundert mit der Einführung des Rentensystems entstand. Aber genauso wenig verfallen sie dem Jugendwahn, der das Altern bis zur Unreife verdrängt. „Free-Ager“ gestalten das Alter als eine eigenständige Lebensphase, und zwar so, dass sie mit sich selbst im Einklang sind. Dabei nutzen sie neu entstehende Freiräume.

Neu: Zeit und Kompetenzen gegen Erfahrung

Ab dem 6. Lebensjahrzehnt entstehen für viele Menschen ungekannte Freiheiten: Die Kinder sind aus dem Haus, manche treten ein beträchtliches Erbe an und für andere endet die Erwerbsarbeit. Endlich kann im eigenen Rhythmus gelebt werden, statt einem fremden Zeitdiktat zu gehorchen – mit erstaunlichen Folgen: Laut einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse aus 2016 geben vier von zehn Befragten der Generation 70+ an, sie hätten überhaupt keinen Stress. Und laut der Coca-Cola-Happiness-Studie von 2015 sind 81 % der über 60-Jährigen in Deutschland mit ihrem Leben zufrieden – und damit 20 % mehr als in der restlichen Bevölkerung.

Alter macht glücklich – allerdings nicht jeden, denn Altern will gekonnt sein. Und genau an dieser Stelle sind die Unternehmen gefordert. Ältere Menschen brauchen Zeit, um sich in der neuen Lebensphase zurechtzufinden. Deshalb ist die Flexibilisierung der Arbeit im Alter entscheidend, auch um jahrzehntelange Erfahrung nicht schlagartig zu verlieren. In vielen großen Unternehmen werden ehemalige Pensionäre mit befristeten Arbeitsverträgen wieder ins Boot geholt. Der neue Deal mit den Arbeitnehmern lautet „Zeit gegen Erfahrung“.

Auch im betrieblichen Gesundheitsmanagement sind neue Ideen für Mitarbeiter in der zweiten Lebenshälfte gefragt. Es geht zum Beispiel um die Sensibilisierung für die notwendige Anpassung von Lebenszielen an die eigenen Fähigkeiten, es geht um Haltungen, wie Offenheit für neue Erfahrungen und Lernbereitschaft, und es geht letztlich um „Gero-Transzendenz“, ein Begriff, den Prof. Hans-Werner Wahl von der Universität Heidelberg geprägt hat. Gero-Transzendenz bedeutet, das eigene Leben als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen und für nachfolgende Generationen zu sorgen. Dieses übergeordnete Prinzip birgt enormes Potenzial, nicht nur im Zusammenhang mit Familie und Ehrenamt, sondern auch für Unternehmen. Erfahrene Mentorinnen und Mentoren betrachten die Dinge in einem größeren Kontext und vermögen oft Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Diese Ressource gilt es zu nutzen.

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass sie innerhalb der vergangenen drei Jahre für Vorträge im Themenschwerpunkt „Arbeiten in der Zukunft“ von verschiedenen Unternehmen und der Zukunftsinstitut GmbH Honorar bezogen hat. Eine Beteiligung an der Zukunftsinstitut GmbH liegt nicht vor.

    Zur Person

    Jeanette Huber ist Associate Director des Zukunftsinstituts. Ihr beruflicher Hintergrund reicht von einem zehnjährigen Engagement in der IT-Branche über die mehrjährige Erfahrung in einer internationalen Unternehmensberatung bis zur Leitung ihres eigenen Tourismus-Unternehmens in Südafrika, wo sie bis 2000 lebte. Diese vielschichtige Lebens- und Arbeitsbiografie ermöglicht es ihr, die wissenschaftlichen Ergebnisse der Zukunftsforschung auf pragmatische Art und Weise mit der Unternehmenswelt von heute zu verbinden.

    Beispiel

    Wie die Werte der neuen Arbeitsethik umgesetzt werden können, zeigt das Unternehmen Vaude. 2018 erschien bei dem Bergsportausrüster die erste Kollektion aus zu 90 % biobasierten, recycelten oder natürlichen Materialien und in der Upcycling-Werkstatt fertigen Geflüchtete aus Materialresten neue Produkte. Darüber hinaus verbindet Vaude das Ökologische mit dem Sozialen. Die Firmenzentrale in Tettnang ist klimaneutral, es gibt ein betriebseigenes Kinderhaus und viele der 500 Mitarbeiter vor Ort arbeiten in Teilzeit.

    autorin

    Jeanette Huber

    Zukunftsinstitut GmbH

    Kaiserstraße 53

    60329 Frankfurt am Main

    www.zukunftsinstitut.de

    direkt@jeanettehuber.de