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Psychische Gesundheit: Forschungsmethodische Perspektive

Psychische Gesundheit: Forschungsmethodische Perspektive

Eine vordringliche forschungsmethodische Aufgabe für den Themenbereich Arbeit und Gesundheit besteht in der Nutzung der Vielfalt verfügbarer Analysemethoden sowie in der Durchführung von Längsschnitt- Verlaufs- und Interventionsstudien. Um dies zu realisieren, ist es erforderlich, Nützlichkeit und die Akzeptanz der Forschung zu erhöhen. Daraus ergeben sich neue Perspektiven für Forschungsmethoden.

Schlüsselwörter: Forschungsmethoden – Untersuchungsdesign – Erhebungsmethoden – Attraktivität der Forschung

Mental health: Research methodical perspective

Research on work and health has advanced in the last years. Much progress has been made in theoretical and in methodical perspectives. However, methods which are appropriate for analysing the complex transaction between working conditions and health are still used rarely. To conduct different methods of analysing working conditions, such as questionnaires and observation, cooperation with businesses is necessary. This raises new questions for scientists in the field of work.

Keywords: research methods – analysis design – survey methods – attractiveness of research

E. Bamberg

Einleitung

Mit dem Bericht Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung (Rothe et al. 2017) legt die BAuA ein umfassendes Dokument zu arbeitspsychologischen Einflussfaktoren psychischer Gesundheit vor, das durch weitere Veröffentlichungen zu dem Thema spezifiziert und ergänzt wird (z.B. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 2017, Heft 1). In Berichten und Veröffentlichungen werden auch methodische Charakteristika einschlägiger Studien diskutiert. Dabei werden übergreifende Forschungserfordernisse benannt, wie z.B.:

  • Um die Dominanz von Analysedaten auf der Basis von Selbstauskünften zu mindern und um der Gefahr eines Common Method Bias zu begegnen, ist eine breitere Nutzung des zur Verfügung stehenden Methodeninventars zu empfehlen. Dies betrifft etwa qualitative und quantitative Methoden sowie Beobachtungsverfahren, technische Registrierung von Umgebungsfaktoren und von physiologischen Daten.
  • Bei einer großen Zahl von Studien handelt es sich nach wie vor um Querschnittsuntersuchungen. Um Hinweise auf kausale Wirkungen zu erhalten, ist die Dominanz von Querschnittsstudien durch eine verstärkte Einbeziehung von Längsschnitt-, Verlaufs- (z.B. Tagebuchstudien) sowie Interventionsstudien erforderlich.
  • Es sollten Belastungskonstellationen einbezogen werden, die für das Arbeitsleben (bzw. spezifische Arbeitstätigkeiten) typisch sind. Damit könnten auch Wechselwirkungen oder Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Faktoren untersucht werden, beispielsweise die Wirkung des Verhaltens von Führungskräften auf Arbeitsbedingungen. Bei einigen Themenbereichen (z.B. Arbeitszeit) bietet es sich an, nicht nur die Erwerbsarbeit, sondern auch andere Lebensbereiche in die Untersuchungen einzubeziehen.

Rothe et al. (2017) zeigen, dass zentrale und traditionelle Kritikpunkte der Arbeitswissenschaft nicht an Aktualität verloren haben. Zwei Themen, die auch von Rothe et al. benannt werden, sollen im Folgenden ausgeführt werden.

Untersuchungsdesign

Die Notwendigkeit von Verlaufs- und Längsschnittstudien ergibt sich nicht nur daraus, dass diese, im Gegensatz zu den nach wie vor dominierenden Querschnittsuntersuchungen, Hinweise auf kausale Wirkungen erlauben. Der Prozesscharakter der Transaktion von Arbeit und Gesundheit kann nur mit Hilfe eines Designs mit mehreren Messzeitpunkten analysiert werden. So können etwa die nicht selten publizierten Mediatoranalysen mit Querschnittsdaten, die den Anspruch haben, vermittelnde Faktoren im Zusammenhang mit Arbeit und Gesundheit zu klären, fehlerbehaftet sein (Maxwell et al. 2011).

