Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Rezension

Eine der größten Herausforderungen der wissenschaftlichen und praktischen Arbeitsmedizin im demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel ist der Erhalt und die Wiederherstellung von Beschäftigungsfähigkeit. Dabei kommt dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) mittlerweile der Status einer „Methode der Wahl“ zu. BGM hat sich im letzten Jahrzehnt rasant entwickelt. Es gibt nicht mehr überschaubare Angebote diverser Dienstleister aller Disziplinen (leider oft ohne arbeitsmedizinischen Sachverstand) und einen Bundesverband BGM. Jedes größere oder auch kleinere Unternehmen, das auf sich hält, hat heute ein BGM, wobei die Begriffe BGM und BGF (Betriebliche Gesundheitsförderung) nach wie vor fälschlicherweise synonym benutzt und unzureichend voneinander abgegrenzt werden. BGF stellt primär auf Gesundheitskompetenz und -verhalten des einzelnen Arbeitnehmers ab. Zielgruppe sind (noch) Gesunde, deren Fitness und Leistungsfähigkeit verbessert und deren potenzielle Gesundheitsrisiken verringert werden sollen. Traditionelle Handlungsfelder betreffen die Bereiche Ernährung, Stress, Sucht und Bewegung (gerne auch als „Obstkorb, Yoga, Rückenkurs“ tituliert). Mit krankenkassenseitig geförderten Maßnahmen der BGF wurden in 2014 ca. 11 500 Betriebe und 1,2 Mio. Beschäftigte erreicht. Trotz kontinuierlicher Steigerung resultieren bei insgesamt ca. 42 Mio. Erwerbstätigen und 8,6 Mio. Betrieben daraus (noch) bescheidene Quoten von Arbeitnehmerpartizipation (~ 3 %) und Unternehmenspräsenz (0,1 %). Selbst im günstigsten Fall sind so nur punktuelle Wirkungen bei einer Minderheit der Erwerbstätigen möglich. Auch das Erreichen der wirklich relevanten Risikogruppen bleibt ein konzeptimmanentes Problem.

Ob das im Juli 2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz daran nachhaltig etwas ändert, bleibt abzuwarten. Demgegenüber hat BGM als Managementstrategie in Profitunternehmen das primäre Ziel, durch eine systematische Gestaltung von Prozessen und gesundheitsbezogenen Interventionen Produktivität, Effizienz und Wertschöpfung zu steigern. Um Missverständnissen vorzubeugen: BGF/BGM sind weder „sozial-caritative Wohltaten“, noch entpflichten sie den einzelnen Arbeitnehmer von seiner grundsätzlichen Eigenverantwortung. Gesundheitsgerechtes Verhalten ist rechtlich jedoch nicht einforderbar, insbesondere hinsichtlich eines bestimmten Lebensstils oder Freizeitverhaltens. Die Erwartungen an ein BGM sind indes hoch. Unternehmen versprechen sich Wettbewerbsvorteile mit messbaren Steigerungen des Ertrages, weniger Ausfallzeiten und Mitarbeiter, die im Idealfall bis zum Renteneintrittsalter motiviert, gesund, wettbewerbs- und leistungsfähig sind. Arbeitnehmer wollen durch aktives Tun „fit“ bleiben und erhoffen sich durch engagierte Arbeitgeber gute und gesunde Arbeitsbedingungen. Dabei ist eine simplifizierende, mechanistische „Machbarkeitsillusion“ auf beiden Seiten weit verbreitet: Gesundheit ist gewissermaßen produzierbar wie eine Ware. Inhaltsstoffe und Dosierungen sind bekannt und genau definiert, biopsychosoziale Wechselwirkungen gibt es nicht. Die „blinden Flecken“ des medizinischen Wissens oder die „Macht des Schicksals“ werden ausgeblendet.

