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Interdisziplinäre Versorgung psychisch erkrankter Arbeitnehmer

Problemstellung

Betroffene von psychischen Störungen finden sich im Vergleich zu körperlich Erkrankten aufgrund der unübersichtlichen Versorgungssituation häufig schlechter im Gesundheitssystem zurecht. Oftmals wenden sie sich zunächst an ihren Hausarzt oder einen anderen Arzt ihres Vertrauens. Jedoch werden psychische Störungen selten bzw. sehr spät erkannt. Zudem verhindern die Wartezeiten bei niedergelassenen Psychotherapeuten von durchschnittlich 6 Monaten (BPtK 2011, s. „Weitere Infos“) eine zeitnahe Behandlung. Dies hat sich auch nach der gesetzlichen Reform 2017 nicht geändert. Häufig mangelt es zudem an einer engen und effizienten interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Betrieben, Krankenkassen und Psychotherapeuten, was in vielen Fällen eine Chronifizierung zur Folge hat, die zu wiederkehrenden, zeitweise lang andauernden Arbeitsunfähigkeitstagen führen kann (BPtK 2015, s. „Weitere Infos“).

Um eine effiziente interdisziplinäre Kooperation zu gewährleisten, eine frühzeitige Diagnose von psychischen Erkrankungen zu ermöglichen und lange Wartezeiten zu verhindern, wird das nachfolgend beschriebene Projekt gemeinsam von universitären Psychotherapieambulanzen, Betriebskrankenkassen (BKKen) und Betrieben der Salzgitter AG durchgeführt.

Ablauf

Mitarbeiter der angeschlossenen Betriebe, die psychisch belastet sind, können sich über ihren Arbeitsmediziner anmelden oder direkt an die zuständigen BKKen wenden. Bei Verdacht auf eine psychische Störung, z.B. aufgrund hoher Fehlzeiten oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, können auch Arbeitsmediziner den Betroffenen die Teilnahme am Projekt vorschlagen. Die Teilnahme ist in jedem Fall freiwillig. Fallmanager der BKKen sorgen für die notwenige wiederkehrende Ansprache der Betroffenen und den Austausch der Informationen (z.B. Klinik- und Arztberichte), sofern der Mitarbeiter dem zugestimmt hat. Für das patientenorientierte Fallmanagement ist eine gesicherte Internetplattform zum Datenaustausch empfehlenswert.

Mitarbeiter, die an dem Projekt teilnehmen, erhalten zunächst eine so genannte Diagnostische Beratung, das eigentliche „Herzstück“ des Projekts. Stellt sich bei der Diagnostischen Beratung heraus, dass eine Psychotherapie indiziert ist, wird diese innerhalb von 15 Werktagen und ohne Gutachterverfahren in der Psychotherapieambulanz begonnen. Zunächst wird eine Kurzzeittherapie mit einem Umfang von 25 Sitzungen in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie veranschlagt. Ist eine Verlängerung nötig, kann diese durch einen Bericht über den bisherigen Verlauf und eine Begründung der Fortsetzung in eine Langzeittherapie umgewandelt werden.

Falls hingegen vor einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung eine stationäre Behandlung nötig erscheint, z.B. bei psychopharmakologischer Behandlung und internistisch zu behandelnden Erkrankungen, kann dies durch die Fallmanager im Rahmen der Zusammenarbeit mit entsprechenden Kliniken veranlasst werden. Inzwischen gilt die Diagnostische Beratung auch als hinreichende Voraussetzung für eine stationäre psychosomatische Rehabilitation, die von der Rentenversicherung Braunschweig-Hannover finanziert wird. Nach Abschluss der stationären Behandlungen können die Patienten innerhalb weniger Werktage die ambulante Therapie in den Psychotherapieambulanzen antreten.

Voraussetzungen: Fallmanagement, Datenschutz und institutionsübergreifende Vernetzung

Eine enge patientenorientierte Fallführung wird durch feste Ansprechpartner der kooperierenden Einrichtungen mit klaren Funktionen und Zuständigkeiten gewährleistet. Dadurch werden die Versicherten zeitnah einbestellt sowie wesentliche Informationen (u.a. zum Arbeitsplatz und Arbeitsverhalten) und medizinische Befunde (z.B. von Klinikaufenthalten) bereits vor der Diagnostischen Beratung übermittelt. Geschulte Fallmanager der BKKen übernehmen die Aufgabe, die Betroffenen umfassend zu betreuen, zu beraten und die zeitnahe Kontaktaufnahme zur Psychotherapieambulanz sowie den Austausch mit der Arbeitsmedizin in die Wege zu leiten.

