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Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen ist notwendig

In den Jahren 2013 bis 2016 standen im Zusammenhang mit der Versorgung von Flüchtlingen Infektionsschutzmaßnahmen bei Ausbrüchen ansteckender Krankheiten, Zuzugsuntersuchungen, Impfungen, Untersuchungen zum Ausschluss von Tuberkulose und die medizinische Akutversorgung im Vordergrund der Aufgaben des Gesundheitsamtes. Mit dem Übergang in das Regelversorgungssystem spielt die Sicherstellung medizinischer Akutversorgung von Flüchtlingen nur noch dort eine Rolle, wo das reguläre Versorgungssystem für die Deckung der Bedarfe nicht ausreichend ist.

Die Gesundheitsämter vor Ort versorgen alle Personengruppen und sind für den Schutz der Gesamtbevölkerung zuständig. Eine Differenzierung der Menschen nach Status oder Krankenkassenzugehörigkeit, Alter oder Geschlecht gibt es im Öffentlichen Gesundheitsdienst nicht. Gerade auch bei der Ermittlung von Kontaktpersonen bei Infektionskrankheiten oder Unterbringungen ist der Gesundheitsschutz aller in den Vordergrund zu stellen. Trotz der geringer werdenden Zahl hinzukommender Flüchtlinge nehmen die Aufgabenfelder des Öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht ab, sondern es treten neue Herausforderungen in den Vordergrund, die insbesondere im Bereich der psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen liegen.

Was sind die Erfahrungen aus der Praxis?

Die Medien berichten über genau die Dinge, die zu befürchten sind, wenn nicht rechtzeitig zielgerichtete Prävention erfolgt – Prävention von Suchtkrankheiten, psychischen Erkrankungen, Gewaltbereitschaft und Suizidalität. Sie berichten von verletzten, vergewaltigten und getöteten Menschen.

Die sozialpsychiatrischen Dienste sehen traumatisierte geflüchtete Menschen, Menschen mit psychischen oder Suchtkrankheiten, Menschen, die gewaltbereit sind oder suizidal. Zwischenfälle mit gewaltbereiten geflüchteten Personen nehmen in psychiatrischen Kliniken zu. Ordnungsbehördlich sind auch junge geflüchtete Männer zu bestatten, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben.

Ein besonderes Risiko haben vor allem Menschen, die noch nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind oder die traumatisierende Erfahrungen machen mussten. Viele Flüchtlinge waren über einen langen Zeitraum in Notunterkünften untergebracht. Eine Reihe von ihnen lebt noch immer dort. Viele haben keine zeitnahe Aussicht auf eine eigene Wohnung, eine Ausbildung, einen Wiedereinstieg in einen erlernten Beruf oder den Einsatz in einer erworbenen Qualifikation. Viele warten auch darauf, dass Familienangehörige oder Freunde nachkommen. Für viele ist noch unklar, ob sie bleiben dürfen.

Diese Menschen, die nicht primär psychisch krank sind, werden im System der medizinischen Regelversorgung gar nicht gesehen. Dennoch haben sie ein hohes Risiko, zu erkranken oder sind bereits unentdeckt erkrankt. Für viele hat sich inzwischen die Qualität der Unterkunft geändert oder sie ändert sich gerade. Dennoch bleiben Traumatisierungen bestehen und die Perspektive im Hinblick auf entscheidende Lebensfragen ändert sich für die meisten nicht.

Was sind die Folgen, wenn keine Abhilfe geschaffen wird?

Wenn psychischen Erkrankungen oder Suchtkrankheiten nicht gezielt präventiv begegnet wird und wenn Bedrohungssituationen nicht rechtzeitig erkannt werden, sind langfristige medizinische Behandlungskosten zu erwarten und dramatische Schäden für unbeteiligte Menschen nicht auszuschließen.

Wenn Integration fehlschlägt, sind damit erhebliche Kosten für die Gesellschaft verbunden, weil die Chance, eine (qualifizierte) Arbeitskraft und ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu gewinnen, vertan worden ist. Stattdessen fallen Sozialleistungen und Kosten medizinischer Versorgung an.

Mögliche Folgen für die betroffenen Menschen selbst sind auch Retraumatisierungen, die Herausbildung einer vermeidbaren psychischen Erkrankung bei bestehender Vulnerabilität oder die Übertragung auf die Folgegeneration(en). Kinder gesunder Menschen wachsen anders auf als Kinder von Eltern mit einem solchen Schicksal.

