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Zum Umgang mit psychischer Gesundheit

Zum Umgang mit psychischer Gesundheit

Der BAuA-Abschlussbericht „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ stellt eine Vielzahl bewerteter Ergebnisse, Widersprüchlichkeiten und Defizite dar. Die bereits seit Jahrzehnten kontrovers laufende Diskussion zu diesem Thema wird jetzt in eine neue Etappe eintreten. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Diskussion und den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur komplizierten Problematik psychischer Anforderungen in der Arbeit sollen einige Thesen als Leitlinien für das Handeln in der Praxis aufgestellt werden. Dabei geht es sowohl um die Einordnung dieser Problematik in die Gesellschaft und Wissenschaft als auch um die konkrete Umsetzung in der Arbeitsstruktur und die Forderungen an das präventive und medizinische Umfeld.

Schlüsselwörter: psychische Belastung – Praxistransfer – Leitlinien

Dealing with mental health

The BAuA’s final report “Mental Health in the Workplace” presents a multitude of evaluated results, contradictions and deficits. Debate on this subject, which has been controversial for decades, will now enter a new phase. Based on the experiences of this debate and the established scientific findings on the complicated problems of psychic demands in the work, some theses are to be drawn up as guidelines for action in practice. This involves both the integration of this problem into society and science and its concrete implementation in the work structure and the demands placed on the preventive and medical environment.

Keywords: psychic demands – guidelines for practice

K. Scheuch

Einleitung

In dem sehr differenzierten und differenzierenden Wissenschafts- und Praxisfeld „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ liegt mit dem BAuA-Abschlussbericht „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“ eine ausgezeichnete Literaturaufbereitung vor, die weltweit einmalig ist, insbesondere auch aufgrund der Art und Weise der Erarbeitung.

Bei der praktischen Umsetzung der Schlussfolgerungen und der wissenschaftlichen Bearbeitung offener und zukunftsweisender Probleme sollten einige grundlegende Positionen Leitlinien für das Handeln sein. Diese sollen im Folgenden thesenartig dargestellt werden, um allgemein verständlich zu sein. Das Thema „psychische Gesundheit“ ist dabei strategisch als Rahmen gewählt, der auch körperliche Gesundheit, psychische und körperliche Krankheit, psychische Belastung und Fehlbelastung beinhaltet. Eine Trennung dieser Themen ist wissenschaftlich, in der betrieblichen Praxis bei der Bewertung und Gestaltung von Arbeit und im ärztlichen Handeln nicht möglich.

Arbeitsbelastungen und Schädigungen folgen einem linearen Prinzip – wie toxische, physikalische Faktoren – oder einem kurvilinearen Prinzip – wie bei physischer Belastung, wenn ein zu Viel oder zu Wenig schädigend sind. Bei diesen Wirkmechanismen ist es möglich, definitive Regelungen/Grenzwerte festzulegen. Bei psychischer Belastung (neutral in der DIN EN ISO 10075-1 definiert als von außen einwirkende psychische Einflüsse, deren Wirkungen indifferent, positiv oder negativ sein können) besteht die Besonderheit, dass Schädigungs- und Gesundheitsmechanismen situations- und umfeldabhängig (sozial und materiell) sind sowie wesentlich durch individuelle aktuelle und übergreifende (habituelle) Bewertungs- und Bewältigungsmechanismen bestimmt werden (Scheuch u. Schröder 1990).

Zum anderen ist Arbeit grundsätzlich eine humane Aktivität des Menschen, für den Menschen und die Gesellschaft, in der das typisch Menschliche – die psychische Belastung/Anforderung – entwicklungs- und gesundheitsfördernd bewältigt werden soll. Dank der psychischen Belastung/Anforderung zur Analyse und Gestaltung von Arbeit in der Arbeitswelt der Vergangenheit und der politischen Umsetzung der Ergebnisse durch Normen und Überzeugungen haben wir heute geschichtlich die beste und gesündeste Arbeit, in der die psychische Belastung/Fehlbelastung in den Fokus des Arbeits- und Gesundheitsschutzes rücken konnte.

Aufgrund dieser Komplexität von Wirkfaktoren, der besonderen Rolle psychischer Prozesse für den/die Menschen wird eine Grundstrategie des Umgangs mit dieser Herausforderung benötigt, die im Folgenden mit einigen Thesen untersetzt werden soll.

