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Warum globale Gesundheit wichtig für Ärztinnen und Ärzte ist

Westliche Nationalstaaten mit liberalen Demokratien werden (auch) in den letzten Jahrzehnten zunehmend reicher und, im globalen Zusammenspiel der Nationen, immer mächtiger. Gleichzeitig verschwinden innerhalb der Staaten traditionelle Werte und soziale Netze. Staatliche Einrichtungen ziehen sich immer weiter aus der Verantwortung für Bürger zurück. Dabei geraten die Staaten immer mehr in Schwierigkeiten, was sich in zunehmenden sozioökonomischen Ungleichheiten, Vertrauensverlust in staatliche Institutionen, abnehmendem sozialen Zusammenhalt und (wieder) auswuchernden politischen Unterschieden zeigt.

Parallel dazu werden in den letzten Jahrzehnten Kapital, Güter, Menschen, Ideen und Werte immer weniger von Staatsgrenzen beschränkt und es entwickelt sich die Idee einer globalisierten Welt, in der alle Menschen weltweit technisch, ökonomisch, kulturell, politisch und sozial immer mehr miteinander verbunden und dabei voneinander abhängig sind (Yach u. Bettcher 1998).Diese Idee fordert die bestehende Wahrnehmung von nationalen Identitäten und verantwortlichen Systemen heraus. Gleichzeitig werden Menschen durch Globalisierung stark miteinander verbunden und sind erstmals eine global voneinander abhängige Spezies.

Innerhalb dieses Globalisierungsszenarios entstand der Begriff „Globale Gesundheit“, der zu Beginn der 1990er Jahre von der Umweltbewegung in Bezug auf weltweite Umweltzerstörung und Erderwärmung und deren Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen benutzt wurde (Haines 1991; Haines et al. 1993; McMichael 1993). Vielfach wird globale Gesundheit heute mit neuen Aspekten von Transnationalität, Globalisierung, gesellschaftlicher Transformation und globalen Herausforderungen verbunden (Horton 2018; Koplan et al. 2009; Kleinman 2010; Mc Michael 2000). Zusätzlich wird das Konzept auch (wieder) vermehrt auf die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Gesundheit des Planeten Erde („planetary health“) bezogen (Mueller et al. 2018).

Das Gesundheitswesen

Im modernen demokratischen und sozialen Bundesstaat Deutschland sind die sozialen Aufgaben im Grundgesetz festgelegt (s. „Weitere Infos“). Dieses ist geprägt durch ein werteorientiertes Grundverständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und koppelt wirtschaftliche, soziale, bürgerliche sowie politische Grundrechte gleichermaßen aneinander.

Neben den Aktivitäten des Staates und seiner Institutionen tragen der medizinische Fortschritt mit zunehmender Vielfalt von gesundheitsbezogenen Produkten, Dienstleistungen und Anbietern sowie die stetig wachsende Nachfrage der Bevölkerung nach Gesundheitsleistungen dazu bei, dass das Gesundheitswesen ein bedeutendes gesellschaftliches Teilsystem und wichtiger Wirtschaftssektor ist. In den meisten entwickelten Industriestaaten der westlichen Welt ist der Gesundheitssektor inzwischen der umsatzstärkste Wirtschaftszweig (Papanicolas et al. 2018).

Als Konsequenz werden immer mehr Diagnosen, Medikamente und Medizintechnik sowie immer geschulteres medizinisches Personal und mehr Geld benötigt. Das Gesundheitswesen und seine Akteure bekommen damit zunehmend wirtschaftliches Gewicht und politische Aufmerksamkeit. Die wichtige Verbindung zwischen Gesundheit und Wirtschaft und die daraus resultierende zentrale Herausforderung für postindustrielle Gesellschaften wurde 2001 ausführlich von der einflussreichen „Commission on Macroeconomics and Health“ der Weltgesundheitsorganisation beschrieben (WHO 2001).

Gleichzeitig wird von Mitarbeitenden im medizinischen Krankenversorgungssystem erwartet, dass sie immer qualitative hochwertige Medizin praktizieren, um Krankheiten zu heilen und die Gesundheit zu schützen.