Vor diesem Hintergrund ist es für Unternehmen und beratende Betriebsärzte nicht einfach, wirksame und ökonomisch sinnvolle Interventionen und Strategien in Sachen BGF/BGM zu finden. Entgegen der immensen Bedeutung von BGM in der Praxis ist die wissenschaftliche, insbesondere interdisziplinäre Forschung noch deutlich unterrepräsentiert. Grundlage für die Maßnahmenentwicklung im BGM sollten allerdings belastbare empirische Erkenntnisse sein. Der aktuelle Wissensstand zeigt jedoch, dass der gesundheitliche und ökonomische Nutzen der betrieblichen Gesundheitsförderung allenfalls für einzelne Maßnahmen evident ist.

Tamara Sydney Ruhberg, Master of Arts in „Prävention und Gesundheitsmanagement“, möchte mit dem jetzt vorgelegten Band 44 aus der Schriftenreihe „Gesundheitsmanagement und Medizinökonomie“ des Verlags Dr. Kovac zu einer evidenzbasierten Entscheidungsfindung beitragen. Die Autorin stellt sich der komplexen Herausforderung, empirisch zu belegen, dass die Reduktion eines gesundheitlichen Risikofaktors zu einer Steigerung der Produktivität führt. Dazu untersucht sie in einem systematischen Review den Zusammenhang zwischen gesundheitsförderlichem Lebensstil (abgebildet durch die Kategorien „körperliche Aktivität, Übergewicht, Zigarettenkonsum“) von Arbeitnehmern und der Produktivität in Unternehmen, die anhand der Indikatorvariablen Absentismus und Präsentismus bewertet wird. Eingeschlossen wurden insgesamt 17 Studien, die nach den einschlägigen wissenschaftlichen Regeln bewertet wurden. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich zwischen körperlicher Aktivität und Produktivität ein Trend für einen positiven Zusammenhang ableiten lässt. Insgesamt ist die Datenlage jedoch inkonsistent, da einige Studien negativ sind oder die Effektstärke schwach ausgeprägt war. Zwischen Übergewicht bzw. Adipositas und Absentismus ergab sich eine positive Assoziation, zudem korrelierte der Body Mass Index (BMI) negativ mit der Produktivität. Zwischen Zigarettenkonsum und Produktivität zeigte sich (ein geringer) negativer Zusammenhang. Im Fazit kommt die Autorin zu dem Schluss, dass sich ein „… statistischer Zusammenhangstrend zwischen den untersuchten Komponenten des Lebensstils und der Produktivität vertreten lässt …“ Damit dürfte sie kritische Arbeitgeber allerdings kaum überzeugen. So sieht die Autorin denn auch unveränderten Bedarf für qualitativ hochwertige Studien, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass neuere Studien negative Return-on-Investment-Quoten für einzelne Maßnahmen erbracht haben.

Dem kann man sich aus arbeitsmedizinischer Sicht nur anschließen. So klar, wie es vermeintlich scheint, ist die Sachlage also nicht. Selbstredend dürfen Unternehmen auch aus sozialen Motiven „Gutes“ tun, aber letztlich wird es ohne eindeutig positive wirtschaftliche Ergebnisse keine nachhaltige Implementierung geben. geben. Unabhängig von einer notwendigen kritischen Diskussion methodischer Fragen (u. a. Studiendesign, Auswahl der Studien, Produktivitäts- und Gesundheitsindikatoren, Qualität) werden sich Fortschritte nur in einem intensiviertem interdisziplinären Dialog (unter aktiver Beteiligung der Arbeitsmedizin) erzielen lassen. Bedauerlicherweise erscheint der Kaufpreis dieser gerade auch für Arbeitsmediziner sehr interessanten Arbeit mit fast 80,– Euro unangemessen hoch und dürfte einer weiten Verbreitung im Wege stehen. Vielleicht lässt sich jedoch ein „Kondensat“ als Publikation in der ASU realisieren, damit möglichst viele Kolleginnen und Kollegen am Wissen teilhaben können.

A. Weber, Dortmund

Jetzt weiterlesen und profitieren.

+ ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
+ Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
+ Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

Premium Mitgliedschaft

2 Monate kostenlos testen

Tags