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Robotik: Sichere Arbeit für Menschen mit schwerer Behinderung

Teilhabe durch Robotik

Die Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) wird als wichtiger Stellhebel für die skalierbare Montageautomation sowie als Baustein der Industrie 4.0 gesehen (VDI 2018, s. „Weitere Infos“; BMWi 2013). Dabei führt die immer engere Kooperation zwischen Robotik und Mensch zu neuen Gestaltungsfragen der Arbeitsteilung (Gombolay et al. 2014; Adams 2009; Koppenborg et al. 2013; Bubeck et al. 2014). Ein Schwerpunkt der Forschung zu Assistenz- und Robotiksystemen liegt im Bereich der Unterstützung von älteren und kranken Personen im Alltag und in medizinischen Einsatzfeldern. Die Mensch-Roboter-Kollaboration bietet jedoch auch im Anwendungsfeld der Produktion das Potenzial, leistungsgewandelte Mitarbeiter zu integrieren (Prasch 2010). Ziel des Forschungsprojekts AQUIAS ist daher, Lösungen für die Arbeitsteilung zwischen behinderten sowie nicht behinderten Produktionsmitarbeitern und dem Robotik-System APAS zu entwickeln, um die Arbeitsqualität und gesunde Arbeitsbedingungen fördern.

Die Behinderungen und die damit einhergehenden physischen und psychischen Einschränkungen von schwerbehinderten Mitarbeitern sind sehr individuell. Zu Beginn des Projekts wurden deshalb die Behinderungsarten, die in der Belegschaft der Inklusionsfirma ISAK vorliegen, sowie die jeweiligen Ausschlusskriterien für die Zusammenarbeit mit dem Roboter bestimmt ( Tabelle 1). Im Projekt wurde mit individuellen Gefährdungsbeurteilungen für jeden einzelnen Mitarbeiter ermittelt, ob die jeweiligen Fähigkeiten und Einschränkungen in der Interaktion mit den Anforderungen des Mensch-Robotik-Arbeitsplatzes ein Sicherheitsrisiko darstellen. Im Vergleich der Anforderungen des manuellen Ausgangsarbeitsplatzes mit denen des Mensch-Robotik-Arbeitsplatzes zeigt sich u.a. eine deutliche Reduzierung der Armbewegungen, aber auch eine Zunahme der Anforderungen an Teamarbeit, Kontaktfähigkeit und Verantwortung ( Abb. 1).

Der Roboter kommt dem Mitarbeiter entgegen

Der Mensch-Robotik-Arbeitsplatz, den das interdisziplinäre Projektteam aus einer Reihe von Entwürfen für die Umsetzung auswählte, wird in der Inklusionsfirma ISAK gGmbH in Sachsenheim implementiert ( Abb. 2). Er basiert auf dem Roboter APAS und zwei parallelen Arbeitstischen, die unabhängig voneinander höhenverstellbar sind. An diesem Arbeitsplatz kommt der Roboter dem Mitarbeiter auf zweifache Art und Weise entgegen: Zum einen vertikal, denn der Mitarbeiter kann die Höhe des Arbeitstisches jederzeit – auch mitten im Betrieb – nach seinen Bedürfnissen verändern. Ein laserbasiertes Messsystem sorgt dafür, dass der Greifarm sich jederzeit an die aktuelle Tischhöhe anpasst. Zum anderen vereinfacht der Roboter dem Mitarbeiter auch horizontal die Arbeit, denn er holt den Werkstückträger von der Übergabeposition am Rand des Tisches ab, zieht ihn zu sich und schiebt ihn nach automatischer Bearbeitung zum Mitarbeiter zurück. Dadurch können behinderungsbedingte Einschränkungen der manuellen Reichweite, wie sie bei Schwerbehinderten oft auftreten, teilweise ausgeglichen werden.