Thesen

  • Grundlage für die Gestaltung und Realisierung psychischer Belastungen muss eine Leitkultur/Philosophie/Grundeinstellung der Gesellschaft/der Arbeitgeber und Arbeitnehmer für Gesundheit, Arbeitsfähigkeit, Zufriedenheit unter lebenslanger Perspektive aller Mitglieder dieser Gesellschaft sein. Dies ist Voraussetzung, um Nachhaltigkeit zu sichern und alleinigen Aktionismus zu vermeiden.
  • Für alle Beteiligten im Arbeitsprozess sollten auf der Grundlage der Leitkultur/Philosophie/Grundeinstellung grundsätzliche sowie tätigkeits- und aufgabenbezogene ethische Grundpositionen Denken und Handeln und auch deren Bewertung bestimmen. Ethische Leitlinien sind für ärztliches Handeln seit Jahrhunderten üblich; sie werden auch von der Gesellschaft erwartet. Alle Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz sind in der modernen, zukunftsorientierten Arbeitswelt besonders gefordert, Ethik ist Denk- und Handlungsgrundlage, aber auch Schutz (Scheuch 2017).
  • Aufgrund der Differenziertheit und individuellen Abhängigkeit der Wirkungen psychischer Belastungen sollte dies kein politisches Streitfeld sein, sondern durch die gemeinsame Verantwortung aller Akteure getragen werden. Politischer Streit produziert möglicherweise reale und virtuelle Quellen psychischer Fehlbelastung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
  • Durch die Besonderheiten der psychischen Belastung muss es zu einem Paradigmenwechsel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes kommen. Es ist inhaltlich und strategisch falsch, allein von einer (psychischen) Gefährdungsbeurteilung im gesetzlichen Arbeitsschutz zu sprechen; insbesondere bei psychischer Belastung geht es um eine Gefährdungs- und Ressourcenbeurteilung, um Risikominimierung und Ressourcenentwicklung. Im Vordergrund steht heute die Gestaltungsoptimierung statt der Risikominimierung (Rothe 2016).
  • Die arbeitswissenschaftliche Reihenfolge der Gestaltung von Arbeit für Gesundheit und Arbeitsfähigkeit – an erster Stelle Anforderungen, Bedingungen, Organisation – gilt auch für die psychische Belastung. Um Gesundheit und Arbeitsfähigkeit unter lebenslanger Perspektive wirksam gestalten zu können, gehört die individuelle Betrachtung und Beeinflussung unbedingt zu einem wirksamen präventiven Gesamtkonzept. Hierin muss ein Schwerpunkt in den nächsten Jahren liegen. Dazu zählt die frühzeitige Erkennung und Beeinflussung individueller Gesundheits- und Bewältigungsprobleme sowie die individuelle Verhaltensoptimierung in und außerhalb der Arbeit.
  • Psychische Belastung und ihre Bewältigung ist stets ein ganzheitlicher Prozess. Einzelne Anforderungen und Bedingungen der Arbeit wie auch individuelle Voraussetzungen sind nicht gleichwertig, wirken unter unterschiedlichen Bedingungen und Zeiten verschieden. Es ist nicht alles überall und zu gleicher Zeit in gleicher Art und Weise realisierbar. Das erfordert eine Akzeptanz der Realität.
  • Zum anderen geht es nicht um eine univariate Betrachtungsweise von einzelnen psychischen Belastungsfaktoren zur Risikominimierung oder Gesundheitsförderung. Bereits 1979 beschrieb Karasek die positive Wirkung von hohen Anforderungen bei vorhandener Eigenkontrolle zu ihrer Bewältigung, von Theorell wurde dabei die besondere Rolle der sozialen Unterstützung hinzugefügt (Karasek u. Theorell 1990). Siegrist (1996) bewies die gesundheitliche Gefährdung in der Arbeit bei einem Missverhältnis zwischen Arbeitsaufwand und erlebtem Nutzen/Belohnung für sich. Die Quantität von Arbeit allein bestimmt meist nicht die Folgen.
  • Die Qualität des Umgangs mit psychischer Belastung zur Vermeidung psychischer Fehlbelastungen wird geprägt durch Einstellungen, Wissen und Fähigkeiten der Beteiligten. Psychische Prozesse bestimmen unser Menschsein. Deshalb sind diese Inhalte in alle Qualifizierungs-, Weiter- und Fortbildungsprozesse (lebenslang) aufzunehmen. Verpflichtend sollte dies für Führungskräfte aufgrund ihrer hohen Verantwortung und ihrer umfangreichen Möglichkeiten zur Beeinflussung dieser Prozesse festgelegt werden.
  • Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt ist in der praktischen Umsetzung und der wissenschaftlichen Bearbeitung nicht nur Gegenstand der Arbeitswissenschaft. Eine Trennung entsprechender Aktivitäten von den gesetzlich festgelegten Aufgabenstellungen, Strukturen, Akteuren des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Arbeitsfeld führt jedoch zur Uneffektivität und reduzierten Wirksamkeit.
  • Erfolg in gemeinsamer Verantwortung hat man nur, wenn man sich verstehen kann. Deshalb ist eine Grundvoraussetzung für das zukünftige Handeln und die Leitkultur ein einheitliches Verständnis von Grundbezeichnungen und grundlegenden Theorien in diesem differenzierten Prozess. Darauf sollte ein Schwerpunkt in der jetzt anstehenden Diskussion gelegt werden. Psychische Belastung steht z.B. nicht nur mit dem Begriff Stress in Beziehung, sondern auch mit Ermüdung, Monotonie und Sättigung, die vollkommen unterschiedliche Entstehungsmechanismen und Bewältigungsstrategien aufweisen.
  • Nicht jede Störung des psychischen Wohlbefindens hat Krankheitscharakter und ist behandlungsbedürftig. Viele Studien und Befragungen orientieren sich an Befindlichkeiten und Beschwerden, d.h. subjektiven Kriterien. Unterschiedliche Befindlichkeiten sind menschentypisch und notwendig. Eine Kausalattribuierung einer psychischen Störung zur Arbeit kann manchmal Alibi, Aufgabe der Eigenverantwortung und Eigenaktivität bzw. Verhinderung einer effektiven Therapie sein. Kompliziert kann es im Einzelfall werden, da der Mensch nicht in einen Arbeits- und Freizeitmenschen teilbar ist – die Wechselbeziehungen sind vielfältig, positiv, negativ oder neutral. Wir brauchen nicht mehr Akteure, die Risiken beschreiben, sondern solche, die in konkreten Problemfällen helfen, denn diese können eine erhebliche Belastung für die noch arbeitenden Kolleginnen/Kollegen sein – ein Thema, das bisher zu wenig angesprochen wird.
  • Die Medizin, das ärztliche Handeln sind bei dieser Thematik zunehmend gefordert. Deshalb müssen u.a. das Thema selbst sowie Wissen und Fähigkeiten zum Umgang mit dieser Thematik in alle Bereiche der Medizin getragen werden, besonders in die behandelnden Disziplinen Psychiatrie, klinische Psychologie, Orthopädie, Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Rehabilitationsmedizin etc. Dabei muss auch die Zusammenarbeit mit der Arbeitsmedizin, der ärztlichen Kompetenz vor Ort in der Arbeit, in einem integrativen Gesamtsystem entwickelt werden. Davon ist die aktuelle Lebenswelt noch weit entfernt. Die Einheit von psychischer und physischer Gesundheit und deren Störung muss methodologisches und methodisches Grundprinzip der Medizin, der Gesundheits- und Sozialwissenschaften sein. Die Arbeit darf für diese Akteure weder zum alles erklärenden Sündenbock werden, noch ein Tabufeld bleiben.

