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SCHWERPUNKT

Führen im digitalen Zeitalter?

Insgesamt ist es wenig sinnvoll, eine kulturpessimistische Sicht auf das, was unter der Überschrift „Digitalisierung“ passiert, einzunehmen. Ebenso ist eine unbegrenzte Begeisterung wenig dienlich. Digitalisierung ist quasi wie Wasser – sie umgibt uns. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wir haben nun – um es mit Sascha Lobo zu sagen – „die wunderbare und zugleich lästige Pflicht, die Digitalisierung zu gestalten“ (Lobo 2016).

Für den Begriff „Digitalisierung“ liegt keine allgemeingültige Definition vor, was daran liegt, dass unterschiedliche Aspekte mit ein und demselben Begriff abgebildet werden. Das Gabler Wirtschaftslexikon beschreibt drei zentrale Aspekte, die darunter subsummiert werden: Die digitale Umwandlung von Information und Kommunikation, die digitale Modifikation von Instrumenten und Geräten sowie die „digitale Revolution“. Während im 20. Jahrhundert Informationstechnologien und Automatisierung im Fokus stehen, dominieren im 21. Jahrhundert disruptive Technologien und innovative Geschäftsmodelle (Gabler Wirtschaftslexikon, s. „Weitere Infos“).

Fokus der nachfolgenden Betrachtungen sind bereits deutlich konturierte Facetten der Digitalisierung und deren Auswirkungen wie etwa die Entgrenzung von Zeit und Ort sowie zunehmende Komplexität. Vor uns liegen darüber hinaus Facetten (z. B. Mensch-Roboter-Kollaboration, autonomes Fahren), deren Auswirkungen bislang nur ansatzweise erforscht sind.

Entgrenzung von Freizeit und Arbeitszeit

Beispiel: Stefanie K. ist Führungskraft und Mutter von zwei kleinen Kindern. Sie kann ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten, das hilft den unterschiedlichen Anforderungen als Mutter und Arbeitnehmerin nachzukommen: So kann sie die Kinder am Nachmittag von der Kita abholen und am Abend das, was in ihren Projekten liegen geblieben ist, abschließen. Ihr Job verlangt, dass sie gelegentlich auf Reisen ist. Zwar nur bundesweit, aber alle zwei, drei Wochen auch über Nacht. Herausfordernd sei das schon. Auch findet sie, dass Smartphones und Laptops eine sehr hilfreiche Erfindung seien. So könne sie, wenn sie unterwegs sei, mit den Kindern skypen, ihnen eine gute Nacht wünschen und mitbekommen, was am Tag passiert sei. Sie sei trotz der Entfernung ansprechbar für deren Bedürfnisse. Auch mit den Mitarbeitenden in ihrem Team funktioniere das. Ein Gesicht zu sehen, wenn auch nur über einen Bildschirm, helfe ihr, in einen persönlicheren Kontakt zu treten, etwas mehr vom Gegenüber mitzubekommen.

Dass die Entgrenzung von Freizeit und Arbeitszeit nicht nur Vorteile in sich birgt, ist in vielen Publikationen (z. B. Ducki u. Nguyen 2016; Badura et al. 2016) beschrieben. Das wirkt sich insbesondere auf Frauen aus, die durch die „Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse nach der Geburt von Kindern“ (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2017) insgesamt mehr unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten.

Da, wo es keine klar definierte Arbeitszeit mehr gibt, sind Menschen gefordert, eigene Grenzen zu definieren. Das erfordert ein hohes Maß an Fähigkeit zur Selbstaufmerksamkeit und den Abgleich mit den eigenen Maßstäben (Carver u. Scheier 1981), frühzeitig zu spüren, wann eigene Grenzen tangiert werden. Im zweiten Schritt ist Aufmerksamkeit und Konzentration aufzuwenden, um die wahrgenommene Grenze mit impliziten oder expliziten Erwartungen anderer abzugleichen. So kann es sein, dass dem Bedürfnis nach Erholung und Ruhe eines nach Zugehörigkeit, nach Kontrolle oder nach Anerkennung entgegensteht. Eine in diesem Zusammenhang getroffene Entscheidung hat Auswirkungen auf die eigene Befindlichkeit. Hat die Entscheidung Handlungen zur Folge, können diese von Mitarbeitenden beobachtet werden. Wie Führungskräfte mit ihren eigenen Grenzen umgehen, prägt die Kultur im Team: Führungskräfte handeln als Modell. Dies beeinflusst auch die Vorstellung der Teammitglieder über die Erwartungen der Führungskraft. („Erwartungserwartung“, Luhmann 1984)