Die Idee des Konzepts „Globale Gesundheit“

Die oben genannten Herausforderungen werden auch im Kontext globaler Gesundheit diskutiert. Dabei sind zwei essenzielle Perspektiven für das Gesundheitswesen in Deutschland und weltweit relevant:

  1. eine individualmedizinische Perspektive, mit der Frage, wie ein Zugang zu der notwendigen Behandlung kranker Menschen sichergestellt werden kann (z. B. Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, Schutz vor katastrophalen Ausgaben für Gesundheit etc.);
  2. eine bevölkerungsmedizinische Perspektive, mit der Frage, wie Gesundheit weltweit geschützt werden kann (z. B. vor globalen Pandemien infektiöser Krankheiten, den Auswirkungen von ungesundem Gesundheitsverhalten oder dem Klimawandel).

In dieser Diskussion übernimmt die Bundesregierung zunehmend Verantwortung, um gleichermaßen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie den Grundsatz, dass Menschenrechte weltweite Geltung besitzen, unteilbar sind und allen Menschen zustehen, in Deutschland und weltweit zu gewährleisten und zu verwirklichen (Bundesministerium für Gesundheit 2013, s. „Weitere Infos“).

Die Bundesregierung hat für sich globale Gesundheit zu einer strategischen Priorität gemacht und Chancen und Potenziale definiert, um einen deutschen Beitrag zur globalen Gesundheitspolitik zu erzielen. Neben dem globalen politischen und finanziellen Engagement der Bundesregierung sollen in Deutschland Wirtschaft und Wissenschaft unterstützt sowie aktiver und weltweit führender werden. In dem 2013 vom Bundesministerium für Gesundheit erstellten Konzeptpapier der Bundesregierung werden dazu Leitgedanken formuliert, die einen deutschen Beitrag, einen wertebasierten Ansatz sowie Schwerpunkte des deutschen Engagements prägen sollen. Das Konzept wurde ressortübergreifend erarbeitet und dient der transparenten und nachvollziehbaren Darstellung der Rolle Deutschlands in der globalen Gesundheitspolitik.

Heute ist noch unklar, welche Konsequenzen das Konzept einer globalen Gesundheit für die Steuerung des Gesundheitswesens oder der Verantwortlichkeiten und Kompetenzen für Mitarbeitende im Gesundheitswesen weltweit, d.h. das heißt auch in Deutschland, mit sich bringt. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die globale Gesundheit seit einigen Jahren erhält. proklamieren manche bereits das Ende von HIV/AIDS, die Möglichkeit, weltweit Pandemien zu verhindern, und eine weltweite allgemeine Gesundheitsversorgung (Essex 2017; Ghebreyesus 2018; WHO 2017).

Offensichtlich ist, dass auf Praktizierende und Steuernde im Gesundheitswesen komplexe Herausforderungen zukommen, um zukünftig qualitativ hochwertige Vor- und Fürsorge für Gesunde und Kranke im ambulanten, stationären sowie öffentlichen Gesundheitswesen sicherstellen zu können. Dabei gilt es aufzuzeigen, wie Individuen und Institutionen heute auf die morgigen Herausforderungen an die Gesundheit in einer globalisierten Welt vorbereitet werden können.

Globale Gesundheit weltweit

Die Weltgemeinschaft und ihre weltweiten Institutionen hat in den letzten Jahren viel dazugelernt. Insbesondere der schwere Ausbruch der Ebola-Virus-Krankheit 2014/15 in Westafrika hat deutlich gemacht, dass Krankheiten heute das Potenzial haben, eine Bedrohung für die ganze Welt darzustellen (Gerberding 2019). Dass in der heutigen Welt alle Menschen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, hat die Situation in Westafrika den Regierungen und supranationalen Institutionen weltweit deutlich gemacht ( Yach u.Bettcher 1998).

Leider sind in den meisten Ländern die Gesundheits- und Krankheitsversorgungssysteme bis heute häufig nicht dazu in der Lage, auf Herausforderungen zu reagieren, die überregional oder global die Gesundheit bedrohen. Die Gesundheit aller Menschen weltweit ist vom schwächsten Glied in der Kette abhängig und nur dann sicher, wenn sie ausreichend geschützt wird. Wenn die Gesundheit der Menschen in der heutigen global vernetzen Welt nicht geschützt werden kann, birgt eine solche Situation das Potenzial für weltweite gesundheitliche Gefahren sowie für politische, ökonomische und soziale Instabilität auf globaler Ebene.