Die Arbeit kann Ursache gesundheitlicher Beeinträchtigungen einschließlich Störung psychischer Gesundheit oder auch Feld und Methode der primären, sekundären und tertiären Prävention sowie Therapiemethode gesundheitlicher Beeinträchtigungen sein.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

DIN EN ISO 10075-1: 2018-01: Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung – Teil 1: Allgemeine Aspekte und Konzepte und Begriffe. Berlin: Beuth.

Karasek RA: Job demands, job decision latitude, and mental strain: implications for job redesign. Administrative Science Quarterly 1979; 24: 285–308.

Karasek RA, Theorell T: Healthy work: Stress, productivity and the reconstruction of working life. New York: Basic Books, 1990.

Rothe I: Ressourcen und Stressoren in der Arbeitswelt. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 809–812.

Scheuch K, Schröder H: Mensch unter Belastung. Streß als humanwissenschaftliches Integrationskonzept. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1990.

Scheuch K: Arbeit 4.0 – Arbeitsmedizinische Ethik auf dem Prüfstand? ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 183–185.

Siegrist J: Adverse health effects of high-effort/low-reward conditions. J Occup Health Psychol 1996; 1: 27–41.

Verfasser

Prof. Dr. med. Klaus Scheuch

Zentrum Arbeit und Gesundheit Sachsen GmbH /

Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, Technische Universität Dresden

Löscher Str. 18

01309 Dresden

klaus.scheuch@mailbox.tu-dresden.de

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53 (Sonderheft): 57–59

Fußnoten

Zentrum Arbeit und Gesundheit Sachsen GmbH / Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Technischen Universität Dresden