Das Konzept der „Achtsamkeit“ – wie zum Beispiel im Programm „Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR“ (Kabat-Zinn 1982) umgesetzt – als wirksame Strategie der betrieblichen Prävention von Stress und Erschöpfung (Metaanalyse von Jamieson u. Tucki 2017) erlebt in diesem Zusammenhang eine Renaissance. Führungskräfte, die selbst einmal achtsamkeitsbasierte Methoden erfahren haben, merken jetzt, wenn sie eigene Grenzen überschreiten und können so bewusster die ambivalenten Bedürfnisse erkennen und reflektiertere Entscheidungen treffen.

Führung auf Distanz

Beispiel: Stefanie K. arbeitet seit sieben Jahren am selben Standort mit viel Leidenschaft in ihrem Aufgabenbereich. Im Gegensatz zu einigen Mitarbeitenden musste sie bisher nicht berufsbedingt umziehen. Die Arbeitsprozesse haben sich in den letzten Jahren jedoch stark verändert. Eine besondere Herausforderung stellt die dezentrale Verortung ihres Teams für sie dar – die Standorte sind deutschlandweit verteilt.

Aufgrund der technischen Möglichkeiten ist es auch nicht mehr erforderlich, dass Teams auf einem Flur sitzen. Wie kann Führung funktionieren, wenn die Menschen in verschiedenen Städten oder gar Ländern arbeiten?

Viele Führungskräfte stimmen zu, dass Führung durch Kontrolle insbesondere in dezentral arbeitenden Teams, wo manch einer zudem im Homeoffice arbeitet, mühsam und wenig wirksam ist. Schnell verhakt sich die Beziehung in einer Spirale von Kontrollbedürfnissen der Führungskraft auf der einen und Autonomiebestrebungen der Mitarbeitenden auf der anderen Seite. Konflikte, innere Kündigung und frustrierte Führungskräfte können das Resultat sein (Gallup 2016).

In der Managementtheorie und auch in Unternehmensleitbildern hat sich der Ansatz von weniger Kontrolle zugunsten von einem Mehr an Vertrauen durchgesetzt. Auch wenn diese Führungsansätze Teil von Personalentwicklungsmaßnahmen sind, so heißt das nicht automatisch, dass diese Kultur im Unternehmen auch gelebt wird. Implizit wird jedoch angenommen, dass die Führungskräfte entsprechendes Vertrauen längst „gelernt“ haben. Diese Kompetenz wird vorausgesetzt. Verunsicherung wird nicht selten tabuisiert. Dass hier lineares Lernen nicht greift und dass Führungskräfte eine sehr persönliche Entwicklungsleistung (in ihrem ganz eigenen Tempo) erbringen müssen, entzieht sich oft der Betrachtung. Führungskräfte haben in ihrer Biografie ganz individuelle Erfahrungen mit Vertrauen gemacht. Diese Erfahrungen können Lernprozesse begünstigen oder erschweren.

Heute sind viele Unternehmen (noch) hierarchisch organisiert und orientieren sich an der „leistungsorientierten Weltsicht“ (Laloux 2016, S. 26). Geführt wird wesentlich unter Zuhilfenahme von Kennzahlen. Eine reine Orientierung an Kennzahlen in den komplexen Systemen der modernen Arbeitswelt ist kritisch zu hinterfragen. Das Prinzip funktioniert aufgrund der Annahme linearer Kausalität: Eine bestimmte Ursache zieht eine spezifische Wirkung nach sich – „Wenn ich A mache, passiert B“. Wenn eine Uhrmacherin die Rädchen und die kleinen Federn einer Uhr auf eine bestimmte Weise anordnet, werden sich die Zeiger – sofern sie über das entsprechende Wissen verfügt und präzise arbeitet – innerhalb von zwölf Stunden einmal im Kreis gedreht haben. Wir sind damit aufgewachsen, lineare Kausalität zu unterstellen, also in einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen zu denken. Dieses Denken haben wir zutiefst verinnerlicht.

