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Erwartungen an die Arbeitsmedizin aus gewerkschaftlicher Sicht

Aufgaben der Arbeitsmedizin im Betrieb

Eine sehr gute Übersicht zu den Aufgaben der Arbeitsmedizin im Betrieb gibt § 3 des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz – ASiG) von 1973. Die Liste reicht von der Beratung des Arbeitgebers bei der Planung und Unterhaltung von Betriebsanlagen, geht über die Beratung hinsichtlich der Arbeitszeit und Pausenregelung oder die Beurteilung der Arbeitsbedingungen, die regelmäßige Begehung der Arbeitsstätten bis hin zur Untersuchung der Beschäftigten und deren Beratung. Weiter konkretisiert und aktualisiert sind diese Aufgaben in der DGUV Vorschrift 2 (2010) und werden darin zudem einer Ermittlung und Festlegung betrieblicher Einsatzzeiten zugeführt. Und mit der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) von 2008 beziehungsweise ihrer novellierten Fassung von 2013 wird eine wichtige Aufgabe, die arbeitsmedizinische Vorsorge, in einer eigenen Verordnung konkretisiert. Damit sind die Aufgaben recht weitreichend umrissen.

Die Erwartung aus gewerkschaftlicher Sicht ist, dass die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte diese Aufgaben im Rahmen des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes engagiert wahrnehmen, dabei mit anderen betrieblichen Akteuren sowie den Betriebsräten zusammenarbeiten, was ebenfalls zu ihren Aufgaben gehört (!), und den Kontakt zu den Beschäftigten auch außerhalb von ärztlichen Untersuchungszimmern suchen. Damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht!

Betriebliche Veränderungen

Dem Grunde nach sind die Aufgabenfelder der Betriebsärzte zwar seit den Siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute gleich geblieben. Doch ist ihre konkrete Ausfüllung ungleich komplexer und anspruchsvoller geworden, denn die Bedingungen in den Betrieben haben sich seither stark verändert und entwickeln sich permanent weiter. Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel sind Faktoren, die auf die Betriebe einen hohen Veränderungsdruck ausüben. Ob wir am Beginn einer vierten Industriellen Revolution stehen, wie der Hype um die „Industrie 4.0“ nahelegt, sei dahingestellt. Fest steht jedoch, dass Digitalisierung und Vernetzung bereits jetzt die Prozesse in Produktion und Verwaltung erheblich verändern.

Zudem erleben wir weitere tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt, die aus einem erhöhten Renditedruck und dem Streben nach immer mehr Effizienz resultieren. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Unternehmensstrukturen. So ist in vielen Unternehmen die Arbeitsmedizin in den vergangenen Jahren unter einen erheblichen Legitimationsdruck geraten. Und insgesamt werden Prozesse der Arbeitsgestaltung und Leistungspolitik oder auch der Personalstrategien und Veränderung von Beschäftigungsverhältnissen dadurch angetrieben. Die Folgen für die Beschäftigten werden von Soziologen mit den Begriffen der „Entgrenzung von Arbeit“ sowie einer zunehmenden „Prekarisierung“ der Beschäftigung charakterisiert.

„Entgrenzung“ bedeutet, dass Arbeit sowohl zeitlich als auch räumlich als auch hinsichtlich der abgeforderten Leistung grenzenlos geworden ist. Und mit dem Begriff der „Prekarisierung“ wird darauf Bezug genommen, dass Beschäftigungsverhältnisse längst nicht mehr nur unter relativ gesicherten sozialversicherten und tarifvertraglich geregelten Bedingungen existieren.

Es kann an dieser Stelle nicht näher auf die konkreten Prozesse und Folgen eingegangen werden. Unstrittig ist aber, dass sie erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten haben. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass die physischen Belastungen der Beschäftigten insgesamt in den vergangenen Jahren nicht abgenommen und die psychischen Belastungen eine immer größere Bedeutung erhalten haben (vgl. dazu die BIBB/BauA-Erwerbstätigenbefragungen 1998/99 bzw. 2011/2012 sowie aktuell den DGB-Index 2015, Beschäftigtenbefragung der IG Metall 2013). Doch statt mit ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilungen die Probleme aufzuspüren und Arbeitsschutzmaßnahmen festzulegen, gibt es nach wie vor erhebliche Defizite hinsichtlich ihrer Durchführung (vgl. dazu die GDA-Evaluation oder auch die WSI Betriebs- und Personalrätebefragung 2015).

Betriebsärzte, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen Arbeit und Gesundheit auseinandersetzen sollen, sind hier gefordert. Sie müssen Gesundheitsgefährdungen und arbeitsbedingte Erkrankungen erkennen sowie Vorschläge und Konzepte entwickeln, wie die Gesundheit der Beschäftigten geschützt werden kann.

Verhältnis- und Verhaltensprävention

Es besteht grundsätzlich Konsens, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz am wirkungsvollsten ist, wenn er präventiv ausgerichtet ist. Mit einer gesundheitsgerechten Gestaltung der Verhältnisse, unter denen gearbeitet wird, können Gesundheitsgefahren minimiert und möglichst ganz ausgeschlossen werden. Es geht also darum, Verhältnisprävention zu betreiben. Mit Bezug unter anderem auf das ASiG ist klar, dass hier die Arbeitsmediziner gefordert sind. Sie können einen wirkungsvollen Beitrag leisten, indem sie den Arbeitgeber beraten und arbeitsmedizinische Erkenntnisse in die Gestaltung der Verhältnisse einbringen. Von gewerkschaftlicher Seite besteht die Erwartung, dass die Arbeitsmedizin diesen Beitrag engagiert und qualifiziert leistet.

Leider müssen wir feststellen, dass hier Defizite bestehen und noch sehr viel „Luft nach oben“ ist. Denn es ist keineswegs obligatorisch, dass arbeitsmedizinische Kompetenz bei der Ausgestaltung abgefragt wird. Oft wird sie allerdings auch nicht angeboten. Stattdessen lassen sich Betriebsärzte darauf reduzieren, die einzelnen Beschäftigten zu untersuchen. Selbstverständlich gehören Untersuchungen zum ärztlichen Aufgabenspektrum. Doch sie sollen die Analyse der Arbeitsplätze nur ergänzen. Untersuchungsmedizin birgt die Gefahr, die Arbeitsplätze aus dem Blick zu verlieren.

Auch mit der „neuen“ ArbMedVV ist es bisher noch nicht gelungen, dieses Verständnis zu verändern. Im Gegenteil: Arbeitsmedizinische Vorsorge wird häufig mit arbeitsmedizinischer Untersuchung gleich gesetzt. Und die Prüfung im Einzelfall, ob eine solche Untersuchung erforderlich ist, wird „abgekürzt“: Es wird untersucht.

Die ArbMedVV betont ausdrücklich den Beratungsaspekt im Rahmen der Vorsorge. Doch auch hier reißen die Berichte aus den Betrieben nicht ab, dass sich die Beratung nicht auf die Wechselwirkungen zwischen der konkreten Tätigkeit und der Gesundheit sowie die erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen bezieht. Vielmehr werden die Beschäftigten dahingehend beraten, was sie eigenverantwortlich hinsichtlich ihrer Gesundheit tun sollten. Beratung über mögliche Gesundheitsgefährdungen aufgrund der Tätigkeit tritt in den Hintergrund.

Eine solche Aussage aus gewerkschaftlicher Sicht mag bei dem einen oder anderen Unverständnis oder Kopfschütteln auslösen. Aber sie ist notwendig vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Erfahrungsberichten und Auseinandersetzungen in den Betrieben.

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang Akzentverschiebungen, die sich hinsichtlich der Aufgabenstellungen für die Arbeitsmedizin seit einigen Jahren erkennen lassen. Vermehrt wird die Notwendigkeit der Verhaltensprävention betont. Beschäftigte sollen die Verantwortung für die eigene Gesundheit durch gesundheitsgerechtes und -förderndes Verhalten wahrnehmen. Hier werden Defizite gesehen, die zu beheben sind. Als Beispiele gerne genannt werden männliche Beschäftigte, vorzugsweise aus Industriebetrieben, die zu dick sind, sich zu wenig bewegen und auch noch rauchen. Viele Arbeitsmediziner sehen ihren Auftrag in erster Linie darin, Lebensstilberatung anzubieten. Unter welchen Bedingungen die Beschäftigten arbeiten, tritt in den Hintergrund. Dass der Schweißer nicht geeignet sei für das Arbeiten unter Atemschutz, wird gerne attestiert. Dass eine Absaugung der Schweißrauche ein „Mittel der Wahl“ im Arbeitsschutz wäre, bleibt unberücksichtigt.

Für gesundheitsgerechtes Verhalten umfassende Information, Beratung und Unterstützung anzubieten, um die Gesundheitskompetenz zu fördern, ist selbstverständlich wichtig und kann von Ärztinnen und Ärzten auch zu recht erwartet werden. Doch was eine Ergänzung des Arbeitsschutzes sein kann, entwickelt sich in Positionspapieren, Stellungnahmen oder Konzepten immer mehr zu seinem zentralen Instrument. Aus gewerkschaftlicher Sicht steckt darin eine Gefahr. Die Verantwortung des Arbeitgebers für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse wird relativiert und immer stärker auf die Beschäftigten verlagert. Die individuelle Verantwortung für die Gesundheit wird inflationär betont und in der Konsequenz der Stellenwert der Verhältnisprävention relativiert.

Ein solches Konzept erinnert fatal an die Sozialstaatsdebatten aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen mit dem Konzept der Aktivierung und Eigenverantwortung der Sozialstaat immer weiter abgebaut wurde. Soll hier der Weg bereitet werden für eine andere Arbeitsmedizin? Die andauernden Auseinandersetzungen um eine vermeintliche Notwendigkeit von Eignungsuntersuchungen und Gesundheits-Checks oder auch die Propagierung von Gesundheits-Apps und Selftracking lassen dies vermuten.

Rolle der Arbeitsmediziner im Betrieb

Es bleibt festzuhalten, dass es Aufgabe der Arbeitgeber ist, für die Sicherheit und den Schutz der Gesundheit der Beschäftigten durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sorgen und die Arbeit so zu gestalten, dass Gefährdungen möglichst vermieden beziehungsweise gering gehalten werden (Arbeitsschutzgesetz).

Die Rolle der Betriebsärzte ist es, mit ihrer fachlichen und sozialen Kompetenz den Arbeitgeber bei diesen Aufgaben zu unterstützen. Darüber hinaus haben Beschäftigte ein Recht auf eine qualifizierte Beratung und Betreuung. Arbeitsmediziner können Gesundheitsmanager (nicht „Manager“) des Betriebes sein. Es sei daran erinnert, dass sie aufgrund ihrer Weisungsfreiheit eine besondere Stellung im Betrieb haben. Nur so kann auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Beschäftigten – nicht Patienten! – entstehen, das für einen wirkungsvollen medizinischen Arbeitsschutz erforderlich ist.

Nachwuchsmangel in der Medizin – Ressourcen verantwortlich einsetzen

Gerade vor dem Hintergrund der Nachwuchsprobleme, die es auch in der Arbeitsmedizin gibt, ist aus unserer Sicht kritisch zu prüfen, welche Aufgaben von Betriebsärzten wahrgenommen werden sollten. Wenn öffentlich Bedenken geäußert werden, dass die Betreuung gemäß der DGUV Vorschrift 2 nicht realisiert wird, stellt sich ernsthaft die Frage, inwiefern dann nicht einzelne Aufgaben von anderen Berufen ausgeführt werden sollten. Ob dabei Delegation oder andere Formen einer Arbeitsteilung gewählt werden, muss hier unbeantwortet bleiben. Aber wenn dabei das Argument der Qualitätssicherung bemüht wird, dann sollte dies sicher auch hinsichtlich der Telemedizinkonzepte kritisch angewandt werden, die als Lösungsansatz zur Sicherung der Betreuung in der Debatte sind.

Kritisch einzuschätzen ist, wenn zum bisherigen Aufgabenpaket auch noch Verträge mit den Krankenkassen zur Durchführung von Gesundheitschecks in den Betrieben vereinbart werden sollen, wie sie mit dem Präventionsgesetz nun möglich sind. Defizite im Gesundheitswesen, wie etwa die unterschiedlichen Gesundheitschancen in unserer Gesellschaft, werden über das Setting Betrieb nicht zu lösen sein. Die Chance des Präventionsgesetzes sollte vielmehr vorrangig darin gesehen werden, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Notwendigkeit von mehr Prävention zu fördern und die verschiedenen Versorgungsbereiche besser miteinander zu verzahnen. Was spricht dagegen, niedergelassene Ärzte mit den Ursachen und Folgen arbeitsbedingter Erkrankungen zu konfrontieren?

Betriebsärzte haben im Arbeits- und Gesundheitsschutz wichtige Aufgaben. Dafür brauchen sie nicht nur eine hohe fachliche Qualifikation. Wichtig ist auch, die Kommunikation und Kooperation mit den anderen Akteuren im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz zu pflegen. Dass Betriebs- und Personalräte über ihre Mitbestimmungsrechte weitreichende Handlungsmöglichkeiten im Arbeits- und Gesundheitsschutz haben, die für die Gestaltung guter Arbeit genutzt werden können, kann für engagierte Betriebsärzte eine gute Unterstützung sein.

    Autorin

    Petra Müller-Knöß

    IG Metall Ressort Arbeits- und Gesundheitsschutz

    Unter anderem Mitglied im AfAMedfür die Gewerkschaften.

    petra.mueller-knoess@igmetall.de

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