Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Erfahrungen aus einer Erstaufnahmeeinrichtung

Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst

Einleitung

Während der letzten Jahre wurde das bundesdeutsche Gesundheitssystem wegen des aktuellen Migrationsgeschehens vor besondere Herausforderungen gestellt. Aufgrund mangelnder Kenntnisse zu Lebensumständen und dürftiger Anamnese ist das körperliche Erstscreening von Migranten häufig problematisch. Im Rahmen dieses Erstscreenings stehen primär bevölkerungsmedizinische Aspekte im Vordergrund, wobei sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht über dessen praktische Ausgestaltung gegenwärtig flächendeckend wenige Erfahrungsberichte veröffentlicht wurden.

Gesetzliche Grundlagen

Neben dem Infektionsschutzgesetz (IfSG; Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen 2000) ist eine wesentliche Gesetzesgrundlage für die Erstuntersuchung von Flüchtlingen der § 62 Gesundheitsuntersuchung gemäß Asylgesetz (AsylG; Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz 2015). Die rechtsverbindlichen Gesetzesinhalte sind in im Infokasten aufgeführt.

Nach den Bestimmungen des Asylgesetzes (AsylG; Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz 2015) soll dieses Erstscreening innerhalb von drei Arbeitstagen ab dem Zeitpunkt der Ankunft in der Erstaufnahmeeinrichtung bei jedem Asylsuchenden vollständig erfolgt sein.

Infrastruktur der Erstaufnahmeeinrichtung

Nach der Ankündigung der Zuweisung einer ersten Welle von Asylanten gegen Mitte Oktober 2014 musste der Fachbereich Gesundheit des Landratsamtes Erding zunächst erstmals die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Erstuntersuchung von Asylsuchenden etablieren. Einleitend musste eine Abstimmung zwischen den behördeninternen Akteuren (Fachbereiche Asyl, Gesundheitsamt, IT-Sicherheit, Öffentliche Sicherheit und Personalabteilung) und externen Akteuren (privater Sicherheitsdienst, Cateringfirma und Speditionsunternehmen) zur formalen und inhaltlichen Gewährung aller einzelnen organisatorischen Schritte (Einschleusung – Registrierung – medizinisches Erstscreening – Zuweisung der Unterkunft – Einweisung in die Unterkunft – Verpflegung) hergestellt werden.

Als Erstaufnahmeeinrichtung wurde die Turnhalle der örtlichen Berufsschule mit dazugehöriger baulicher Infrastruktur ausgewählt. Im Mittelpunkt der organisatorischen Überlegungen sollte unter fortlaufendem Schulunterricht eine standardisierte Erfassung aller anreisenden Flüchtlinge gebührende Beachtung finden. Unmittelbar nach der Ankunft der Flüchtlinge vor Ort wurde zunächst eine ärztliche Grobsichtung (augenscheinliche Infektionserkrankung, Messung der Temperatur usw.) bei den ankommenden Asylsuchenden vorgeschaltet, um eine zusätzliche Sicherheit für das Personal und die anderen Asylsuchenden zu erhöhen, bevor die Registrierung jedes Asylsuchenden mittels personenbezogener Merkmale (Vor- und Familienname, Geburtsdatum, Herkunftsland, Anfertigung eines Profilfotos, Vergabe einer individuellen Kennziffer usw.) im Beisein von vereidigten Dolmetschern computerbasiert bewerkstelligt und ein individueller fünfstelliger Identifikations-(ID-)Code (z. B. ID 59397) für jeden einzelnen Asylsuchenden vergeben wurde. Jedem Flüchtling wurde ein rotes Unterarmband mit der wasserfesten Aufschrift des jeweiligen Identifikationscodes zugedacht.

Nachfolgend wurde im Rahmen des medizinischen Erstscreenings (Medical Short Screening; MSS) eine orientierende Messung der Körpertemperatur mittels eines berührungsfreien Infrarot-Fieberthermometers (FT 90, Firma Beurer GmbH) durchgeführt, um akute, febrile Erkrankungen weitestgehend auszuschließen. Die genaue organisatorische Ausgestaltung der medizinischen Untersuchungseinheit ist der  Abb. 1 im Detail zu entnehmen.

In der Folgezeit wurde das ärztliche Erstscreening bei jedem Asylsuchenden standardisiert durchgeführt. Im Mittelpunkt dieses Screenings standen gemäß den gesetzlichen Vorgaben primär die Identifikation potenziell übertragbarer Krankheiten der Haut, der Lunge und des Magen-Darm-Trakts bzw. die Diagnose und Therapie von relevanten Akutkrankheiten mit bestehender Schmerzsymptomatik. Den standardisierten Protokollbogen dieses Erstscreenings gibt  Abb. 2 wieder.

Nach der ärztlichen Erstuntersuchung wurden Vollblutproben bei jedem einzelnen Flüchtling genommen und zur laborchemischen Analyse hinsichtlich einer Hepatitis-B- bzw. HIV-Infektion an das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) per Boten übersandt. Zudem wurden bei der ersten Welle der Asylsuchenden Stuhlproben auf Salmonellen, Shigellen und Darmparasiten genommen und im LGL mikrobiologischen Analysen unterzogen.