Für Verlaufs- und Längsschnittstudien spricht ferner, dass Gesundheit wie auch Arbeitsbedingungen keineswegs konstante Größen sind. Sie variieren vielmehr kurz- und mittelfristig (etwa im Tages- oder im Jahreszyklus) und sie entwickeln und verändern sich (Sonnentag 2015) – Letzteres wird in der aktuellen Debatte um die Entwicklungen der Arbeit und Industrie 4.0 besonders deutlich. Variabilität und Entwicklung charakterisieren auch die Faktoren, die Effekte auf Arbeit und/oder Gesundheit haben oder die als Mediatoren oder Moderatoren den Zusammenhang zwischen Merkmalen der Arbeit und Gesundheit beeinflussen. Für die Durchführung von Verlaufs- und Längsschnittstudien spricht auch, dass diese ermöglichen, im Prozessverlauf unterschiedliche Beziehungen zwischen Merkmalen der Arbeit und Gesundheit wie z.B. Akkumulations- oder Anpassungseffekte zu analysieren. So verweisen Igic et al. (2017) in einer Längsschnittstudie auf kumulative und chronische Effekte, Baethge et al. (2018) konnten durch eine Einbeziehung von Tagebuchstudie und Längsschnittstudie zeigen, dass Zeitdruck auf Engagement kurzfristig positiv, langfristig negativ wirken kann.

Rothe et al. (2017) berichten, dass Interventionsstudien besonders rar sind. Sie sind ferner mit einigen methodischen Problemen verbunden. Vergleichsweise häufig sind Interventionsstudien zu personenbezogenen Maßnahmen (z.B. Trainingsprogrammen), die sich auf Ergebnisevaluation konzentrieren. Die Möglichkeiten einer Evaluation von bedingungsbezogener Gestaltung unter Einbeziehung des Gestaltungsprozesses werden kaum wahrgenommen (Bamberg et al. 2011).

Es gibt somit eine Reihe von Argumenten, die für eine verstärkte Durchführung von Verlaufs-, Längsschnitt- und Interventionsstudien sprechen. Forschungsmethodisch ergeben sich daraus einige weitere offene Fragen, so beispielsweise, wie reziproke Effekte untersucht werden können, welche Messzeitpunkte in Verlaufs- und Längsschnittstudien zu wählen sind oder wie diese beiden Methoden integriert werden können (vgl. z.B. Sonnentag 2015; Dormann u. Griffin 2015). Die Integration von Prozess- und Ergebnisevaluation im Rahmen von Interventionsstudien bedarf weiterer methodischer Vorarbeiten. Eine Einbeziehung qualitativer Daten ist konzeptionell und praktisch zu erproben.

Erhebungsmethoden und -instrumente

Für die Erhebung von Merkmalen der Arbeit, der Gesundheit und der auf Arbeit und Gesundheit wirkenden Rahmenbedingungen stehen grundsätzlich unterschiedliche Methoden zur Verfügung, z.B. un-, teil- oder standardisierte Befragungen und Beobachtungen, die Analyse verfügbarer Daten (wie Fehlzeiten) oder physiologische Aufzeichnungen. Rothe et al. (2017) zeigen, dass trotz des breiten verfügbaren Methodeninventars Fragebogen mit großem Abstand am häufigsten eingesetzt werden. Der Einsatz von Fragebögen ist allerdings mit einer Reihe von Problemen verbunden: Kaum thematisiert wird die Gefahr, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre Daten über Schneeballsystem oder Plattformen sammeln und mit Betrieben allenfalls virtuell Kontakt haben, den Gegenstand der Wissenschaft, d.h. die konkrete Arbeit und deren Rahmenbedingungen, die sie untersuchen, nur unzureichend kennen. Des Weiteren wird durch Fragebogenuntersuchungen auf Informationen, die durch andere Methoden (z.B. Beobachtung) zur Verfügung stehen, verzichtet. Unter Common Method Bias wird die Gefahr von Artefakten diskutiert. So ist beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Anforderungen bei der Arbeit und Energie/psychisches Wohlbefinden wenig verwunderlich, wenn ersteres mit dem Item „Ist Ihre Arbeit emotional fordernd?“, Letzteres mit dem Item „Wie häufig sind Sie emotional erschöpft?“ gemessen wird (Copsoq 2018).

Um die Gefahr von Artefakten zu verringern, sollte neben der Nutzung unterschiedlicher Methoden darauf geachtet werden, zur Erfassung von Merkmalen der Arbeit (oder anderer Lebensbereiche) bedingungsbezogene Verfahren einzusetzen. Diese zielen darauf ab, entsprechende Indikatoren unabhängig von individuellen Besonderheiten der Probanden zu erfassen, während es in personenbezogenen Instrumenten um eben diese individuellen Besonderheiten geht.