In komplizierten Systemen, da, wo sich ähnlich gelagerte Prozesse beständig wiederholen, wo es keine unvorhersehbaren Einflussfaktoren gibt, ist dies eine zielführende Strategie – nicht aber in komplexen Systemen. In solchen kommt diese Herangehensweise schnell an ihre Grenzen. Hier wirken multiple, in Teilen unbekannte Faktoren einzeln und miteinander auf unvorhersehbare Weise. Ein Fischteich ist ein komplexes System ebenso wie die globalen Finanzmärkte. Diese – auf den ersten Blick recht theoretisch anmutende – Unterscheidung kann für Führungskräfte enorm entlastend wirken. Denn die Vorstellung, dass Führung im Sinne einer linearen Funktion durch Steuerung und Kontrolle gelingt, ist weit verbreitet und hält sich hartnäckig: Der Mitarbeiter führt aus und lässt sich steuern, steigert seine Leistung an den Stellen, wo die Führungskraft das anweist. Eine solche Illusion von Kontrolle scheint für viele vor allem dann gegeben zu sein, wenn sich die Mitarbeitenden in einem Büro befinden und so „im Blick“ der Führungskraft sind.

Es kann bezweifelt werden, dass sich ein Mitarbeiter, der aus ureigenen Gründen nicht die Arbeiten erledigen will oder kann, die von ihm verlangt werden, durch Kontrolle dazu ermuntern lässt. Eher ist mit Reaktanzphänomenen zu rechnen, wenn persönliche Freiheit und eigene Entscheidungsmöglichkeiten bedroht sind (Bushmann u. Strack 1996).

Entscheidung unter Unsicherheit

Die Digitalisierung forciert die Dynamik des Wandels: schnelle Entwicklungs- und Innovationszyklen und damit verbundener Mangel an Berechenbarkeit. Zukünftige Entwicklungen sind mit dem Alltagsverständnis nicht abzuschätzen, fehlende Ursache-Wirkungs-Bezüge erzeugen Mehrdeutigkeit und erschweren das Handeln. Eine volatile Welt, in der vieles immerwährend in Veränderung ist, führt nicht selten zu einem Erleben von Verunsicherung. Bennet und Lemoine (2014) beschreiben unter dem Akronym VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) die veränderten Rahmenbedingungen und weisen auf die Notwendigkeit hin, diese bei Führungsfragen zu berücksichtigen.

Tagein, tagaus treffen Führungskräfte Entscheidungen unter Unsicherheit. Digitalisierung hat die Unsicherheitsfaktoren exponentiell verstärkt. Jede getroffene Entscheidung – und auch die, die nicht getroffen wurde – hat Auswirkungen. Diese sind ob der hohen Komplexität oft nicht überschaubar, Gewissheit ist eine Illusion (Gigerenzer 2013). Die Verantwortung will dennoch getragen werden.

Durch Arbeitsverdichtung und hohe Geschwindigkeit fehlen ferner oft Zeit und Muße, Inhalte in der nötigen Tiefe zu durchdringen und Entscheidungen sorgfältig vorzubereiten. Menschen greifen auf mentale Abkürzungen bzw. Entscheidungsheuristiken (Aronson et al. 2004) zurück, was zu Fehlentscheidungen führen kann. Man tut gut daran, diesem Phänomen bei der Entwicklung seines Führungsverständnisses Rechnung zu tragen. Da wo Steuern über Kennzahlen und mittels Kontrolle wenig sinnvoll erscheint, das Ungewisse dominiert, stellt sich die Frage nach Alternativen. In herkömmlichen pyramidenförmigen Organisationsarchitekturen fungieren Führungskräfte als Nadelöhr bei der Entscheidungsfindung. Entscheidungen, die sie aufgrund der zunehmenden Unsicherheit und Komplexität immer weniger alleine treffen können, aber oftmals müssen.

