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Vorstellung von neuen Versorgungsstrukturen zur psychischen Gesundheit von Mitarbeitern im Betrieb

Sprechstunde “Psychische Gesundheit“ im Betrieb

Entstehung und Hintergrund

Über das „Harburger Bündnis gegen Depression e.V.“ entstanden 2004 erstmals direkte Kontakte zwischen den Betriebsärzten im Hamburger Süden und der Harburger Klinik. Betriebsärzte großer Unternehmen berichteten, dass sie zunehmend von Mitarbeitern mit psychischen Symptomen und Störungen konsultiert werden. Gleichzeitig berichteten Patienten im ambulanten und teilstationären Bereich der Klinik verstärkt über arbeitsplatzbezogene Beanspruchungen und Belastungen. In der Folge entwickelten sich regelmäßige Kontakte zwischen Betriebsärzten und Klinik; Vorträge zu Burnout, Depression, Früherkennung und Wiedereingliederung in den Unternehmen folgten.

Mit einem Großbetrieb wurde ein Infoflyer entwickelt und die Verbindung zwischen psychiatrischer Institutsambulanz und den betrieblichen Akteuren vertiefte sich. Aus diesen informellen und Vertrauen aufbauenden Kontakten entstand schließlich im Jahr 2008 die erste Sprechstunde zur psychischen Gesundheit im Betrieb, die von einem Oberarzt der Institutsambulanz direkt im Unternehmen 14-tägig an einem Nachmittag angeboten wurde.

Etablierung im Betrieb

Die unbedingte Einhaltung der Schweigepflicht zwischen Psychiater und Betriebsarzt mit expliziter Schweigepflichtentbindung war zu Beginn der Sprechstunde genauso bedeutend wie die Auswahl des Ortes der Sprechstunde auf dem Betriebsgelände. Damit nicht erkenntlich wird, welcher Mitarbeiter die Sprechstunde besucht, erfolgte die Sprechstunde im Gesundheitszentrum des Unternehmens mit üblichem hohem Publikumsverkehr. Ein anderes Unternehmen nutzte für die Sprechstunde dagegen die Räume der psychiatrischen Institutsambulanz außerhalb des Betriebs. Die Zuweisung zur Sprechstunde erfolgte immer über einen Erstkontakt durch den Betriebsarzt oder betrieblichen Sozialarbeiter. Schon nach kurzer Zeit etablierte sich die Sprechstunde so erfolgreich, dass sie einmal pro Woche angeboten wurde. Nach ersten Erfahrungen wurde die Sprechstunde auf fünf Termine begrenzt, die vom Unternehmen finanziert wurden. Die ersten ein bis zwei Gesprächskontakte dienten der Einordnung des Problemfeldes und der diagnostischen Abklärung, in den Folgeterminen wurde die Problematik/Symptomatik bearbeitet.

Die Sprechstundentermine werden in der Regel durch das Sekretariat der Betriebsärzte geregelt, die Dokumentation wird in einem verschlossenen, nur dem Psychiater zugänglichen Schrank aufbewahrt.

Akzeptanz bei den Beschäftigten

Von Beginn an war bemerkenswert, dass Männer die Sprechstunde im Betrieb sehr gut nutzen konnten und dass gerade erschöpfte Mitarbeiter wenig über die Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung im Unternehmen und betriebliche Unterstützungsmöglichkeiten informiert waren. Aus diesem Grund empfiehlt sich bei der Einrichtung einer Sprechstunde zur psychischen Gesundheit im Betrieb die enge Verzahnung mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagementr (BGM) und die fortwährende Begleitung durch betriebliche Informationsveranstaltungen und Workshops zu Themen der psychosomatischen Gesundheit.

Bei der Auftaktveranstaltung zur Etablierung der Sprechstunde sollte die Führung des Unternehmens anwesend sein. Nur wenn erkennbar ist, dass auch die Unternehmensführung hinter dem Thema steht und den Führungskräften vermittelt werden kann, dass auch sie selbst oft Burnout-gefährdet sind, kommt es zu einer innerbetrieblichen Akzeptanz.

