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Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.12.2016, B 2 U 16/15 R

Falsch abgebogen, kein Unfallversicherungsschutz?

Wendemanöver nach Falschabbiegen

Im jüngst vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Versicherungsfall führte der übliche Arbeitsweg von der Wohnung des Klägers über zwei Autobahnen und eine Bundesstraße zu dem Lager, wo er beschäftigt war. Am Unfalltag wollte er von seiner Wohnung aus zum Arbeitsbeginn mit dem PKW dorthin fahren. Er befuhr zunächst die beiden Autobahnen bis zur Abfahrt, bog dort aber nicht in Richtung zum Lager auf die Bundesstraße ab, sondern in die Gegenrichtung. Nachdem er etwa 2,5 km in der falschen Richtung gefahren war, führte er auf der vierspurigen Bundesstraße ein Wendemanöver durch, bei dem er mit einem hinter ihm auf der Überholspur fahrenden Pkw zusammenstieß. Der Kläger erlitt u.a. ein Schädel-Hirn-Trauma. Er hat keine Erinnerung an den Unfallhergang oder die Gründe für sein Abbiegen in die falsche Richtung.

Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Wegeunfalls ab. Der Kläger habe sich auf einem nicht versicherten Abweg befunden, weil er die Bundesstraße nicht in Richtung seiner Arbeitsstätte, sondern in die seiner Arbeitsstelle entgegengesetzte Richtung befahren habe, ohne dass hierfür betriebliche oder verkehrstechnische Gründe erkennbar gewesen seien. Das BSG hat die Ablehnung des Unfallversicherungsschutzes aus der gesetzlichen Unfallversicherung in letzter Instanz als rechtmäßig bestätigt.

Sachlicher Zusammenhang

Das BSG erkannte, dass der Kläger zwar als Beschäftigter gemäß §2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war, seine Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses jedoch nicht in einem sachlichen Zusammenhang stand mit dem hier allein als versicherte Tätigkeit in Betracht kommenden Zurücklegen des unmittelbaren Weges von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte.

Zum Unfallzeitpunkt legte der Kläger nach Meinung des BSG keinen mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit zurück. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung der grundsätzlich versicherten Fortbewegung dient, ist die Handlungstendenz des Versicherten. Das Handeln muss subjektiv zumindest auch auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweiligen Tätigkeit ausgerichtet sein. Zwar ging das BSG mit den Vorinstanzen davon aus, dass der Kläger sich im Unfallzeitpunkt mit der Zielstellung fortbewegte, den Ort seiner versicherten Tätigkeit zu erreichen. Diese subjektive Handlungstendenz alleine sieht das BSG jedoch nicht als ausreichend, um in der Wegeunfallversicherung den sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit zu begründen. Die subjektive Handlungstendenz müsse sich darüber hinaus als von den Instanzgerichten festzustellende Tatsache im objektiv beobachtbaren äußeren Verhalten des Handelnden widerspiegeln. Daran fehlte es letztlich.

Abweg

Der Kläger befand sich während des Wendemanövers unmittelbar vor dem Unfall nicht auf dem üblicherweise zurückgelegten direkten Weg von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte. Zwar hatte er zunächst die sonst von ihm befahrene direkte Wegstrecke von seiner Wohnung als Ausgangspunkt des Weges zu seiner Arbeitsstätte zurückgelegt. Diesen Weg unterbrach er jedoch, indem er auf die Bundesstraße anstatt nach rechts in die zur Arbeitsstätte entgegengesetzte Richtung nach links abbog. Diese Bundesstraße befuhr er unmittelbar vor dem Unfall auf einer Strecke von 2,5 km in der von der Arbeitsstelle wegführenden Richtung. Damit war die Unterbrechung des direkten versicherten Weges mehr als geringfügig im Sinne der Rechtsprechung des BSG. Der Kläger befand sich daher auf einem Abweg, der zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht beendet war. Auch wenn der Kläger ein Wendemanöver eingeleitet hatte, hatte er zum Zeitpunkt des Unfalls die üblicherweise genutzte direkte Wegstrecke zwischen Wohnung und Arbeitsstätte noch nicht wieder erreicht.