Zusammenhänge, in denen die Einflussgrößen vielschichtig und die Wirkmechanismen nicht bekannt sind, führen also dazu, dass gelernte mechanische Lösungsstrategien und in Führungstheorien (Wunderer 2002; Schuler u. Moser 2013) beschriebene Konzepte nicht mehr uneingeschränkt funktionieren. Aber was kann einer Führungskraft dann helfen?

Coaching: Vereinzelung überwinden, Selbstreflexion, Persönlichkeitsentwicklung und Adaptionsfähigkeit stärken

Neben einer achtsamen Grundhaltung (s. oben) kann Ungewissheit nur durch aufmerksames Handeln auf der Grundlage situationsimmanenter Aspekte erfolgen – und nicht einseitig anhand zeitlich ferner Ziele. Dies ermöglicht die Wahrnehmung wichtiger Impulse in sich selbst sowie in der Umgebung. Persönliche Leistungsfähigkeit, zufriedenstellende Kooperation und kreative Anstöße zur Innovation können die Folge sein.

Lösungsansatz Coaching

In erster Linie bietet ein Coachingprozess einen geschützten Rahmen und somit eine Chance, Führungskräfte aus der erlebten Vereinzelung zu holen. Führungskräfte berichten bisweilen ein Unbehagen, weil sie annehmen, dass das geschilderte Problem durch eigene Defizite verursacht ist. Sie sind spürbar entlastet, wenn klar wird, dass das Problem, das sie schildern, kein persönliches Defizit ist, sondern es sich um ein systemimmanentes strukturelles Thema handelt. Hier geht es nicht darum, Führungskräfte ihrer Verantwortung zu entheben, sondern mit ihnen zu erarbeiten, worauf sie tatsächlich Einfluss haben und mit welchen fixen Rahmenbedingungen sie umgehen müssen.

Weiterhin ist es wichtig, an die vorhandenen Ressourcen (Fähigkeiten, Kompetenzen) anzuknüpfen und dadurch die individuelle Resilienz, also psychische Selbstheilungskompetenz, zu vergegenwärtigen und weiter zu entwickeln: mit der Veränderung mitgehen, neue Handlungsoptionen entwickeln und doch bei sich selbst bleiben. Ein tieferes Verständnis seiner selbst zu entwickeln.

Auf der Grundlage einer kontinuierlichen Weiterentwicklung neuronaler Netzwerke (Hebb 1949) kann eine lebenslange Lernfähigkeit auch im hohen Erwachsenenalter angenommen werden (Hüther 2016). Das legt die berechtigte Annahme nahe, dass Persönlichkeit nicht stabil und überdauernd, sondern veränderbar ist. Ein anderer Aspekt besteht darin, wie Persönlichkeit gedacht wird: In frühen Ansätzen wurde die Persönlichkeit eines Menschen als in sich geschlossen, als eins betrachtet. Der Mensch spräche mit einer Stimme, handele aus einem Guss. Demgegenüber stehen Modelle der Traumaforschung (Reddemann 2016), kommunikationspsychologische Arbeiten (Schulz von Thun 2003) und hypnotherapeutische Ansätze (Schmidt 2015), die Menschen eher als „Konglomerat von Anteilen mit eigenen Bedürfnissen“ begreifen.

So unterschiedlich diese Denkmodelle auch sind, sie alle machen weniger bewusste Bedürfnisse und Nöte, aber auch innere Widersprüche bewusst und damit handhabbar. Lebensgeschichtlich werden Entscheidungen im Sinne einer gesunden „Überlebensstrategie“ getroffen, also Leitsätze (Antreiberkonzept, Glaubenssätze, s. Berne 2003) entwickelt. Mittels dieser versuchen Menschen zu verhindern, dass eine unangenehme Situation noch einmal passiert. Solche Überzeugungen prägen den Alltag, den Kontakt zu anderen Menschen, zumeist unbewusst. „Ich muss es selbst schaffen“, „Trau keinem“. Schaut man mit solchen Glaubenssätzen in die Welt, ist es, als trüge man eine gelbe Sonnenbrille: Trägt man diese Brille schon Jahre, ist die Welt gelb und man weiß gar nicht mehr, dass man sie trägt.