Daher werden Fragen nach der Sicherstellung von Gesundheit in Deutschland und weltweit zunehmend ein zentrales gesellschaftliches Thema werden. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des Gesundheitswesens, und insbesondere der staatlichen Einrichtungen für die Öffentliche Gesundheit, die Nationalstaaten durch Gesetze regeln und deren Zuständigkeiten festgelegt sind, in den kommenden Jahrzehnten wachsen, während gleichzeitig die Akteure im Gesundheitswesen mehr wirtschaftliches Gewicht und politische Aufmerksamkeit erhalten und wichtiger werden als bisher (Ghebreyesus 2018). Dabei könnten die in den 1970er Jahren entwickelten Ideen einer Basisgesundheitsversorgung zukünftig eine Schlüsselrolle spielen:

  • in der Bereitstellung von Dienstleistungen im Krankheitsfall,
  • bei der Vermittlung von Gesundheitskompetenzen,
  • bei der Vermittlung von Methoden zur Gesundheitsförderungen sowie zur Krankheitsprävention und
  • bei der Bereitstellung von Umgebungen, in denen Menschen gesund leben können („social determinants of health, SDH) (Marmot et al. 2008; WHO 1978, 2008; Rifkin 2018).

Leider ist bisher in Deutschland der Bereich „Globale Gesundheit“in der Forschung und Lehre an medizinischen Fakultäten bzw. Universitäten allgemein wenig etabliert (Knipper et al. 2015). Die Vernachlässigung von Forschung und Lehre im Bereich der globalen Gesundheit sollte daher unbedingt mit internationalen Entwicklungen nivelliert und mehr als bisher priorisiert werden.

Medizinische Fakultäten stehen dabei in der besonderen Verantwortung, zukünftigen Ärztinnen und Ärzten theoretisches Wissen und klinisches Können zu vermitteln. Sie sollten Medizinstudierende zwingend mehr darauf vorbereiten, welche Herausforderungen die Globalisierung für Gesundheit mit sich bringt und wie sie als künftige Ärztinnen und Ärzte ihr klinisches Können heute in den Kontext der Herausforderungen von morgen setzen können (Frenk et al. 2010; Lilic 2018). Um zukünftig über einzelne Patienten hinaus die Gesundheit größerer Bevölkerungsgruppen vor den Herausforderungen von morgen effizient und effektiv zu schützen, bedarf es eines umfassenden („comprehensive“) Gesundheits- und Krankheitsversorgungssystems mit modularen Dienstleistungen, wie Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention, Diagnostik und Behandlung, sowie multidisziplinärer Expertise aus unterschiedlichen Bereichen – insbesondere der Expertise aus den Bereichen der Öffentlichen Gesundheit.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Koplan JP, Bond TC, Merson MH et al.: Towards a common definition of global health. Lancet 2009; 373: 1993–1995.

World Health Organization (WHO): Macroeconomics and health: investing in health for economic development. Geneva, Switzerland, 2001.

Marmot M, Friel S, Bell R, Houweling TAJ, Taylor S, Commission on Social Determinants of Health: Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Lancet 2008; 372: 1661–1669.

Frenk J, Chen L, Bhutta ZA et al.: Health professionals for a new century: transforming education to strengthen health systems in an interdependent world. Lancet 2010; 376: 1923–1958.

Die vollständige Literaturliste kann auf der ASU-Hompage beim Beitrag eingesehen und heruntergeladen werden (www.asu-arbeitsmedizin.com).

    Weitere Infos

    Bundesministerium für Gesundheit. Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen. Konzept der Bundesregierung. 2013

    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Globale_Gesundheitspolitik-Konzept_der_Bundesregierung.pdf

    Bundesministerium für Gesundheit. Globale Herausforderungen. 2013

    https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/internationale-gesundheitspolitik/global/globale-herausforderungen.html

    Bundesgesetzblatt. Art. 20 (1) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347)

    www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html

    autor

    Dr. med. Peter Tinnemann, MPH

    Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen

    Referent für Öffentliche Gesundheit und Sozialpsychiatrie

    Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen

    Kanzlerstr. 4 – 40472 Düsseldorf

    tinnemann@akademie-oegw.de

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