Juristische Voraussetzungen zur Kontaktaufnahme und zum Informationsaustausch zwischen den Arbeitsmedizinern, den Mitarbeitern der Krankenkasse und der Psychotherapieambulanz sind spezifisch ausgearbeitete Schweigepflichtentbindungen. Der Mitarbeiter entscheidet, wer ausführliche Informationen über die Diagnostische Beratung erhält.

Mit dem Einverständnis des Patienten werden die erarbeiteten Empfehlungen schriftlich an die Fallmanager übermittelt. Die Empfehlungen können im Einzelfall weitere medizinische bzw. neuropsychologische Maßnahmen umfassen oder betriebliche Maßnahmen (z.B. Job-Coaching) und andere Heilmittel (u.a. Physiotherapie, Ernährungsberatung) betreffen. Der überweisende Arbeitsmediziner oder andere Personen, für die der Mitarbeiter eine Schweigepflichtentbindung gegeben hat, z.B. der Hausarzt, erhalten einen ausführlichen medizinischen Bericht. Die überwiegende Anzahl der Mitarbeiter hat sich in der Vergangenheit für die Übermittlung dieses Berichts an den Arbeitsmediziner entschieden.

Das Herzstück: die Diagnostische Beratung

Durch die Fallmanager werden alle relevanten medizinischen Befunde vor der Diagnostischen Beratung unter strikter Einhaltung des Datenschutzes an den Therapeuten übermittelt. Die Arbeitsmediziner stellen – sofern notwendig – Informationen zum Arbeitsplatz und dem Umfeld zur Verfügung. So kann während der Diagnostischen Beratung bereits auf der Basis der Vorbefunde und der durchgeführten Diagnostik gemeinsam mit dem Betroffenen erarbeitet werden, ob eine psychische Störung vorliegt und welche Bedingungen zur Aufrechterhaltung beitragen.

Die Diagnostische Beratung findet in der universitären Psychotherapieambulanz statt. Damit ist die Anonymität gewährleistet. Die Beratung umfasst in der Regel zwei Sitzungen. Am ersten Termin erfolgt eine Anamnese der aktuellen Beschwerden, inkl. Eigengefährdung und Suchtanamnese, und der Situation am Arbeitsplatz sowie eine ausführliche Erhebung des psychischen Befunds. Zudem werden standardisierte Selbstbeurteilungsinstrumente in computerisierter Form durchgeführt. Dabei werden Fragen zur allgemeinen Symptombelastung, Depressivität und Lebenszufriedenheit sowie Selbstwirksamkeit am Arbeitsplatz, Arbeitszufriedenheit und Gratifikation gestellt.

Während des zweiten Termins werden dem Patienten die Ergebnisse ausführlich dargelegt, eine psychoedukative Beratung wird durchgeführt und ggf. werden weitere Maßnahmen (z.B. Physiotherapie, Zielgespräch mit dem Vorgesetzten, Schuldnerberatung) empfohlen. Dabei werden bereits während der Diagnostischen Beratung erste Schritte eingeleitet (z.B. Erarbeitung von Regeln zur Schlafhygiene, Aufbau angenehmer Aktivitäten, Anleitung von Entspannungsverfahren).

Das seit nunmehr zehn Jahren bestehende Projekt wurde von den knapp 400 Mitarbeitern gut akzeptiert und in Anspruch genommen. Besonders hervorzuheben ist, dass es sich um überwiegend männliche Teilnehmer (70%) handelt, die in der Montanindustrie beschäftigt sind und daher nicht zu der üblichen Klientel einer psychotherapeutischen Praxis gehören. Die Verteilung der Diagnosen der in das Projekt eingeschlossenen Beschäftigten entsprechen den Erwartungen (vgl. Bode et al. 2016 für die Auswertung einer Teilstichprobe): Bei der Hälfte der Diagnosen handelte es sich um affektive Störungen, bei einem knappen Drittel um neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen. Bei 63% der Diagnosen aus der Diagnostischen Beratung war eine Übereinstimmung mit Diagnosen feststellbar, die in den sechs Monaten zuvor durch Behandler der Regelversorgung vergeben wurden. 42% der Arbeitnehmer erhielten eine medikamentöse Therapie; mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmer erhielt jedoch keine leitliniengerechte psychopharmakologische Behandlung. Als Gründe für die Inanspruchnahme nannten Patienten am häufigsten psychische Symptome und berufliche Faktoren. Kein Arbeitnehmer war vor der Diagnostischen Beratung in psychotherapeutischer Behandlung; das Angebot einer Behandlung nahmen über 90% der Betroffenen in Anspruch.