Situativ und kontextabhängig stehen also verschiedene Anteile der Persönlichkeit im Vordergrund, die unter Umständen nur bedingt mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben, in der aktuellen Situation jedoch Leid verursachen. Insbesondere in volatilen unsicheren Kontexten kommt der Fähigkeit, die eigenen Anteile zu erkennen und zu handhaben, eine besondere Bedeutung zu.

Führungskräfte schaffen einen Rahmen und haben Verantwortung für den Prozess.

Ziel des Beratungsprozesses (Coaching) ist es, dass die Führungskraft die Herkunft der Glaubenssätze und ihrer Angemessenheit bzw. Unangemessenheit in der gegenwärtigen Situation reflektiert. Insbesondere wenn im Arbeitsalltag starke Gefühle auftreten oder besonders Ambivalenz eine Entscheidung unmöglich zu machen scheint, ist davon auszugehen, dass Menschen mit Aspekten ihrer Person involviert sind, die über die Situation des Arbeitszusammenhangs hinausgehen. Wichtig ist, die unterschiedlichen Anteile zu erkennen und bewusst zu entscheiden, aus welchem Bedürfnis heraus gehandelt werden soll. Führungskräfte sind also mittels derartiger Denkmodelle befähigt, sie lernen zwischen Transformation und Regression zu wählen (Windhausen u. Reifferscheidt 2012). So verstandene Weiterentwicklung und persönliches Wachstum einer Führungskraft stehen nicht unter der Überschrift einer Selbstoptimierung, sondern dienen der Auflösung von einschränkenden Mustern und Glaubenssätzen aus der Vergangenheit und erhöhen somit ihre Handlungsoptionen.

Prozessorientierung und neue Führungs- und Organisationsmodelle umsetzen

Prozessorientierte Ansätze richten sich maßgeblich nach einem Leitsatz, der der von Ruth Cohn begründeten themenzentrierten Interaktion zugeordnet wird: „Störungen haben Vorrang“. In der Holakratie (Robertson 2016) beispielsweise, einem modernen Managementansatz, wird genau dieses Prinzip aufgegriffen. Hier spricht man von „Spannungen“ (ebd. S. 5), die aus den Rollen der Mitarbeitenden entstehen und auf eine Dysfunktionalität hinweisen. Diese Ansätze wurden als Reaktion auf die zunehmende Komplexität ausgearbeitet. Sie gehen davon aus, dass eine Führungskraft gar nicht alles nötige Wissen haben kann, um Entscheidungen zu treffen. Mitarbeitende haben jedoch in ihrem Arbeitsbereich vertiefte Kenntnisse. So zielen solche Ansätze auf die Befähigung zur Selbstorganisation (Gogler 2014; Oetserreicher u. Schröder 2017). In diesen Organisationsmodellen wird Mitarbeitenden echte Verantwortung zugetraut.

In herkömmlichen Ansätzen werden Ambivalenzen oder unangenehme, dem geplanten Prozess gegenläufige Gefühle eher als störend bewertet oder vollständig negiert. Im oben genannten Führungsverständnis dienen sie als wertvolle Hinweisgeber auf die vielschichtigen Aspekte einer Fragestellung. Neben Kognitionen liefern Gefühle und „Intuitionen“ einen wertvollen Beitrag zur Analyse der Organisation und weisen auf Dysfunktionalität hin.