Im Falle eines komplett stattgefundenen Erstscreenings mit vollständig vorliegenden Proben für die Serum- und Stuhlanalysen wurde das besagte rote Unterarmband durch ein grünes ersetzt.

Flüchtlingspopulation

Insgesamt wurden durch den Fachbereich Gesundheit des Landratsamtes Erding drei „Flüchtlingswellen“ (31. Oktober bis 1. November 2014 versus 6. August bis 10. August 2015 versus 7. September bis 9. September 2015) mit 429 Menschen (394 Erwachsene und Jugendliche älter als 15 Jahre versus 35 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren) amtsärztlich untersucht. Bei den über 15-jährigen Flüchtlingen lag das Durchschnittsalter bei 26,2 Jahren (Spannweite: 18 bis 85 Jahre) und bei den unter 15-Jährigen bei 8,8 Jahren (0,3 bis 14,8 Jahre). Bei der älteren Teilpopulation hatten 77,2 % eine männliche (versus 22,8 % weiblich) Geschlechtszugehörigkeit, wobei bei den jüngeren Flüchtlingen mehr Mädchen (52,4 %) als Jungen (47,6 %) vorzufinden waren. Die meisten Flüchtlinge waren aus Afghanistan (26,4 %), Pakistan (15,8 %), Syrien (13,9 %) und aus Somalia (10,1 %) gebürtig.

Ergebnisse des medizinischen Erstscreenings

Im Rahmen der orientierenden körperlichen Untersuchung ( Abb. 3) wurden auf der Symptomebene innerhalb der Flüchtlingspopulation am häufigsten „Husten unklarer Ursache“ (17,7 %) und klinische Auffälligkeiten der Haut (13,5 %: „infektiöse Dermatitis“; 8,6 %: „Skabies“ und 7,2 %: „Hautwunden unklarer Ursache“) diagnostiziert. Mit deutlichem Abstand folgten unklare Befunde des Herz-Kreislauf-Systems (3,6 %: „arterieller Hypertonus“ und 1,9 %: „unklare Auskultationsbefunde des Herzens“). Bei zwei weiblichen Flüchtlingen (2,1 %) war eine Schwangerschaft, bei 7 Flüchtlingen eine Diabetes-Erkrankung (1,6 %) und bei 5 Asylsuchenden (1,2 %) eine psychotische Symptomenkonstellation festzustellen.

Mit 14,4 % waren am häufigsten Infektionen mit HBV in der gesamten Population vorzufinden bzw. hatten 9,1 % eine latente Infektion mit dem Tuberkelbakterium. Das Röntgen-Thorax-Screening der über 15-jährigen Flüchtlinge (gemäß § 36 Abs. 4 IfSG) zeigte zwar einige ältere spezifische Veränderungen, jedoch keinen Anhalt für frische, ansteckungsfähige Tuberkulosen der Lunge.

Hingegen wurde lediglich bei 0,3 % der Asylsuchenden eine HIV-Infektion aufgedeckt. In den Stuhlproben waren bei 2,9 % Darmparasiten auffindbar, wobei sich für Salmonellen mit 0,25 % und für Shigellen mit 0,15 % positive Stuhlbefunde ergaben.

Schlussfolgerungen

Im Rahmen der Etablierung der erforderlichen Strukturen und Prozesse zur Durchführung des Erstscreenings zeigte sich anfangs die Schwierigkeit, eine bestehende medizinische Dokumentationssoftware (Äskulab 21) mittels einer ergänzenden Vorrichtung zum Einscannen personenbezogener Daten und Strichcodes abzugleichen, um die administrative Abarbeitung des Erstscreenings zielführend ausgestalten zu können. Insbesondere in diesem Zusammenhang sollte in der Vorplanung ausreichend Zeit eingeplant werden, um den diesbezüglichen Anforderungen gerecht werden zu können.

Einen anfänglichen Schwachpunkt stellten die Sprachbarrieren zwischen den Mitarbeitenden des Fachbereichs Gesundheit und den Flüchtlingen dar. Zum einen konnte dadurch oftmals lediglich eine skizzenhafte Fluchtanamnese erhoben werden und zum anderen war es oft sehr schwierig, aktuelle Beschwerden der Flüchtlinge adäquat erfragen und medizinisch einordnen zu können. Insbesondere im Rahmen der Aufarbeitung der ersten Migrantenwelle Anfang November 2014 musste erst ein Personenpool von kompetenten Übersetzenden akquiriert werden, um dieses Defizit zeitnah minimieren zu können. Während der nachfolgenden beiden Ankunftswellen von Asylsuchenden erwies sich diese Problematik als beherrschbar, so dass die individualmedizinischen Herausforderungen im Rahmen des Erstscreenings zunehmend bedarfsadäquat bearbeitet werden konnten.

