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Urteil des Bundessozialgerichtes vom 20.03.2018 – B 2 U 6/17 R

Mindest-MdE von 30 v.H. für Landwirte verfassungsgemäß

Sachverhalt

Der 1953 geborene Kläger war bis zum 31.12.2012 als selbstständiger landwirtschaftlicher Unternehmer tätig. Zum 1.1.2013 gab er seine Tätigkeit mit Heben und Tragen schwerer Lasten endgültig auf. Die Beklagte erkannte das Bestehen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108/2110 der Anlage 1 zur BKV ab Aufgabe der Tätigkeit an. Sie lehnte jedoch die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil die gesundheitlichen Folgen der BK lediglich eine MdE von 20 v.H. bedingten. Nach § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII werde für Versicherungsfälle, die nach dem 31.12.2007 eingetreten sind, Rente erst ab einer MdE von wenigstens 30 v.H. gezahlt. Klage und Berufung dagegen wurden zurückgewiesen. Mit seiner Revision rügte der Kläger eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und der Art. 14 i.V.m. Art. 20 GG. Landwirte würden durch § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII gegenüber allen anderen Unfallversicherten ungerechtfertigt benachteiligt. Ein Vorschlag des Berufsstandes der Landwirte könne die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Eine Entlastung der Beitragszahler sei nicht ersichtlich. Auch verstoße die Regelung des § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil jegliche Vertrauensschutz- und Übergangsregelung fehle.

Keine Verletzung der Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte bereits Zweifel, ob Ansprüche auf Verletztenrenten der gesetzlichen Unfallversicherung überhaupt dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG unterlägen, da sie anders als Ansprüche und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht teilweise durch einkommensbezogene eigene Beiträge der Versicherten finanziert würden. Dies ließ der Senat aber offen, da § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII jedenfalls eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S. des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG darstelle. Denn der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentumsrechts sei auf den Kernbereich der erworbenen öffentlich-rechtlichen Rechtsposition beschränkt. Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG obläge es dem Gesetzgeber, die konkrete Reichweite des Schutzes der Eigentumsgarantie zu bestimmen.

Ein starres Festhalten an den jeweils durch Gesetz oder Satzung festgelegten Beträgen oder Leistungen würde die einfache Gesetzgebung weitgehend blockieren. Eine Anpassung des Rechts an die Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse würde selbst dann verhindert, wenn eine solche Veränderung im Interesse der Verbesserung oder Erhaltung der Funktionsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung unerlässlich erscheine. Bei etwaigen Eingriffen in bestehende Anwartschaften sei zu berücksichtigen, dass in ihnen von vornherein die Möglichkeit einer Änderung angelegt sei. Eine Unabänderlichkeit der bestehenden Bedingungen widerspräche dem Sozialversicherungsverhältnis, das im Unterschied zu einem privaten Versicherungsverhältnis von Anfang an nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs beruhe.

Durch § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII würde der Rentenanspruch für landwirtschaftliche Unternehmer zwar eingeschränkt, aber nicht gänzlich entzogen. Es handele sich mithin lediglich um die inhaltliche Modifikation einer Anwartschaft. Eine solche Regelung sei zulässig, wenn sie durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt ist. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Die Regelung diene einem legitimen Ziel, der Eingriff sei zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. Die Einschränkung sei für den Kläger nicht unzumutbar.

Ziel ist Beitragsbegrenzung

Zweck des Gesetzes zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) sei die Weiterentwicklung und Reform des Rechts der landwirtschaftlichen Unfallversicherung mit den Zielen einer angemessenen Beitragsbelastung und innerlandwirtschaftlicher Beitragsgerechtigkeit in Hinblick auf den sich beschleunigenden landwirtschaftlichen Strukturwandel. Die landwirtschaftliche Unfallversicherung erhalte seit 1963 Bundeszuschüsse, um die Beiträge der zuschussberechtigten land- und forstwirtschaftlichen Unternehmer zu senken und zu einer Annäherung der Belastungsunterschiede zwischen den Regionen beizutragen. Im Interesse der Haushaltskonsolidierung sollte das weitere finanzielle Engagement des Bundes in der mittelfristigen Finanzplanung von 200 Mio. Euro auf 100 Mio. Euro abgesenkt werden. Zielsetzung der gesetzgeberischen Entscheidung wäre somit, Spielräume zu schaffen, damit die Beiträge der Landwirtschaft ab 2011 trotz eines auf 100 Mio. Euro reduzierten Bundeszuschusses zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung entweder konstant gehalten oder sogar gesenkt werden könnten. Hierbei handele es sich um ein legitimes Ziel, das im öffentlichen Interesse liege. Denn die Regelung diene dazu, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung im Interesse der versicherten landwirtschaftlichen Unternehmer und ihrer Familienangehörigen zu erhalten.

