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Global Health: Öffentliche Gesundheit in Theorie und Praxis

Die deutsche Bundesregierung und insbesondere das Kanzleramt haben dem Thema Global Health in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet. Großes Gewicht misst die Regierung bisher dem Schutz der Gesundheit der hier lebenden Menschen vor den Auswirkungen der Globalisierung und des Klimawandels bei. Das deutsche Engagement für Globale Gesundheit muss sich letztlich aber an der Frage messen lassen, was Deutschland zum Schutz und zur Verbesserung der Gesundheit weltweit beitragen kann und was es tatsächlich dazu beiträgt. Während die Bundesregierung das Thema Globale Gesundheit mit beachtlichem Erfolg in der Außenpolitik einsetzt und dabei auf internationale Anerkennung stößt (Kickbusch et al. 2017), spielt es innenpolitisch nur eine untergeordnete Rolle. Deutsche globale Gesundheitspolitik richtet den Blick in erster Linie auf andere, insbesondere auf einkommensschwächere Länder, und nicht auf die Herausforderungen in Deutschland.

Globale Gesundheit fängt zu Hause an

Global Health erweitert zwar öffentliche Gesundheit um die globale Perspektive, beginnen muss sie aber zu Hause. Die Veränderungen in der Welt von heute stellen auch in Deutschland die öffentliche Hand vor wachsende Herausforderungen. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft ist im Zuge der Globalisierung immer stärkerem Wettbewerbsdruck unterworfen und produziert systembedingt eine wachsende Zahl von Verlierern. Das auf kurzfristige Renditen ausgerichtete Wirtschaftssystem führt auch hierzulande zur Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen; es erzeugt Armut und damit einen Anstieg der gesellschaftlichen und gesundheitlichen Ungleichheit (BMAS 2017). Damit gerät die sozialstaatliche Pflicht zur Sicherstellung einer Daseinsversorgung und -fürsorge unter Druck. Die steigende Zahl sozioökonomisch benachteiligter und sozial ausgegrenzter Menschen in Deutschland bringt den demokratischen Sozialstaat zunehmend ins Wanken.

Zunehmende globale Ungleichheiten

Analysen der Bundesregierung, des Weltwährungsfonds und der Nichtregierungsorganisation Oxfam zeigen übereinstimmend, dass wie überall auf der Welt auch in Deutschland mit der ökonomischen und sozialen auch die gesundheitliche Ungleichheit zunimmt. Zahlen des bundeseigenen Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin belegen, dass Menschen mit niedrigem sozialem Status in Deutschland, einem reichen Land mit hohem Lebensstandard und umfassender sozialer Sicherung, häufiger und in jüngeren Jahren von Krankheiten und gesundheitsbedingten Einschränkungen betroffen sind und früher sterben als Bessergestellte (Lampert u. Kroll 2014). Der Unterschied in der Gesamtlebenserwartung zwischen dem einkommensstärksten und -schwächsten Bevölkerungsfünftel ist in Deutschland bei Männern in den letzten Jahren auf elf und in der gesunden Lebenserwartung sogar auf über 14 Jahre gestiegen (Kröger et al. 2017).

Dazu haben in den vergangenen Jahrzehnten auch hierzulande neoliberale Wirtschaftskonzepte maßgeblich beigetragen. Selbst die Gesundheits- und Sozialpolitik unterwarf sich willfährig vermeintlichen Sachzwängen und einer einseitigen Theorie, die nie einer experimentellen oder gar empirischen Überprüfung ausgesetzt war. Kontinuierliche Versuche der Kostendämpfung und einer zunehmend marktwirtschaftlichen Steuerung des Leistungsgeschehens mit Einführung des Kassenwettbewerbs und wachsendem Konkurrenz- und Produktionsdruck im stationären Sektor haben auch im deutschen Gesundheitswesen in den letzten Jahren zu massiven Änderungen geführt. Gesetzliche Krankenversicherungen im Wettbewerb betreiben im Rahmen der legalen Vorgaben Selektion, gehen zunehmend restriktiv mit Leistungsansprüchen um oder versuchen, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zu beeinflussen, um höhere Zuwendungen aus dem Risikostrukturausgleich zu erhalten.