Früherkennung und Frühintervention als Ziele

Die Ziele der Sprechstunde sollten klar formuliert sein: Früherkennung und frühzeitige Bearbeitung psychosozialer Probleme und Symptome nach dem biopsychosozialen Modell und – falls erforderlich – die nahtlose Überführung in das Versorgungssystem. Mit der Zeit spielt auch die Begleitung des RTW-Prozesses (betriebliche Eingliederung nach Krankheit) eine wichtige Rolle („stay and return to work“).

Für die Akzeptanz der Sprechstunde durch die Unternehmensführung der beteiligten Betriebe waren die Auswertungen von Bedeutung, die belegen, dass es sich um Früherkennung und Frühintervention von psychischen Beschwerden aufgrund von Mehrfachbelastungen handelte, die zu 40–50 % auf Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz, zu 30–40 % auf Belastungen und Beanspruchungen im privaten Umfeld und überraschenderweise zu 20 % auf eine gleichzeitig bestehende körperliche Erkrankung zurückzuführen waren. Arbeit wurde von allen beteiligten Akteuren im Betrieb und im Versorgungssystem in ihrer doppelten Bedeutung gesehen, einerseits als Struktur gebend, motivierend und den Selbstwert sowie die eigenen Lebensziele fördernd, andererseits aber auch als belastend und beanspruchend.

Psychiater und Psychotherapeuten der Institutsambulanz waren über ihre Erfahrung im Betrieb überrascht, dass Arbeitsfähigkeit und Symptomatik oft nicht korrelieren und gerade depressiv erkrankte Mitarbeiter – wenn die betriebliche Begleitung als unterstützend erlebt wird – in der Arbeit gehalten werden können. So zeigt sich, dass bei rezidivierenden Depressionen durchaus eine gestufte (Wieder-)Eingliederung am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit von Vorteil sein kann, damit der Kontakt mit den Kollegen und die Halt gebende Arbeitsstruktur bestehen bleiben. Andererseits müssen schwerst erschöpfte Mitarbeiter zu Arbeitsunfähigkeit und Behandlung bewegt werden.

Konsequenzen für das betriebliche Gesundheitsmanagement und das Versorgungssystem

Eine Sprechstunde psychische Gesundheit im Betrieb an der Schnittfläche zwischen betrieblichem Gesundheitsmanagement und psychiatrisch/psychosomatischer Versorgung hat auch erhebliche Konsequenzen für das Versorgungssystem. Die Bedeutung von Arbeit und die Erhaltung/Wiedererlangung von Arbeitsfähigkeit sollten für die Therapeuten Behandlungsziel sein. Auch wenn die meisten Patienten in psychiatrischen Kliniken ihre Arbeitssituation als einen Mitauslöser für ihre Problematik sehen ( Mernyi et al. 2018), kann sich diese Kausalitätszuschreibung im Lauf einer Behandlung ändern, wenn auch der eigene Anteil an der Problematik deutlicher wird. Dies soll nicht gleichbedeutend mit einem „Freispruch der Arbeit“ sein, soll aber deutlich machen, wie es zu malfunktionalen Verwicklungen zwischen Arbeitsanspruch, persönlichem Anspruch und der Arbeitswirklichkeit kommt. Die Sprechstunde setzt voraus, dass Therapeuten über die Arbeitswelt, die Möglichkeiten der betrieblichen Gesundheitsförderung und den RTW-Prozess informiert sind. Hier haben sich im Rahmen der Sprechstunde wechselseitige Besuche zwischen betrieblichen Akteuren und Mitarbeitern des Versorgungssystems bewährt. Die Sprechstunde bewirkt auch eine Veränderung der klinischen Therapie; zu Beginn jeder Behandlung sollte eine ausführliche Arbeitsanamnese stehen, und spätestens ab Mitte der projektierten Behandlungszeit sollte die Vorbereitung des RTW-Prozesses in den Fokus rücken. Gerade der Kontakt mit den betrieblichen Akteuren vor der geplanten Entlassung aus einer teilstationären oder stationären Behandlung ist eine der Voraussetzungen für einen gelingenden RTW-Prozess. Die Sprechstunde im Betrieb kann dann für die Begleitung des Wiedereingliederungsprozesses genutzt werden ( Abb. 1).