Die Verringerung der Ausgaben der landwirtschaftlichen Unfallversicherung stelle ein geeignetes Mittel dar, dieses Ziel zu erreichen. Bei der Feststellung der Eignung stehe dem Gesetzgeber ein weiter prognostischer Spielraum zu. Ihm obliege dabei die Einschätzung der Lage und der zukünftigen Entwicklung sowie der Zweckmäßigkeit des Mittels. Kernstücke der Reform waren die Kapitalisierung von Bestandsrenten sowie Maßnahmen zur Reduzierung von Verwaltungskosten. Im Gesetzgebungsverfahren wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass allein diese Maßnahmen nicht ausgereicht hätten, um das angestrebte Ziel der Beitragsstabilität zu erreichen. Der Deutsche Bauernverband forderte deshalb in seiner Stellungnahme vom 17.10.2007 als weitere ausgabenrelevante Maßnahme einen Unfallrentenanspruch erst ab einer MdE von 30 v.H. anzuerkennen. Diese Maßnahme durfte der Gesetzgeber zur Erreichung des genannten Ziels mithin insgesamt betrachtet als geeignet ansehen.

Unter dem Gesichtspunkt des aufgezeigten Sparziels seien die angegriffenen Regelungen auch erforderlich. An der Erforderlichkeit der Maßnahmen würde es nur fehlen, wenn evident wäre, dass die angestrebten Einsparungen mit weniger eingreifenden Mitteln hätten erreicht werden können. Solche weniger belastenden Maßnahmen seien nicht erkennbar. In Betracht wäre allenfalls die Streichung anderer Leistungen der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zu ziehen gewesen, die jedoch mit mindestens vergleichbaren Belastungen verbunden wären.

Keine unzumutbare Belastung des Klägers

Schließlich belaste die Regelung des § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII den Kläger nicht unzumutbar. Eine Gesamtabwägung der öffentlichen, im Gemeinwohl stehenden Belange mit den privaten Interessen des Klägers ergäbe, dass dessen Rechte nicht in einer außer Verhältnis zu den Zielen der Einschränkung stehenden Weise – und damit unverhältnismäßig – beeinträchtigt würden. Die Gewährung einer Verletztenrente erst ab einer MdE von wenigstens 30 v.H. betreffe nur einen kleinen Teilbereich des durch die Entrichtung von Beiträgen erworbenen Versicherungsschutzes, der regelmäßig weder die Lohnersatzfunktion noch den existenziellen Kernbereich der sozialen Absicherung betreffe. Eine Rente nach einer MdE von 20 v.H. hätte ausgehend von dem ab 1.7.2012 geltenden pauschalierten Jahresarbeitsverdienst einen monatlichen Zahlbetrag von 127,18 Euro bzw. 140,59 Euro ab 1.7.2017 betragen.

Alle übrigen vom SGB VII vorgesehenen Leistungen zur Kompensation von Erwerbsschäden blieben dem landwirtschaftlichen Unternehmer vollständig erhalten; dies sind insbesondere die ärztliche Behandlung, die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln, die Behandlung in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ggf. zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, Haushalts- und Betriebshilfen, Reisekosten und Pflegeleistungen. Der durch § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII vorgenommene Eingriff in die Ansprüche des Einzelnen durch eine Heraufsetzung der Mindest-MdE auf 30 v.H. sei demgegenüber eher untergeordnet. Der Gesetzgeber habe für die landwirtschaftlichen Unternehmer zudem typisierend davon ausgehen dürfen, dass bei einer MdE von weniger als 30 v.H. kein oder allenfalls ein geringer materieller Schaden für den Betroffenen insgesamt entstehe. Diese relativ geringfügige Reduzierung der Leistungen für den Einzelnen führe jedoch zu einem substanziellen Einsparvolumen für die Gesamtheit der Beitragszahler.

Keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes

Auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG läge nicht vor. Zwar würden der Kläger und die von ihm repräsentierte Ausgangsgruppe der pflichtversicherten landwirtschaftlichen Unternehmer durch die Regelung des § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII gegenüber den übrigen Versicherten in der gesetzlichen Unfallversicherung ungleich behandelt, weil ihr Rentenanspruch erst ab einer MdE von 30 v.H. bestehe, diese Ungleichbehandlung sei jedoch im Hinblick auf die Besonderheiten der Versicherung landwirtschaftlicher Unternehmer gerechtfertigt.

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebiete zwar, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit sei dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletze das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandele, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergäben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber. Vorliegend habe eine über das bloße Willkürverbot hinausgehende, an den Grundsätzen der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung orientierte Prüfung zu erfolgen. Denn die Regelung des § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII behandele verschiedene Personengruppen ungleich. Zudem berühre die Zwangsmitgliedschaft der landwirtschaftlichen Unternehmer in der Sozialversicherung den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG.