Die stationäre Versorgung folgt immer mehr einer anbietergesteuerten Produktionslogik und weniger dem real existierenden Bedarf. Zugleich wachsen Bedeutung und Einfluss von renditeorientierten privaten Krankenhäusern, Laborunternehmen und anderen Anbietern im Gesundheitswesen. Das reduziert langfristig die Möglichkeiten, im Rahmen knapp kalkulierter Budgets Bedürftige mitzuversorgen und Menschen ohne gesicherten Krankenversicherungsschutz Leistungen zu gewährleisten. Diese Situation bietet keine guten Voraussetzungen für die angemessene und nachhaltige Daseinsversorgung von Bürgern, deren Behandlungen nicht effizient im Sinne der Gewinnmaximierung erfolgen können oder die keine Renditen versprechen.

Kommerzialisierung bedeutet Ausgrenzung

Den Menschen, die nicht aus eigener Kraft in der Lage sind, für ihr Leben Sorge zu tragen, bietet ein von Kommerzialisierung geprägtes Gesundheitswesen immer weniger Teilhabe und Chancen. Die soziale Absicherung gegen Krankheitsrisiken gerät zunehmend in den Strudel von Marktwirtschaft, Wettbewerb und Gewinnorientierung, das Leistungsgeschehen entwickelt sich von einer sozialen Infrastrukturaufgabe zu einer Kommerzveranstaltung. Das vorherrschende Dogma der Eigenverantwortlichkeit, das gesellschaftliche Risiken und die entsprechenden Kosten auf den Einzelnen verlagert, stellt den Sozialstaat zusätzlich in Frage und bildet die ideologische Rechtfertigung für den Rückzug der öffentlichen Hand.

Die Entwicklungen innerhalb Deutschlands und weltweit verdeutlichen auch die Unfähigkeit der Politik und der von ihr gesetzlich geregelten Sozialsysteme, die unerwünschten Effekte zunehmender sozioökonomischer Ungleichheit abzufedern. Anstatt bei Bedarf die Sozial- und die öffentlichen Ausgaben im Sinne einer antizyklischen Krisenreaktion oder kompensatorischer Investitionen zu erhöhen, erfolgen sukzessive Einschnitte in den Sozialstaat, zunehmende Deregulierung und ein steter Rückbau der öffentlichen Hand, deren Dienste immer weniger Unterstützung in gesellschaftspolitisch relevanten Bereichen bieten. International unterstützt die Bundesregierung zwar die WHO und etliche Entwicklungsländer zunehmend beim Aufbau stabiler Gesundheitssysteme für eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, gleichzeitig führt die staatliche Rotstiftpolitik hierzulande zu spürbaren finanziellen und personellen Kürzungen, die sich nicht nur im derzeit viel diskutierten Pflegenotstand niederschlagen, sondern auch im öffentlichen Gesundheitsdienst, der seinen traditionellen Aufgaben immer weniger nachkommen kann.

Die Auswirkungen der Marktorientierung in der Sozialpolitik auf die Gesundheit sozioökonomisch benachteiligter Menschen betreffen ureigene Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD). Die kontinuierlichen finanziellen und personellen Einschnitte der letzten Jahre haben ihn mittlerweile allerdings in eine Lage gebracht, in der er kaum noch seine Aufgaben erfüllen kann. Angesichts der bestehenden sozialen Ungleichheit, des wachsenden Drucks auf die Sozialsysteme und der daraus entstehenden zusätzlichen Herausforderungen für den ÖGD sind heute zusätzliche Ressourcen erforderlich. Die Überwindung finanzieller wie personeller Engpässe und ein Ausbau der seit Jahren kontinuierlich reduzierten Kapazitäten in der praktischen Öffentlichen Gesundheit stellen unabdingbare Voraussetzungen für mehr und bessere Gesundheit der Bevölkerung und für einen Abbau der gesundheitlichen Ungleichheiten dar. Die kommunalen und staatlichen Gesundheitsämter brauchen dafür heute „eine doppelte Kompetenz von staatlichem Vollzug („Government“) und anwaltschaftlich-moderierendem Eintreten für gesundheitliche Belange („Governance“; Wildner 2017).