Versicherungsschutz beim Verirren

Nicht jedes Abweichen vom direkten Weg führt zu einer Lösung des sachlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes in der Wegeunfallversicherung. Versicherungsschutz kann ausnahmsweise auch auf einem Abweg bestehen, wenn der sachliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit erhalten bleibt. Dies ist dann der Fall, wenn der Versicherte irrtümlich von dem direkten Weg aus Gründen abweicht, die ihrerseits mit dem Zurücklegen des versicherten Weges, insbesondere seiner Beschaffenheit, in Zusammenhang stehen. So besteht Versicherungsschutz in der Wegeunfallversicherung auch auf irrtümlich befahrenen Wegstrecken, wenn der Irrtum auf äußeren, mit der besonderen Art des Weges verbundenen Gefahren, wie z.B. Dunkelheit, Sichtbehinderung durch Nebel, schlecht beschilderte Wege oder dergleichen, beruht. Das Verirren resultiert in einem solchen Fall aus Umständen, die sich gerade aus der äußeren Beschaffenheit des Verkehrsraums ergeben, den der Versicherte zum Aufsuchen seiner Arbeitsstelle oder zur Rückkehr von seiner Arbeitsstelle zu seiner Wohnung, also betrieblich veranlasst, nutzen muss. Ein solcher Irrtum lässt folglich den Schutzzweck der Wegeunfallversicherung nicht entfallen.

Dagegen bestehe kein Versicherungsschutz, wenn die irrtümliche Abweichung von dem direkten Weg nicht auf äußeren, mit der besonderen Art des Weges und seinen Gefahren zusammenhängenden, sondern auf in der Person des Versicherten liegenden, eigenwirtschaftlichen Gründen, wie z.B. Unaufmerksamkeit aufgrund angeregter Unterhaltung, beruht. Denn in diesem Fall wird der Abweg aus Gründen zurückgelegt, die gerade nicht auf der Beschaffenheit der zurückzulegenden Wegstrecke, sondern auf Umständen aus dem eigenwirtschaftlichen Bereich beruhen. Der Senat halte daran fest, dass allein aus privatwirtschaftlichen Gründen veranlasste Wegstrecken oder Unterbrechungen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit grundsätzlich nicht unter Unfallversicherungsschutz stehen. Der Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung gebietet keine Ausweitung dieses Schutzes auf irrtümlich befahrene Abwege, wenn die Gründe hierfür nicht im Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Wegstrecke stehen. Es reiche nicht aus, dass der Versicherte eine Wegstrecke subjektiv auch deshalb zurücklege, weil er seine Arbeitsstelle bzw. seine Wohnung erreichen wollte, wenn er sich aus eigenwirtschaftlichen Gründen im Unfallzeitpunkt objektiv auf einem Abweg befinde.

Feststellungslast für Gründe der Wegeabweichung

Ist nicht mehr feststellbar, ob der Irrtum des Klägers auf äußeren, mit der besonderen Art des Weges verbundenen Umständen, die Versicherungsschutz auf dem Abweg begründen könnten, beruht, geht dies zu Lasten des Versicherten. Die Gründe oder maßgebenden Umstände für das Einschlagen der entgegengesetzten Fahrtrichtung gehören zu anspruchsbegründende Tatsachen, da die irrtümliche Nutzung eines objektiv nicht in Richtung der Arbeitsstätte führenden Weges nur unter bestimmten Umständen unter Versicherungsschutz steht. Den Nachteil aus der tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen hat nach den Regeln der objektiven Beweislast der sich auf deren Vorliegen berufende Versicherte zu tragen. Dies gilt auch, wenn nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten die Nichterweislichkeit wie hier darauf beruht, dass der Versicherte keine Erinnerung an das zum Unfall führende Geschehen habe.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

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