Am manuellen Ausgangsarbeitsplatz fügen die Mitarbeiter zwei Düsenelemente, die im Sanitärbereich zum Einsatz kommen, mit Hilfe einer Handhebelpresse manuell zusammen. Der MRK-Arbeitsplatz erlaubt den maximal zwei am Arbeitsplatz arbeitenden Mitarbeitern, einen Werkstückträger mit den Düsenteilen im zentralen Greiffeld zu bestücken. Der fertig besetzte Werkstückträger wird anschließend vom Mitarbeiter auf die Übergabeposition für den Roboter geschoben. Über einen Sensor aktiviert, zieht der Greifarm den Werkstückträger von der Übergabeposition vor den Roboter, wo der Greifarm die Düsenteile auf dem fixierten Werkstückträger mittels eines Metallstifts zusammenfügt. Nach Abschluss des Fügens schiebt der Greifarm den Werkstückträger zurück zum Mitarbeiter, der die gefügten Düsen entnimmt und die Maßhaltigkeitsprüfung manuell durchführt. Neben dem persönlichen Einlernen unterstützt ein speziell entwickeltes Lernsystem die Mitarbeiter ( Abb. 3).

Sicherheitssystem des Roboters

Bei dem verwendeten Roboter APAS assistant sorgen gleich mehrere Faktoren dafür, dass die Interaktion zwischen Mensch und Roboter sicher abläuft: Der Roboter greift und platziert Objekte dank integrierter Kamera mit hoher Präzision. Der sensitive Greifer verfügt zudem über einen Klemmschutz. Bei einer Kollision federn die Greiferfinger ein und schützen den Menschen vor möglichen Verletzungen. Vor allem aber ist der Roboterarm von einer hochsensiblen Sensorhaut umschlossen, durch die der Roboter seine menschlichen Kollegen automatisch erkennt, sobald sie ihm zu nahe kommen. Noch bevor es zu einer Kollision kommt, stoppt der Greifarm des Roboters – und zwar völlig berührungslos ( Abb. 4).

Erst wenn der Mensch den Nahbereich des Roboters wieder verlassen hat, nimmt der Roboter seine Arbeit selbstständig an der gleichen Stelle wieder auf, wo er sie zuvor unterbrochen hatte. Möglich macht dies ein in die Sensorhaut integriertes Netz aus kapazitiven Sensoren. Es sorgt bei einer sicheren Bahngeschwindigkeit von 0,5 m/s für den automatischen und berührungslosen Stopp bei einem sicheren Schaltabstand von typisch 50 mm. Dies ermöglicht eine sichere Erkennung der Mitarbeiter bei Performance Level d (Kategorie 3, zweikanalige Sicherheit). Der automatische Produktionsassistent wurde speziell für die direkte Kollaboration mit Menschen entwickelt und als erstes Robotersystem von der deutschen Berufsgenossenschaft für die Zusammenarbeit mit Menschen ohne zusätzliche Schutzvorrichtungen zertifiziert.

Aufgaben der Mitarbeiter bleiben erhalten

Der finale Entwurf des MRK-Arbeitsplatzes wurde für die Umsetzung im Pilot der Firma ISAK ausgewählt, da er neben der ergonomischen Anpassung weitere Vorteile bietet (s. Infokasten). Die Zuführung und die sonstigen Aufbauten wurden bewusst auf ein Minimum reduziert, um Kosten und Komplexität möglichst gering zu halten. Anders als bei den vorhergehenden Entwürfen kann der Mitarbeiter hier sein Arbeitsgerät, Materialbehälter und individuelle Arbeitshilfen nach seinen Bedürfnissen räumlich flexibel und zentral in seinem Greifraum anordnen und pro Arbeitsaufgabe (Bestücken, Prüfen) ändern. Weiterhin erlaubt dieser Entwurf, dass auch Mitarbeiter mit nur einem funktionsfähigen Arm diese Tätigkeit in der Düsenmontage ausführen können. Am Ausgangsarbeitsplatz mit der Handhebelpresse war dies dagegen nicht möglich. Insofern trägt der Arbeitsplatz für die Mensch-Roboter-Kollaboration nicht nur zu verbesserter Ergonomie und Arbeitsqualität, sondern auch zur Inklusion weiterer schwerbehinderter Mitarbeiter in die Produktion bei.