Öffentliche Gesundheitsforschung und -praxis

Anders als im angloamerikanischen Ausland besteht in Deutschland im praktischen Handeln des Staates wie in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Gesundheit der Bevölkerung und deren Einflussfaktoren eine Trennung zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) als Institution öffentlicher Gesundheit und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema. Das hat historische und politische Gründe. Die akademische „Public Health“ in den 1980er Jahren in Westdeutschland wollte sich deutlich vom ÖGD absetzen, der eng mit dem rassistischen, menschenverachtenden Vorgehen des deutschen Faschismus in den 1930er Jahren verbunden war. Der Begriff „Public Health“ brachte die Abgrenzung vom nationalsozialistisch geprägten ÖGD ebenso wie von der akademischen Sozialhygiene der ehemaligen DDR zum Ausdruck.

Die akademische Öffentliche Gesundheit bzw. die Gesundheitswissenschaften befassen sich mit den physischen, psychischen und sozialen Bedingungen der Gesundheit von Bevölkerungen und grenzen sich damit bewusst von den individuellen Ansätzen der „Krankheitswissenschaften“ ab. Der praktische Öffentliche Gesundheitsdienst leistet mit der Daseinsversorgung kollektiv-kompensatorische und präventive Arbeit vornehmlich für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Die im Begriff Öffentliche Gesundheit ebenfalls enthaltene Abgrenzung von „öffentlich“ gegenüber „privat“ bzw. die sich daraus ergebenden Herausforderung, sich mit Auswirkungen von Marktwirtschaft und Privatisierung auf die Bevölkerungsgesundheit zu befassen, hat sich bisher weder hinreichend in der akademischen Forschung noch in der Praxis des ÖGD niedergeschlagen. Auf die Fragen nach der Gesundheit der gesellschaftlichen Verlierer und der zukünftigen Sicherstellung ihrer Teilhabe in der Gesellschaft durch öffentliche Einrichtungen liefern die praktische und die theoretische Öffentliche Gesundheit in Deutschland bisher nur teilweise und vor allem keine kohärenten Antworten. Die akademische Öffentliche Gesundheitsforschung hat sich ebenso wie der ÖGD in Deutschland bislang zu wenig der essenziellen Frage angenommen, wie öffentliche Einrichtungen die unerwünschten Wirkungen privater bzw. privatwirtschaftlicher Mechanismen kompensieren können.

Politische Weichenstellung

Eine Voraussetzung für die wirksame Wahrnehmung von wesentlichen Aufgaben Öffentlicher Gesundheit ist die Überwindung der strukturellen und inhaltlichen Trennung ihrer Theorie und Praxis in Deutschland. Neben steigender Praxisrelevanz von Forschung und Lehre und besserer wissenschaftlicher Fundierung der Praxis verspricht dies auch zunehmende Anerkennung und größeren Einfluss auf politischer Ebene (Leopoldina 2015, s. „Weitere Infos“).

Nun hat aber die staatliche Rotstiftpolitik nicht nur im öffentlichen Gesundheitsdienst zu erheblichen Kürzungen geführt, sondern auch die akademische Öffentliche Gesundheit, also die gesundheitswissenschaftliche Forschung und Lehre, nicht unerheblich beeinflusst. So verficht die Gesundheitsökonomie, die vielerorts von der herrschenden neoklassischen Doktrin bestimmt oder zumindest beeinflusst ist, als Teil der akademischen Public Health das Dogma knapper Ressourcen und fordert mehr Eigenverantwortung als Lösung. Verhaltenspräventive Ansätze dominieren den Bereich der Gesundheitsförderung, die sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit bekommen nicht den Raum, der ihnen aufgrund ihrer immensen Bedeutung zusteht, und Biowissenschaftler verkaufen gentechnologische Ansätze als Zukunft von Public Health (Holst u. Razum 2018). Solche Konzepte und Ansätze können weder der zunehmenden sozialen Ungleichheit in Deutschland etwas entgegensetzen noch zukünftig die Daseinsversorgung und -fürsorge, d. h. die Bereitstellung einer Grundversorgung durch öffentliche Einrichtungen für marginalisierte Bevölkerungsgruppen sicherstellen.