Auswertung durch Basisdokumentation

Inzwischen gib es mit 17 kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) sowie mit Großunternehmen Kooperationen in Hamburg, und mit Asklepios Connecting Health wurde ein verbindendes Start-up gegründet. Im Jahr 2017 konnte bei 741 Beschäftigten auf Grundlage einer Basisdokumentation die Sprechstunde abgeschlossen und dokumentiert werden. Im Durchschnitt wurden 2,69 Sprechstunden in Anspruch genommen. Die Altersgruppe der 40-bis 49-jährigen Mitarbeiter besuchte die Sprechstunde am häufigsten. 88 Sprechstundennutzer (11,9 %) wurden direkt in das Versorgungssystem weitervermittelt, vorrangig in ambulante Therapien. 93 Nutzer (12,6 %) erhielten nach Abschluss der Beratung eine Weiterempfehlung in das ambulante Versorgungssystem. In 38 % der Fälle hatte der Betriebsarzt den Mitarbeiter auf die Sprechstunde hingewiesen, in 27 % die Sozialberatung und in 23 % betriebliche Gesundheitsberater.

Als Beratungsanlass wurden bei den arbeitsbezogenen Gründen vor allem die Arbeitsmenge, erhöhte Arbeitszeiten, schlechte Beziehungen zu Arbeitskollegen sowie mangelnde Kommunikation, Partizipation und Wertschätzung durch die Führungskräfte genannt. Im Privatbereich standen vor allem Paarkonflikte, Probleme in der Kindererziehung und die Erkrankung von Angehörigen im Vordergrund. Die betriebsärztliche Frage, ob die Zielgruppe mit der Sprechstunde erreicht wird, kann positiv beantwortet werden. Die Einschätzung des globalen Funktionsniveaus auf der GAF-Skala ( Abb. 2) ergab bei den meisten Nutzern einen Hinweis auf eine leichte bis mäßige Einschränkung der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit. Bemerkenswert ist, dass sich in den ersten ein bis zwei Jahren nach Einrichtung einer Sprechstunde zunächst Mitarbeiter mit längerer Vorgeschichte vorstellen. Im Rahmen der zunehmenden Akzeptanz der Sprechstunde wird die Dauer der Beschwerden, die zur Vorstellung führen, immer kürzer. Von den 741 Sprechstundennutzern im Jahr 2017 lag die Dauer der Beschwerden/Symptome bei 50 % unter einem Jahr, bei der anderen Hälfte über einem Jahr.

Fazit

Die Implementierung einer Sprechstunde für psychische Gesundheit ist Teil eines Kulturwandels, der sowohl das betriebliche Gesundheitsmanagement als auch das psychiatrisch/psychosomatische Versorgungssystem betrifft (Unger 2013). Die Sprechstunde verknüpft idealerweise die Bereiche Prävention, Früherkennung, Behandlung/Rehabilitation und betriebliche (Wieder-)Eingliederung in einem die Sektoren des Gesundheitssystems übergreifenden Prozess (BAuA 2017).

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

BAuA: Empfehlung (8): Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention enger verknüpfen, aus: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt: wissenschaftliche Standortbestimmung. Berlin: BAuA, 2017.

GAF-Skala: Global Assessment of Functioning Scale. In: Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen des diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen DSM-III. Weinheim, Basel: Beltz, 1989.

Mernyi L, Hölzle P, Hamann J: Berufstätigkeit und Rückkehr an den Arbeitsplatz bei stationär-psychiatrischen behandelt Patienten. Psychiatr Prax 2018; 45: 197–205.

Unger HP: Die Zusammenarbeit von Betriebsarzt und Psychiater bei Früherkennung und Wiedereingliederung. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2013, 48: 4–5.

    autor

    Dr. med. Hans-Peter Unger

    Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie

    Zentrum für seelische Gesundheit

    Asklepios Klinikum Harburg

    Eißendorfer Pferdeweg 52

    21075 Hamburg

    h.unger@asklepios.com

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