Im Fall des realisierten MRK-Arbeitsplatzes wandern ausschließlich die ergonomisch belastenden Aufgaben vom Menschen zum Roboter. Logistik, Bestückung und Qualitätskontrolle verbleiben vollständig beim Mitarbeiter. Substitutionseffekte der Arbeit durch Automatisierung werden bei gleichbleibender Produktivität vermieden. Die individuelle Berücksichtigung der Leistungseinschränkungen von Mitarbeitern beim Einsatz an MRK-Arbeitsplätzen verspricht eine verbesserte Integration von leistungsgewandelten und schwerbehinderten Mitarbeitern, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels lohnenswert ist.

Literatur

Adams JA: Multiple robot-single human interaction: effects on perceived workload and performance. Behav Inform Technol 2009; 28: 183–298.

BMWi – Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.): Industrielle Servicerobotik. Technologieprogramm AUTONOMIK, Band 4. Berlin, 2013.

Bubeck A, Maidel B, Lopez FG: Model driven engineering for the implementation of user roles in industrial service robot applications. In: International Conference on System-Integrated Intelligence – Challenges for Product and Production Engineering (SysInt). Bremen, 2014.

Gombolay MC, Gutierrez RA, Sturla GF, Shah JA: Decision-making authority, team efficiency and human worker satisfaction in mixed human-robot teams.Proceedings of the Robots: Science and Systems (RSS), 2014.

Koppenborg M, Lungfiel A, Naber B, Nickel P: Auswirkungen von Autonomie und Geschwindigkeit in der virtuellen Mensch-Roboter-Kollaboration. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (Hrsg.): Chancen durch Arbeits-, Produkt- und Systemgestaltung. Dortmund: GfA-Press, 2013, S. 417–420.

Prasch MG: Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter in die variantenreiche Serienmontage. Dissertation an der Technischen Universität München: Verlag Herbert Utz, 2010.

    Info

    Vorteile des MRK-Arbeitsplatzes für Schwerbehinderte auf einen Blick

    Arbeitsqualität

    • Nur belastende Aufgaben wandern vom Mensch zum Roboter
    • Zusatzaufgaben, Kommunikation

    Ergonomie

    • Dynamische anpassbare Tischhöhe
    • Individuelle Anordnung von Materialkisten und Werkteilen

    Sicherheit

    • Sichere Übergabe Werkstückträger
    • Integrierte Kollisionsvermeidung

    Inklusion

    • MRK-Tätigkeit auch für Mitarbeiter mit Funktionseinschränkung von Hand/Arm möglich
    • Ausgleich verringerter manueller Reichweiten durch Roboter

    Weitere Infos

    Informationen zum Projekt AQUIAS

    www.aquias.de

    Informationen zum eingesetzten Roboter

    www.bosch-apas.com

    Informationen zur Inklusionsfirma ISAK gGmbH

    www.isakggmbh.de

    Verein Deutscher Ingenieure: VDI-Fachkonferenz „Assistenzroboter in der Produktion – Serviceroboter im Industriealltag“, 11.–12.12.2018, Baden-Baden

    https://www.vdi-wissensforum.de/weiterbildung-automation/robotik-in-der-automobilindustrie/

    Koautor

    Mitautor des Beitrags ist Dipl.-Ing. Wolfgang Pomrehn, Robert Bosch Manufacturing Solutions GmbH, Stuttgart

    Für die Autoren

    Dipl.-Psych. David KremerFraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation

    Nobelstr. 12

    70569 Stuttgart

    david.kremer@iao.fraunhofer.de

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