In der globalen Diskussion über Öffentliche Gesundheit kristallisieren sich heute zwei grundlegende Ansätze heraus: Die invidualmedizinische Perspektive legt ihr Augenmerk auf das Gesundheitsverhalten des Einzelnen und die Sicherstellung des Zugangs kranker Menschen zu notwendiger Behandlung, z. B. auf die Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente und den Schutz vor finanzieller Überforderung durch Gesundheitsausgaben. Die bevölkerungsmedizinische Public-Health-Perspektive befasst sich hingegen mit Fragen des lokalen, nationalen und weltweiten Gesundheitsschutzes und reicht von der Abwehr globaler Infektionspandemien über die gesellschaftlichen Determinanten von Gesundheit bis zu den Auswirkungen des Klimawandels.

Global Health = Public Health in der globalisierten Welt

Während Öffentliche Gesundheit sowohl das praktische Handeln des Staates als auch die theoretische Auseinandersetzung mit der Gesundheit von Bevölkerungen und ihren Bedingungen umfasst, widmet sich globale Gesundheit (Global Health) der Frage, wie sich die Gesundheit der Menschen weltweit verbessern lässt. Global Health ist dabei die konsequente Weiterentwicklung und Erweiterung von Public Health, also öffentlicher Gesundheit, auf die internationale, globale Ebene.

Die zunehmenden gesellschaftlichen Probleme und die daraus resultierenden wachsenden Anforderungen an die öffentliche Daseinsversorgung erfordern eine Stärkung und den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens in Deutschland und weltweit. Für eine wirksame, empiriegestützte und evidenzbasierte praktische öffentliche Gesundheitspolitik ist eine engere Zusammenarbeit zwischen ÖGD und theoretischer Public Health unerlässlich, um in der Praxis geeignete wissenschaftlich fundierte Strategien zum Abbau oder Abmilderung gesundheitlicher Ungleichheiten und zur Angleichung sozialer und gesundheitlicher Chancen entwickeln und anwenden zu können.

Fazit

Der erforderliche intensivere Austausch zwischen ÖGD und theoretischer Public Health benötigt die stärkere Einbeziehung der staatlichen Öffentlichen Gesundheitsdienste in die theoretische Öffentliche Gesundheitsforschung und -lehre ebenso wie gemeinsame Forschungsprogramme und die engere Verknüpfung von Lehre und Ausbildung im ÖGD (Kurth u. Kurth 2017). Das ist erforderlich, um interdisziplinäre gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse und Empirie nicht nur in die Praxis öffentlicher Gesundheitsvor- und -fürsorge, sondern auch in wirksame Politikberatung übertragen zu können. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Automatismus, sondern es braucht aktive Umsetzung, Förderung und Gestaltung. Eine zunehmend globale Perspektive von Wissenschaft, Praxis und Politik im Bereich Öffentliche Gesundheit kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Holst J, Oliver Razum O: Globale Gesundheitspolitik ist mehr als Gefahrenabwehr. Discussion. Gesundheitswesen 2018; 80: 923–926.

Kickbusch I, Franz C, Holzscheiter A et al.: Germany’s expanding role in global health. Lancet 2017; 390: 898–912.

Kröger H, Kroh M, Kroll LE, Lampert T: Einkommensunterschiede in der Mortalität in Deutschland – Ein empirischer Erklärungsversuch. Zeitschrift für Soziologie 2017; 46: 124–146.

Lampert T, Koch-Gromus U: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2016; 59: 151–152.

Wildner M: Alte und neue Strukturen von Public Health in Deutschland. Gesundheitswesen 2017; 79: 944–948.

Die komplette Literaturliste kann auf der ASU-Homepage beim Beitrag eingesehen und heruntergeladen werden ( www.asu-arbeitsmedizin.com ).

    Weitere Infos

    Kurth BM: ÖGD und Public Health: Vom Fremdeln übers gegenseitige Akzeptieren zur Liebesheirat? Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2005; 48 1093–1094

    https://link.springer.com/content/pdf/10.1007 %2Fs00103-005-1148-9.pdf

    Leopoldina. Public Health in Deutschland –Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen. Halle (Saale): Nationale Akademie der Wissenschaften; 2015

    www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2015_Public_Health_LF_DE.pdf

    autor

    Prof. Dr. Dr. Jens Holst

    Hochschule Fulda

    Professur Medizin mit Schwerpunkt Global Health

    Leipziger Straße 123

    36037 Fulda

    jens.holst@pg.hs-fulda.de