Arbeitsplatzbezogene Psychotherapie

Psychotherapie ist bei den häufig vorkommenden Angst- und affektiven Störungen eine nachweislich effiziente Behandlungsmöglichkeit (Wunsch et al. 2013). Dabei werden kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen für die oben genannten Störungen für Arbeitnehmer mit hohen Fehlzeiten zur Behandlung empfohlen (NICE 2009, s. „Weitere Infos“). In einer eigenen kontrollierten Studie (Kröger et al. 2015) wurde die arbeitsplatzbezogene kognitive Verhaltenstherapie (A-KVT) mit der herkömmlichen KVT bei unipolarer Depression verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Fehlzeiten nach der Behandlung in beiden Bedingungen signifikant reduziert wurden, wobei eine stärkere Abnahme der Fehltage in der A-KVT-Bedingung stattfand. Auch nach einem Jahr waren mehr Arbeitnehmer aus der A-KVT-Bedingung arbeitsfähiger als aus der KVT-Bedingung. Eine signifikante Reduktion der Symptomatik konnte in beiden Bedingungen gleichermaßen erzielt werden.

Während der Therapie wird die betriebliche Wiedereingliederung regelmäßig thematisiert bzw. vorbereitet. So werden beispielsweise gemeinsam mit dem Patienten Pläne für eine schrittweise Arbeitswiederaufnahme erarbeitet, in denen Art und Dauer der erforderlichen Tätigkeiten festgehalten werden. Strategien zur erfolgreichen Bewältigung des Arbeitsbeginns werden erarbeitet oder mögliche Hindernisse (z.B. mithilfe von Rollenspielen und in Kooperation mit den Arbeitsmedizinern) ausgeräumt. Falls notwendig, werden Kontakte zum betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement hergestellt. In Absprache mit den Arbeitsmedizinern können Interventionen auch direkt am Arbeitsplatz durchgeführt werden, z.B. zur Optimierung der Arbeitsorganisation oder in Form von Expositionen in vivo bei Angststörungen. Eine ausführliche Beschreibung ist dem adaptierten und erweiterten Manual zu entnehmen (Bode et al. 2017).

Schlussfolgerung

Auf Seiten der psychotherapeutischen Behandler bedarf es spezifischer, außerfachlicher und arbeitsplatzbezogener Kenntnisse (u.a. Betriebsvereinbarungen, Arbeitsplatzbeschreibung, Gefährdungsbeurteilung), wohingegen die arbeitsmedizinischen Behandler ein aktuelles Verständnis von psychischen Störungen haben und in motivationaler Gesprächsführung geschult sein sollten. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Versorgung psychisch erkrankter Arbeitnehmer wird durch einen strukturierten Informationsfluss und personell unterstützte Maßnahmen des Qualitätsmanagements gewährleistet. Damit kann die Versorgung von Arbeitnehmern mit psychischen Störungen beschleunigt und hinsichtlich Effektivität und Effizienz verbessert werden.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Bode K, Maurer F, Kröger C: Arbeitswelt und psychische Störungen. Fortschritte der Psychotherapie 66. Göttingen: Hogrefe, 2017.

Bode K, Wunsch E-M, Finger F, Kröger C: Interdisziplinäre Versorgung von Arbeitnehmern mit psychischen Störungen: ein Faktencheck am Beispiel des Salzgitter-Modells. Psychother Psychosom Med Psych 2016; 66: 235–241.

Kröger C, Bode K, Wunsch E-M, Kliem S, Grocholewski A & Finger F: Work-related treatment for major depressive disorder and incapacity to work: Preliminary findings of a controlled, matched study. J Occ Health Psych 2015; 20: 248–258.

Wunsch E-M, Kliem S, Grocholewski A, Kröger C: Wie teuer wird es wirklich? Kosten-Nutzen-Analyse für Psychotherapie bei Angst- und affektiven Störungen in Deutschland. Psych Rundschau 2013; 64: 75–93.

    Weitere Infos

    Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung: Umfrage der Landespsychotherapeutenkammern und der BPtK. 2011

    https://www.bptk.de/uploads/media/110622_BPtK-Studie_Langfassung_Wartezeiten-in-der-Psychotherapie_02.pdf

    Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). BPtK-Studie zur Arbeitsunfähigkeit – Psychische Erkrankungen und Krankengeldmanagement. 2015

    https://www.bptk.de/uploads/media/20150305_bptk_au-studie_2015_psychische-erkrankungen_und_krankengeldmanagement.pdf

    National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE): Managing long-term sickness absence and incapacity for work. 2009

    www.nice.org.uk/PH19

    Für die Autoren

    Univ.-Prof. Dr. phil. Christoph Kröger

    Universität Hildesheim

    Institut für Psychologie

    Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie

    Universitätsplatz 1

    31141 Hildesheim

    Christoph.Kroeger@uni-hildesheim.de

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