Leiden und auch Todesfolgen aufgrund dieser Kausalitäten können aus fachlicher Sicht verhindert werden!

Was wird gebraucht?

Für all diese Menschen sind Ansprechpartner vor Ort wichtig, zu denen Vertrauen entwickelt werden kann, die begleiten, Hilfen vermitteln und im gegebenen Fall dafür sorgen können, dass der Zugang zum regulären Versorgungssystem gefunden wird. Eine psychiatrische Behandlung ist in den wenigsten Fällen erforderlich, ebenso Eingliederungshilfe. Oft besteht auch Furcht vor Stigmatisierung.

Menschen, die aus der Fremde gekommen sind, kennen unsere Strukturen und unsere Örtlichkeiten noch nicht, sehr oft auch nicht unsere Sprache. Sie benötigen Personen, die sie an die Hand nehmen können und zu denen Vertrauen entwickelt werden kann, gleichzeitig aber auch Personen, die beständig vor Ort sind, die Bedrohungen für die psychische Gesundheit erkennen und fachkompetent Hilfen vermitteln können. Eben diese Personen sind in der Lage, Bedrohungen für andere Menschen zu erkennen. Sie können auch in diesem Sinne präventiv agieren.

Ein Bedarf an niedrigschwelligen sozialpädagogischen und psychologischen Angeboten vor Ort sowie an psychiatrischer, psychotherapeutischer und psychologischer Versorgung ist damit gegeben.

Was wird konkret benötigt?

Dringend erforderlich sind:

  • eine kontinuierliche niedrigschwellige Präsenz (vertraute Personen mit fachlicher Qualifikation),
  • psychologische bzw. psychotherapeutische Angebote vor Ort in den Einrichtungen und Wohnstätten, in dieser Hinsicht auch ein Begleitdienst,
  • die qualifizierte Vermittlung von Hilfen,
  • qualifizierte Sozialarbeit, ein entsprechender Personalschlüssel in Einrichtungen,
  • Schulungen, Multiplikatorenschulungen,
  • Peer Groups,
  • fachliche Beratung und Unterstützung.

Grundsätzlich kann weder aus ethischen noch aus humanitären Gründen Menschen, die in Deutschland leben, eine medizinische Versorgung vorenthalten werden. Solange unser Gesundheitssystem in der Regelversorgung alle diese Menschen nicht oder nur unzureichend erfassen kann, besteht ein dringender Handlungsbedarf für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Unabhängig davon ist besonderes Augenmerk auf die Prävention zu richten, um psychische Erkrankungen, Suchtkrankheiten, Gewaltbereitschaft und Suizidalität verhindern, zumindest aber das Risiko hierfür senken zu können.

Das ist nicht nur erforderlich, um geflüchteten Menschen eine bessere Perspektive in unserem Land ermöglichen zu können, sondern auch zur Sicherung der Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung.

Dafür müssen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden und es muss vor allem eine Finanzierung erfolgen. Es kann nicht dem ehrenamtlichen Engagement oder den Finanzspritzen einzelner Kommunen überlassen bleiben, dass humanitäre Sprechstunden und andere Versorgungen daraus finanziert werden.

Gegenwärtig ist der Öffentliche Gesundheitsdienst aufgrund fehlender personeller Ressourcen kaum in der Lage, solche Aufgaben zu erfüllen.

Neben der psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen liegt es in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, sie tatsächlich zu integrieren und ihnen ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu gehören in erster Linie Ausbildung und eine berufliche Perspektive, auch die Versorgung mit eigenem Wohnraum und Möglichkeiten der unmittelbaren Teilhabe an unserer Kultur sowie die Einbindung in das soziale Umfeld.

Literatur

Berg G: Sozialpsychiatrievereinbarung ermöglicht differenzierte Einschätzung und Versorgungsangebote für psyisch kranke minderjährige Flüchtlingen. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 840–841.

Haenel F: Zum Einsatz von Dolmetschern in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Geflüchteten. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 836–838.

Herpertz S: Psychische Gesundheit ungd gelingende Integration – Wie schaffen wir das? ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2016; 51: 832–835.

Interessenkonflikt: Die Autorinnen erklären, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Für die Autorinnen

    Dipl.-Med. Gudrun Widders

    Gesundheitsamt im Bezirksamt Spandau von Berlin

    Carl-Schurz-Straße 2/6

    13597 Berlin

    g.widders@ba-spandau.berlin.de

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