Ferner wird in diesen Organisationsmodellen nicht langfristig über Jahre geplant. Abstimmung erfolgt sehr kleinschrittig und zeitnah, um schnell auf Umweltveränderungen reagieren zu können. In vielen Bereichen haben Managementmethoden und Praktiken wie beispielweise Scrum (Gloger 2011), Design Thinking (Souvonett u. Blatt 2015), Kanban (Burrow 2015) und Effectuation (Faschingbauer 2010) Einzug gehalten, die diesen Anforderungen gerechter werden. Entscheidungen werden gemeinsam vorbereitet. Priorisierungen ergeben sich aus regelmäßigem Austausch und gemeinsamem Abwägen.

Eine prozessorientierte Sichtweise – also auf die eigene Wahrnehmung und die der Mitarbeitenden zu vertrauen, ohne das grobe Ziel oder fixe Rahmenbedingungen aus dem Blick zu verlieren – entlastet Führungskräfte von der Illusion einer mechanischen Steuerungsfähigkeit und von Mikromanagement. Sie können sich damit wieder auf das Führen konzentrieren. Sie schaffen einen Rahmen und haben Verantwortung für den Prozess. Ein solches Prozedere zahlt auch auf das Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit ein: Ergebnisse sind nicht vorhersehbar – die Art und Weise, sich mit den Wogen des Alltags auseinanderzusetzen, ist es schon.

Resümee

Laloux schreibt, dass es einen Grund gibt, in dieser Zeit der disruptiven Veränderungen, zutiefst hoffnungsvoll zu sein. „Der Schmerz, den wir fühlen, kommt von etwas Altem, dass (sic) jetzt stirbt, während etwas Neues geboren wird.“ (Laloux 2016, S. 16 f.) Auf diesem Weg tun Führungskräfte gut daran, sich unterstützen zu lassen.

Die Veränderungen durch die Digitalisierung bringen es mit sich, dass wir das zugrunde liegende Denkgebäude zu Führungs- und Organisationsmodellen hinterfragen müssen. Die Erfahrung von Selbstreflexion lässt sich nicht verordnen oder in einem komprimierten Workshop erlernen. Führung ist als ständiger, sehr persönlicher Entwicklungsprozess zu verstehen.

Wo Führungskräfte sich trauen, Menschen etwas zuzutrauen, wo sie sich erlauben, eine wohlwollende ressourcenorientierte Perspektive einzunehmen, bereiten sie den Boden für ein gutes zufriedenstellendes Miteinander. Das bedeutet, dass Menschen Dinge machen dürfen, die sie im Nachhinein anders machen würden. Statt von Fehlern ließe sich besser von „Probierresultat“ (Wortschöpfung der Autorin) sprechen. Fehler kann man in einem bekannten Prozess machen: Probierresultate ereignen sich im Raum des Unbekannten. Lernen funktioniert besser, wenn Menschen nicht Rollen spielen müssen, sondern sich als die Person zeigen dürfen, die sie sind. Es braucht dabei auch Erfahrungen, dass Unterschiede in konstruktiver und wertschätzender Weise behandelt werden können. Diese können Führungskräfte mit ihrem Team allein oder aber mit Unterstützung durch Coaching im Sinne von Teamentwicklung machen. Es macht Sinn, dass Führungskräfte sich selbst und die Mitarbeitenden als Lernende verstehen. Als Ausprobierende.

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Gigerenzer G: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungentrifft. Hamburg: C. Bertelsmann, 2013.

Lalaoux F: Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen, 2016.

Österreich B, Schröder C: Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen, 2016.

Reddemann L: Imagination als heilsame kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. Stuttgart: Klett Cotta, 2016.

Robertson BJ: Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Vahlen, 2016.

Schmidt G: Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. 7. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer, 2015.

Windhausen C, Reifferscheidt BR: Das flüssige Ich. Führung beginnt mit Selbstführung. Books on Demand, 2012.

Die vollständige Literaturliste kann auf der ASU-Homepage beim Beitrag eingesehen werden.

    Weitere Infos

    Gabler Wirtschaftslexikon: Definition Digitalisierung

    wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/digitalisierung.html

    Lalaoux F: Reinventing Organizations

    www.reinventingorganizations.com/

    Autorin

    Dipl.-Psych. Astrid Jansen

    BAD GmbH

    Ebertplatz 23

    50668 Köln

    astrid.jansen@bad-gmbh.de

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