Genossenschaftliche Eigenhilfe der Landwirte

Gemessen am Maßstab verhältnismäßiger Gleichbehandlung bestünden für die Einschränkung des Rentenanspruchs landwirtschaftlicher Unternehmer durch § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII Gründe von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen. Die Einschränkung der Leistungen auf der Ausgabenseite sei geeignet, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der kurz- oder mittelfristigen Senkung des Umlagesolls der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft trotz reduzierter Bundeszuschüsse zu erreichen. Der hinreichende Sachgrund für die Ungleichbehandlung folge aus der Besonderheit der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, die der Pflichtversicherung der landwirtschaftlichen Unternehmer einen weitgehenden Unfallversicherungsschutz bei festgeschriebenem Jahresarbeitsverdienst gegenüber stellt.

Grundsätzlich seien in der gesetzlichen Unfallversicherung die Unternehmer selbst nicht kraft Gesetzes versichert. Eine Ausnahme bildeten die landwirtschaftlichen Unternehmer. Dabei würde der ursprüngliche Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung, nämlich die Ablösung der gesetzlichen Haftpflicht des Unternehmers gegenüber den im Unternehmen Tätigen bei alleiniger Beitragstragung, durchbrochen. Dem selbst versicherten Unternehmer stehen keine Schadenersatzansprüche gegen sich selbst zu. Es handele sich vielmehr um eine gemeinschaftliche Absicherung von Gesundheitsgefahren, die die bei einem Versicherungsträger zusammengeschlossenen Unternehmer selbst begünstigt und die mit Steuermitteln bezuschusst werde. Der Zweck der Versicherung bestehe in einer genossenschaftlichen, auf versicherungsrechtlicher Basis aufbauenden Eigenhilfe der landwirtschaftlichen Unternehmen.

Gleichzeitig werde der Unfallversicherungsschutz auf Tätigkeiten erweitert, die außerhalb der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nicht versichert wären. Welche Tätigkeiten dem landwirtschaftlichen Unternehmen dienen, ist stark von den Besonderheiten der bäuerlichen Arbeit geprägt. Neben den klassischen Bestellungs-, Bearbeitungs- und Aberntungstätigkeiten eines Landwirtes gehören insbesondere die maschinelle Nachbarschaftshilfe, die Teilnahme an berufsbezogenen Versammlungen, der Besuch von Messen und Ausstellungen, die Teilnahme an Demonstrationen des Berufsstandes, die Kindererziehung als Teil der landwirtschaftlichen Haushaltstätigkeit und verwaltende Tätigkeiten im Wohnhaus, das sowohl privaten als auch betrieblichen Zwecken dient, zu den versicherten Tätigkeiten.

Der pflichtversicherte landwirtschaftliche Unternehmer, der gleichzeitig Beitragsschuldner ist, profitiere somit einerseits vom umfassenden Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung, andererseits habe er Interesse an einem möglichst niedrigen Umlagesoll. Stabile Beiträge gereichten zu seinem unmittelbaren finanziellen Vorteil. Dies unterscheide ihn von den in der Landwirtschaft Beschäftigen i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, aber auch von den in landwirtschaftlichen Unternehmen in der Rechtsform von Kapital- oder Personenhandelsgesellschaften, wo der Unternehmer zwar in der Regel maßgebenden Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft haben, aber nicht unmittelbar am Ertrag des Unternehmens teilhabe.

Schließlich habe der Gesetzgeber hinsichtlich der Funktion der Verletztenrente zutreffend davon ausgehen können, dass beim Personenkreis der landwirtschaftlichen Unternehmer und ihrer Ehegatten oder Lebenspartner regelmäßig bei Verletzungen, die eine MdE von weniger als 30 v.H. bedingen, kein Erwerbsschaden durch die Verletzungsfolgen eintritt. Bei den niedrigen Erwerbsminderungsstufen (MdE 20 v.H. und 25 v.H.) würden ausschließlich immaterielle Schäden ausgeglichen. Die Verletztenrente kompensiere neben ihrer Einkommensersatzfunktion auch immaterielle Schäden. Der monatliche Wert des Rechts auf Verletztenrente werde nach dem sog. Prinzip der abstrakten Schadensberechnung allein nach dem Maß der eingetretenen Beeinträchtigung der Gesundheit (Verlust an körperlicher, geistiger oder seelischer Integrität) unabhängig davon ermittelt, ob und inwieweit konkrete materielle und immaterielle Schäden infolge der Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten sind. Von den konkreten Auswirkungen der Gesundheitsbeeinträchtigungen auf Erwerbseinkommen oder Vermögen etc. werde also „abstrahiert“, insbesondere davon, welche Verdiensteinbußen tatsächlich durch den Versicherungsfall hervorgerufen werden. Ausgehend von einem landwirtschaftlichen Betrieb, der als Familienbetrieb geführt wird, durfte der Gesetzgeber typisierend davon ausgehen, dass eine geringe MdE von weniger als 30 v.H. in der Regel noch keine Auswirkungen auf die konkrete Einkommenssituation dieses Betriebs hat. Dafür spricht auch, dass für Landwirte und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten bzw. Lebenspartner Grundlage für die Bemessung der Höhe der Verletztenrente – abweichend von der gewerblichen Unfallversicherung – nicht der tatsächliche Jahresarbeitsverdienst, sondern gemäß § 93 Abs. 1 SGB  II ein Festbetrags-Jahresarbeitsverdienst ist, der weit unter dem tatsächlichen Ertrag des Betriebs liegen kann.

Keine Verletzung des Vertrauensschutzes durch Rückwirkung

Der Gesetzgeber sei bei Zugrundelegung des Maßstabs des Art. 14 GG i.V.m. dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Vertrauensschutzprinzip verfassungsrechtlich nicht gehalten, von der Anwendung des § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII diejenigen Unternehmer auszunehmen, bei denen die der Berufskrankheit zugrunde liegende Erkrankung bereits vor Inkrafttreten des LSVMG und Eintritt des Versicherungsfalls eingetreten sei. Der Anwendungszeitpunkt der Norm beruhe auf einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Abwägung zwischen den öffentlichen Belangen und den schutzwürdigen Interessen des betroffenen Personenkreises und sei nicht unverhältnismäßig.

Die allgemeine Erwartung des Bürgers, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, sei verfassungsrechtlich nicht geschützt. Die Gewährung vollständigen Schutzes durch ein Fortbestehen der jeweiligen bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen. Daher sei gerade in der Sozialversicherung die Möglichkeit zur Anpassung an geänderte Verhältnisse angelegt. Im Einzelfall bedürfe es einer Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens des Einzelnen und der Bedeutung des gesetzlichen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit.

Stichtagsregelung nicht zu beanstanden

Das Ergebnis der vom Gesetzgeber gewählten Stichtagsregelung sei, dass die Unternehmer, bei denen der Versicherungsfall vor dem 1.1.2008 eingetreten sei, weiterhin eine Rente unter 30 v.H. beanspruchen könnten, während dies den Unternehmern, die ihre Arbeit noch nach diesem Datum fortgesetzt hatten, verwehrt werde. Härten, die jeder derartigen Regelung innewohnten, müssten dann hingenommen werden, wenn die Einführung eines Stichtages notwendig und die Wahl des Zeitpunkts orientiert am gegebenen Sachverhalt sachlich vertretbar ist. Diese Voraussetzungen seien vorliegend gegeben. Damit die gesetzliche Neuordnung ihr Ziel in absehbarer Zeit erreichen könnte, bedürfe es einer Stichtagsregelung.

Dem Ziel des Gesetzgebers, Einsparungen bei den Leistungen der landwirtschaftlichen Unfallversicherung möglichst schnell durchzusetzen, um auf die Reduzierung des Bundeszuschusses zu reagieren, stehe als allein denkbare Disposition der landwirtschaftlichen Unternehmer das Unterlassen einer anderweitigen privaten Absicherung gegenüber. Das bloße Unterlassen einer Disposition sei jedoch qualitativ mit der aktiven Gestaltung von Rechtsansprüchen und Vermögenspositionen im Vertrauen auf eine bestehende Rechtslage nicht vergleichbar. Zudem sei nicht erkennbar, inwieweit die alte Rechtslage, die die Zahlung einer Verletztenrente ab einer MdE von 20 v.H. vorgesehen hätte, den Kläger daran hinderte, ohnehin ergänzend eine private Versicherung abzuschließen, da auch in der Vergangenheit Einbußen aufgrund einer MdE von weniger als 20 v.H. nicht abgesichert waren. Zudem sei der von der tatbestandlichen Rückanknüpfung betroffene Personenkreis eng abgegrenzt. In Frage kommen nur diejenigen landwirtschaftlichen Unternehmer, deren Berufskrankheit bereits vor dem 31.12.2007 bekannt war, bei denen der Versicherungsfall aber erst nach dem 1.1.2008 eintrat und denen deshalb zu diesem Zeitpunkt bereits die Möglichkeit zur privaten Vorsorge verschlossen war. Es sei nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Ziel der Einsparung von Aufwendungen in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung den Vorrang vor dem geringen wirtschaftlichen Interesse der von einer Berufserkrankung betroffenen landwirtschaftlichen Unternehmer eingeräumt habe.

Eine Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 GG sah der Senat nicht, da nach seiner Überzeugung § 80a Abs. 1 S. 1 SGB VII nicht gegen höherrangiges Recht verstößt.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Weitere Infos

    Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254)

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_7/index.html

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

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