Attraktivität und Nutzen der Forschung

Der Einsatz unterschiedlicher Analysemethoden und ein Design, das Hinweise auf kausale Zusammenhänge erlaubt, setzen voraus, dass verstärkt Untersuchungen und Interventionen in der Arbeitswelt, d.h. in Betrieben und Verwaltungen durchgeführt werden. Dies mag angesichts der aktuellen Bedingungen in der Wissenschaft und in der Arbeitswelt naiv erscheinen. In der Wissenschaft sind die Beteiligten einem erheblichen Publikationsdruck ausgesetzt, was zu Bestrebungen führt, den Forschungsprozess zu ökonomisieren. Fragebogenuntersuchungen sind, besonders im Zeitalter von Online-Studien, vergleichsweise wenig aufwändig, zumal sie im Schneeballsystem über bezahlte Plattformen oder über im Rahmen der Ausbildung zu leistende Versuchspersonenstunden durchgeführt werden können.

Hinzu kommt, dass in Betrieben die Bereitschaft zur Durchführung von Untersuchungen bei den Beteiligten begrenzt ist. Arbeitgebervertreter verwehren einen Betriebszugang, Arbeitnehmervertreter verwehren die gewählte Untersuchungsmethode und die Beschäftigten verwehren die Teilnahme. Die Vorbehalte bestehen gegenüber allen Untersuchungsmethoden, sind aber dann besonders groß, wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Betriebsgelände aktiv sind (was sich z.B. bei Beobachtungen nicht vermeiden lässt). Die Vorbehalte bei den Beteiligten werden verstärkt, wenn der Nutzen von Untersuchungen für sie nicht klar ist und wenn negative Konsequenzen, etwa durch Zusatzaufwand oder gar Unruhe im Betrieb, erwartet werden.

Eine besondere Herausforderung besteht somit darin, Untersuchungen und Forschungsmethoden für die Beteiligten in der Arbeitswelt attraktiv zu machen. Die Akzeptanz von Forschung kann etwa dadurch erhöht werden, dass die Beteiligten ausreichend informiert sind, dass der Prozess für sie transparent ist, dass sie Partizipationsmöglichkeiten haben und dass ein unmittelbarer Nutzen für sie deutlich wird. Das klingt einfach, impliziert aber neue offene Fragen, die zu klären sind: Kann zum Beispiel die Transparenz des Forschungsprozesses die Ergebnisse beeinflussen („die gute Versuchsperson weiß nichts“) oder können gegensätzliche Interessen im betrieblichen Kontext dazu führen, dass die Ergebnisse für eine Gruppe nützlich für andere Gruppen nachteilig sind. Wie ist damit umzugehen?

Eine Reflexion der Forschungsmethodik umfasst somit nicht nur Themen wie Design, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, sondern auch die forschungsbezogene Kooperation und Kommunikation mit den Institutionen der Arbeitswelt. Hier besteht erheblicher Entwicklungsbedarf.

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Baethge A, Vahle-Hinz T, Schulte-Braucks J, van Dick R: A matter of time? Challenging and hindering effects of time pressure on work engagement. Work & Stress 2018; 32: 228–247.

Bamberg E, Ducki A, Metz A-M: Handbuch Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement in der Arbeitswelt. Göttingen: Hogrefe, 2011.

COPSOQ: Deutsche Standard-Version des COPSOQ (Copenhagen Psychosocial Questionnaire). https://www.copsoq.de/assets/COPSOQ-Fragebogen-mit-Skalenzuordnung-040618-download.pdf (zuletzt abgerufen am: 17.7.2018).

Dormann C, Griffin MA: Optimal time lags in panel studies. Psychological Methods 2015; 20: 489–505.

Igic I, Keller AC, Elfering A Tschan F, Kälin W, Semmer NK: Ten-year trajectories of stressors and resources at work: Cumulative and chronic effects on health and well-being. J Appl Psychol 2017; 109: 1317–1343.

Maxwell SE, Cole DA, Mitchell MA: Bias in cross-sectional analyses of longitudinal mediation: Partial and complete mediation under an autoregressive model. Multivariate Behav Res 2011; 46: 816–841.

Rothe I, Adolph L, Beermann B, Schütte M, Windel A, Grewer A, Lenhardt U, Michel J, Thomson B, Formazin M: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2017.

Sonnentag S: Dynamics of well-being. Ann Rev Organ Psychol Organ Behav 2015; 2: 261–293. Z Arbeitswiss 2017, 71: 1–70.

Verfasserin

Prof. (em.) Dr. phil. Eva Bamberg

Arbeits- und Organisationspsychologie

Universität Hamburg

Von-Melle Park 11

20146 Hamburg

bamberg@uni-hamburg.de

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53 (Sonderheft): 60–62

Fußnoten

Arbeits- und Organisationspsychologie, Universität Hamburg