In Bezug auf die Durchführung der Röntgenaufnahmen zur Abklärung im Rahmen der Tuberkulosefürsorge erwies sich die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit der Röntgenabteilung eines räumlich nahe stehenden Krankenhauses als zielführend. Abgesehen von sporadischen terminlichen Unzulänglichkeiten beim Transport einzelner Flüchtlinge von ihrer Unterkunft zu den Röntgenuntersuchungen gelang es, die weitaus meisten Flüchtlinge innerhalb einer angemessenen Zeitfrist abzuklären. Allerdings sollten bereits im Vorfeld Kontakte zu entsprechenden Transportunternehmen und Reiseveranstaltern aufgenommen werden, die über entsprechende Transportkapazitäten von der Erstaufnahmeeinrichtung zum Krankenhaus und zurück verfügen.

Auch war die Kommunikation zwischen den Akteuren innerhalb der örtlich zuständigen Fachbereiche (Ausländerwesen, Personal und IT, Jugend und Familie, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, technische Aufsicht) anfangs manchmal schwierig, was in noch ausgeprägterem Maße für die Kommunikation mit externen Behörden der Öffentlichen Gesundheitsfürsorge Gültigkeit hatte. Dieses Defizit war im Rahmen der ersten Asylantenwelle besonders ausgeprägt, konnte jedoch in der Folgezeit deutlich reduziert werden. Trotzdem war auch weiterhin insbesondere die Verteilung der Flüchtlinge aus der Erstaufnahmeeinrichtung in dezentrale Unterkünfte problembeladen und verbesserungsbedürftig.

Auf der individuellen Ebene zeigten sich vereinzelt ausgeprägte Defizite in der interkulturellen Kommunikation, was in der Folge auch einen nachteiligen Einfluss auf den persönlichen sprachlichen Austausch zwischen Flüchtlingen und medizinischen Fachkräften des zuständigen Gesundheitsamtes ausübte.

In der Gesamtsicht war es überraschend, dass die weitaus meisten Flüchtlinge über einen grundsätzlich sehr guten körperlichen Gesundheitszustand verfügten. Vor dem unmittelbaren Erstkontakt mit den Asylsuchenden erwarteten alle Mitarbeitenden ein anderes Krankheitspanorama als ursprünglich angenommen. So waren die Prävalenzen bei Darmkeimen derartig niedrig, dass nach den Erfahrungen der ersten Welle an Asylsuchenden auf die vormals obligatorischen Stuhlproben – auch aus Kapazitätsgründen der öffentlichen Laboreinrichtungen – verzichtet werden konnte (Sing u. Hierl 2015). Unter Mitbeachtung der Prävalenzen von positiven Laborbefunden von Hepatitis-B- und HIV-Infektionen konnte gefolgert werden, dass für die bundesdeutsche Bevölkerung durch das aktuelle Migrationsgeschehen keinerlei Zusatzrisiko für den Erwerb dieser spezifischen Infektionserkrankungen verbunden ist. Kritischerweise muss in diesem Zusammenhang auf den so genannten „Healthy-migrant-Effekt“ (Razum 2009) hingewiesen werden, wodurch primär Gesunde in einen Migrationsprozess eintreten und Kranke primär ihre Herkunftsländer nicht verlassen, so dass in Migrantenpopulationen grundsätzlich relativ wenige somatische Erkrankungen mit einer evidenten Defizitsymptomatik zu erwarten sind. Diese Feststellung mag jedoch lediglich für primär somatische Erkrankungen Gültigkeit haben und erlaubt keine Schlussfolgerungen auf das Geschehen für Krankheiten des psychiatrischen Fachgebiets. Allerdings ließ sich die Prävalenz für positive GIT-Test als deutlicher Hinweis auf die zunehmende Relevanz von Tb-Infektionen durch die stetig zunehmende Mobilität und Migration weltweit interpretieren.

Literatur

Razum O: Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt. In: Richter M, Hurrelmann K (Hrsg.): Gesundheitliche Ungleichheit: Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, S. 267–282.

Sing A, Hierl W: Gesundheitsuntersuchungen nach dem Asylverfahrensgesetz. Bayerisches Ärzteblatt 2015; 9: 422-423.

    Info

    Rechtsverbindliche Inhalte für die Erstuntersuchung von Flüchtlingen

    1) Ausländer, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen haben, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Atmungsorgane zu dulden. Die oberste Landesgesundheitsbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle bestimmt den Umfang der Untersuchung und den Arzt, der die Untersuchung durchführt.

    2) Das Ergebnis der Untersuchung ist der für die Unterbringung zuständigen Behörde mitzuteilen. Wird bei der Untersuchung der Verdacht oder das Vorliegen einer meldepflichtigen Krankheit nach § 6 des Infektionsschutzgesetzes oder eine Infektion mit einem Krankheitserreger nach § 7 des Infektionsschutzgesetzes festgestellt, ist das Ergebnis der Untersuchung auch dem Bundesamt mitzuteilen.

    Weitere Infos

    Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz: Asylgesetz (AsylG). § 62 Gesundheitsuntersuchung; 1992

    https://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/__62.html.

    Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG); 2000

    http://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/index.html.

    Für die Autoren

    Dr. med. Dr. PH Heribert Stich, MPH

    Landratsamt Erding

    Fachbereich 5.1 Gesundheitswesen

    Bajuwarenstraße 3, 85435 Erding

    stich.heribert@lra-ed.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen