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Arbeit 4.0 aus Sicht der DGAUM

Vierzehn Thesen zum Stand und zum Entwicklungsbedarf der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung

Im Rahmen der Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung wurde der Begriff Industrie 4.0 geprägt und erstmals im Rahmen der Hannovermesse 2011 einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Industrie 4.0 steht für eine bestimmte Weiterentwicklung der industriellen Fertigungstechnologie, in der sämtliche Produktionsabläufe und die darin eingesetzten Produkte digital miteinander vernetzt sind (siehe „Weitere Infos“: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2015). In Analogie zum Terminus „Industrie 4.0“ wurden in den letzten Jahren unter anderem die Begriffe Arbeit 4.0, Gesellschaft 4.0, Medizin 4.0 und auch Mensch 4.0 geprägt.

Prof. Dr. Karsten Weber von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg hat sich vor kurzem wie folgt zu dieser Thematik geäußert: „Entsprechende Szenarien vermitteln den Eindruck, dass Digitalisierung, Automatisierung, Globalisierung, Ressourceneffizienz sowie zunehmender Wettbewerbs- und Erfolgsdruck gesellschaftliche Phänomene sind, denen sich MENSCH ergeben muss“ (s. „Weitere Infos“: Weber 2016).

Ob sich der Mensch dieser Entwicklung tatsächlich „ergeben“ muss oder diese nicht doch wenigstens ein Stück weit autonom gestalten kann, wird die Zukunft zeigen. Sicherlich werden die Digitalisierung und Vernetzung sowohl die Arbeit als solche als auch unsere Gesellschaft insgesamt verändern. In diesem Kontext haben wir darauf zu achten, dass der mit der Digitalisierung verbundene Fortschritt letztendlich nicht in einen sozialen Rückschritt umschlägt und erfolgreiche Systeme des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens wie beispielsweise die sozialen Sicherungssysteme dem Fortschritt geopfert und aufgelöst werden. Ein wesentlicher Bereich ist die Lebenswelt „Arbeitsplatz“ und der entsprechende Gesundheitsschutz. Derzeit entwickeln sich hier neue Arbeitsformen, etwa Cloud Working oder Crowdworking, mit zunehmender Auflösung klassischer Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Strukturen, nicht mehr ortsgebundenen Arbeitsplätzen und einer Verschiebung unternehmerischer Risiken von gewinnorientierten Unternehmern auf einzelne Leistungserbringer.

Zudem erfordern ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen: Man denke nur an das Aufweichen klassischer Rollenbilder, eine Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit, oftmals gepaart mit dem Wunsch beziehungsweise dem Versprechen nach privater Aktivität. Auch haben wir uns zu vergegenwärtigen, dass die fortschreitende Digitalisierung des privaten Umfelds und nicht zuletzt der demografische Wandel eine Neuausrichtung des gesamten Gesundheitssystems in Deutschland einschließlich der Arbeitsmedizin nach sich ziehen werden.

Für den Bereich des medizinischen Gesundheitsschutzes der erwerbstätigen Bevölkerung hat die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) 14 Thesen zum Stand und Entwicklungsbedarf der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland formuliert ( Tabelle 1). Diese Thesen setzen zunächst bei der aktuellen Situation der Arbeitsmedizin in Deutschland an und beschreiben unter der Überschrift „Arbeitsmedizin 4.0“ die kurzfristigen und mittelfristigen Herausforderung an eine arbeitsmedizinische Betreuung der Erwerbstätigen und berücksichtigen dabei auch die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen (s. „Weitere Infos“: DGAUM 2015).

Originäre Aufgaben der Arbeitsmedizin sind unter anderem die arbeitsmedizinische und präventivmedizinische Beratung der Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen sowie der Arbeitgeber/Arbeitgeberinnen an der Schnittstelle zwischen Erwerbstätigkeit und Gesundheit bzw. Krankheit. Aufgrund der sich neu entwickelnden Erwerbsverhältnisse, muss der Begriff Arbeitnehmer/Arbeitnehmerinnen unter Berücksichtigung von Arbeit 4.0 weiter gefasst werden und sowohl angestellte Mitarbeiter als auch selbstständig tätige Personen in neuen Arbeitsformen (z. B. Cloudworking, Crowdworking) umfassen. Damit die Arbeitsmedizin ihren Aufgaben auch in einer Arbeitswelt 4.0 gerecht werden kann, sind die Voraussetzungen des Faches zu präzisieren. In den 14 Thesen der DGAUM zur Arbeitsmedizin 4.0 werden daher folgende Bereiche präzisiert:

  • Prävention als vierte Säule des Gesundheitssystems
  • Selbstverständnis einer präventiven Arbeitsmedizin 4.0
  • Voraussetzungen für eine Arbeitsmedizin 4.0

Prävention als vierte Säule des Gesundheitssystems (Thesen 1, 2, 9)

Prävention umfasst nicht nur die Verhinderung von Erkrankungen, sondern neben der Gesundheitsförderung und Primärprävention auch die Bereiche der Sekundärprävention, Tertiärprävention und quartären Prävention ( Abb. 1).

Unter Berücksichtigung des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft sowie der kontinuierlichen Steigerung der Kosten im Gesundheitssystem muss der Prävention in einer Arbeitswelt 4.0 unter anderem neben der kurativen Medizin und der Pflege eine ganz herausragende Bedeutung zukommen. Die Arbeitsmedizin als präventivmedizinische Disziplin ist hierbei essentiell.

Der durch das Präventionsgesetz definierte Ansatz von Prävention in den Lebenswelten ist hierbei eine gute Ausgangsbasis. Die Lebenswelt Betrieb/Arbeit muss unter Berücksichtigung der Entwicklung zur Arbeit 4.0 auch die kleinen und mittleren Unternehmen sowie insbesondere die neuen selbstständigen Arbeitsformen bzw. Erwerbsverhältnisse mit berücksichtigen. Zudem ist die im Präventionsgesetz vorgegebene Qualitätssicherung und Evidenzüberprüfung von präventiven Maßnahmen dringend zu fordern. Dieser Bereich wird unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten unter quartärer Prävention zusammengefasst.

Selbstverständnis einer präventiven Arbeitsmedizin 4.0 (Thesen 3 – 8)

Auch in einer Arbeitswelt 4.0 sind die Grundvoraussetzungen des arbeitsmedizinischen Denkens und Handelns die Kenntnisse der allgemeinen und der individuellen Belastungen bei der Erwerbsarbeit sowie deren Interaktionen mit der Gesundheit.

Eine Gefährdungsbeurteilung bzw. Risikobeurteilung als Teil einer planvollen Organisation aller komplexen Maßnahmen zum Zweck der Erhaltung und Förderung der Gesundheit (Betriebliches Gesundheitsmanagement) muss Grundlage einer Arbeitsmedizin 4.0 sein. Für eine Weiterentwicklung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) gilt es, sowohl die Schnittstelle zwischen präventiver Arbeitsmedizin und kurativer Medizin neu zu überdenken als auch neue Formen der Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Gegebenenfalls ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ zu überdenken und dessen Bedeutungsgehalt neu zu bestimmen.

Der Gesundheitsschutz im betrieblichen Umfeld ist durch diverse Gesetze (z. B. ASchG, ASiG) und Verordnungen (z. B. ArbMedVV) geregelt. Diese sind auf die traditionellen Arbeitsgeber-Arbeitnehmer-Strukturen ausgerichtet. Neue Arbeitsformen sowie eine mobile Arbeitswelt mit Überschreitungen von Staatsgrenzen bedürfen mittelfristig einer Novellierung der entsprechenden Regelwerke. Auch eine Arbeitsmedizin 4.0 wird Rahmenvorgaben und Leitplanken für ihr präventivmedizinisches Handeln benötigen, die einzelnen Maßnahmen müssen sich jedoch verstärkt an den arbeitsmedizinischen Fachkenntnissen orientieren.

Voraussetzungen einer Arbeitsmedizin 4.0 (Thesen 10 –14)

Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 werden sicherlich zu wesentlichen Veränderungen der Belastungen und Beanspruchungen der Erwerbstätigkeit führen. Die hierfür erforderlichen wissenschaftlichen Grundlagen für eine Arbeitsmedizin 4.0 müssen an entsprechenden unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtungen erarbeitet werden. Den arbeitsmedizinischen Universitätsinstituten kommt hierbei eine wesentliche Aufgabe zu.

Eine weitere wichtige Aufgabe wird es sein, Prävention und Arbeitsmedizin noch besser in der grundständigen medizinischen Ausbildung im Studium der Humanmedizin zu verankern. Eine qualitätsgesicherte und effiziente ärztliche Tätigkeit wird in einer Welt 4.0 ohne ein breites präventivmedizinisches und arbeitsmedizinisches Basiswissen nicht möglich sein. Arbeitsmedizin 4.0 erfordert daher eine nachhaltige Stärkung der universitären Arbeitsmedizin.

Im Rahmen flankierender Maßnahmen bedürfen Gesellschaft und Politik einer fundierten Beratung und Begleitung auf der Grundlage wissenschaftlicher arbeitsmedizinischer und präventiver Erkenntnisse. Arbeitsmedizin 4.0 hat sich hier einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag zu stellen und diesen zu erfüllen.

Fazit

Zusammenfassend ist festzustellen: Arbeit 4.0 und Industrie 4.0 bedürfen einer effizienten und qualitätsgesicherten Arbeitsmedizin 4.0, die sich aus der aktuellen Arbeitsmedizin entwickeln muss. Die 14 Thesen zum Stand und Entwicklungsbedarf der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland der DGAUM sollen diesen Prozess anstoßen und befördern helfen.

Literatur

Letzel S, Nowak D: Einführung in die Prävention und Gesundheitsförderung. Handbuch der Arbeitsmedizin. 2. Erg. Lfg. 3/07. Landsberg: ecomed, 2007.

    Weitere Infos

    Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Grünbuch Arbeiten 4.0. 2015

    www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/gruenbuch-arbeiten-vier-null.pdf?__blob=publicationFile

    Weber K: MENSCH 4.0 Der Mensch nach Maß – schöne neue Welt?! 2016

    https://www.b-tu.de/en/news/artikel/5988-mensch-40-der-mensch-nach-mass-schoene-neue-welt

    DGAUM: Arbeitsmedizin 4.0 – Thesen der Arbeitsmedizin zum Stand und Entwicklungsbedarf der betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland. 2015

    www.dgaum.de/fileadmin/PDF/Stellungnahmen_Positionspapiere/Arbeitsmedizin_4.0_Broschüre_final.pdf

    Für die Autoren

    Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Stephan Letzel

    Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM)

    Schwanthaler Straße 73 b

    80336 München

    gs@dgaum.de

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