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Interdisziplinärer trinationaler Masterstudiengang Versicherungsmedizin mit Tübinger Beteiligung

Die Begutachtungskompetenz stärken

Versicherungsmedizin

Begutachtungen zu medizinischen Sachverhalten werden zu Fragestellungen aus im-mer mehr Lebenslagen erforderlich. Die An-lässe reichen vom medizinischen Attest für die Reiserücktrittsversicherung über die ärzt-liche Stellungnahme, wenn ein Zahnersatz ansteht, bis hin zur Begutachtung bei einem Kostenträger, wenn ein noch in der Erprobung befindliches Medikament bei unheilbarer Krankheit als letztes Mittel Hilfe verspricht. Die Auswirkungen von Begutachtungsergeb-nissen betreffen das tägliche Leben. Die Ver-sicherungsmedizin befasst sich mit den Beziehungen zwischen PatientInnen, Versicherungsunternehmen und den medizinischen Leistungserbringern. Versicherungsmedizin setzt sich interdisziplinär mit Themen der sozialen und privaten Versicherungssysteme in Forschung, Lehre, Weiter- und Fortbildung sowie in der Beratung auseinander, um Zu-sammenhänge zwischen Gesundheit, Arbeit und Krankheit aufzuzeigen (Baur u. Nigst 1985). Versicherungsmedizinische Kompe-tenz bildet die Grundlage bei Entscheidungen zur Versicherbarkeit von Risiken, bei der Nutzung und Finanzierung des medizini-schen Fortschritts für den Einzelnen und bei der Leistung z. B. im Krankheitsfall, bei (Arbeits-)Unfall oder Berufskrankheit (Schröder 2011). Bedingt u. a. durch die steigende Bedeutung der Arbeitsunfähigkeit (Meyer et al. 2014; s. auch „Weitere Infos“) und durch die demografische Entwicklung (Repschläger 2012, s. „Weitere Infos“) gewinnt die Versicherungsmedizin an Impact in der Versorgung.

Versicherungsmedizin – Angebote im In- und Ausland

Trotz der hohen Relevanz versicherungsmedizinischer Fragestellungen wird der Disziplin im internationalen Kontext bisher nur ein begrenzter Stellenwert eingeräumt. Nur in wenigen europäischen Ländern bestehen Fort- und Weiterbildungsangebote (Donceel 2008; Gyr u. Bollag 2005; Hakimi 2012; Rijkenberg u. Vervoort 2011; Wandl u. Bollag 2011). In Deutschland können interessierte Ärztinnen und Ärzte die strukturierte curriculare Fortbildung „Medizinische Begutachtung“ nach Vorgaben der Bundesärztekammer absolvieren (Bundesärztekammer 2014). Seit einigen Jahren nehmen allerdings die Bestrebungen zu, die Disziplin als interdisziplinäre Fachrichtung an den Hochschulen zu etablieren (Gyr u. Bollag 2005). Als erste und bisher einzige univer-sitäre Einrichtung im deutschsprachigen Raum wurde am Universitätsspital Basel die Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) begründet (Stöhr 2006). Die asim untersucht Fragestellungen aus der versicherungsmedizinischen Praxis, fördert eine evidenzbasierte Versicherungsmedizin und leistet der weiteren Professionalisierung der Disziplin Vorschub.

Neuer Masterstudiengang mit Tübinger Beteiligung

Ausgehend von einem früheren Nachdiplom-Studiengang bietet die asim seit 2011 einen dreijährigen postgradualen Masterstudien-gang Versicherungsmedizin an (Master of Advanced Studies, MAS, 60 ECTS), der interdisziplinär ausgerichtet ist und berufsbegleitend an der Universität Basel in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und der Medizinischen Universität Wien absolviert werden kann.

Fokussiert werden neben dem schweizerischen System auch Deutschland und Österreich. Im Masterstudiengang sollen die Studierenden Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, um komplexe Fragestellungen analysieren und Lösungen erarbeiten zu können, die grenzüberschreitend das Lernen von den Besten ermöglicht. In ihrem Abschlussbericht im Jahre 2006 hatte die Medizinstrukturkommission Baden-Würt-temberg auf Defizite bei der Aus- und Weiterbildung in der Versicherungsmedizin in Deutschland hingewiesen und die Empfehlung zum Aufbau eines entsprechen-den Angebots gegeben (s. „Weitere Infos“). Dieser Anstoß wurde von der Medizinischen Fakultät Tübingen aufgegriffen, indem sich das Tübinger Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung und die Stabstelle Sozialmedizin des Universitätsklinikums am Masterstudiengang beteiligten. Das Auslandsmodul in Tübingen findet einmal jährlich im September statt.

Zielsetzung des Tübinger Engagements

Die Tübinger Lehrenden konzipieren und gestalten wesentlich das Modul „Arbeit und Gesundheit“ sowie das „Auslandsmodul Deutschland“. Darüber hinaus werden auch maßgebliche Aspekte des deutschen Sozialversicherungssystems in verschiedene thematische Module des Masterstudiengangs eingebracht. Besondere Anliegen sind dabei die Stärkung der Versorgungsgerechtigkeit durch hochqualifizierte Begutachtung und das grenzüberschreitende Lernen, wenn es darum geht, gute Strukturen in den sozialen Sicherungssystemen in Europa zu definieren und zukunftsfähig zu erhalten. Die von zahl-reichen ExpertInnen des deutschen Gesund-heitssystems vermittelten Themen der ange-botenen Module sind vielfältig und setzen sich u. a. mit komplexen Begutachtungs-fragen in der Frauenheilkunde, der Metho-denbewertung im Gemeinsamen Bundesausschuss, der gesetzlichen Unfallversiche-rung in Deutschland, der privaten Versicherung bei Berufsunfähigkeit oder Krankheit, der Teilhabe für Erwerbstätige und der Begut-achtung in der Pflegeversicherung bzw. Ren-tenversicherung auseinander ( Tabelle 1). Um den Teilnehmenden auch praxisbezogene Elemente des Begutachtungs- und Ver-sicherungssystems in Deutschland zu vermitteln, öffnen in der Modulwoche an ei-nem Tag verschiedene Einrichtungen der Gesundheitsversorgung aus dem Raum Tübin-gen – Stuttgart ihre Türen und ermöglichten einen Einblick vor Ort (z. B. Berufsgenossen-schaftliche Klinik oder Bezirksärztekammer). Diese sog. Site Visits tragen zum gegenseitigen interdisziplinären Austausch und zur Vernetzung bei und wurden bisher sowohl von den Teilnehmenden als auch von den aufnehmenden Institutionen besonders gewürdigt. Im Modul „Arbeit und Gesundheit“, das jeweils im zweiten Studienjahr in Basel ausgerichtet wird, stellen verschiedene ExpertInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz u. a. die Grundlagen von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit, Gestaltungsmöglichkeiten des Berufskrank-heitenrechts im internationalen Vergleich und das breite Feld der betrieblichen Wiedereingliederung dar. Beide aus Tübingen mitverantworteten Module ergänzen somit das breite und interdisziplinär ausgerichtete Studienangebot im Masterstudiengang Versicherungsmedizin ( Tabelle 2) entspre-chend der in Tübingen vorhandenen Expertisen.

Wahlpflichtveranstaltung Versicherungsmedizin

An der Medizinischen Fakultät Tübingen besteht für Studierende der Humanmedizin die Möglichkeit, das einwöchige Auslandsmodul des Masterstudiengangs als Wahlpflichtveranstaltung (WPV) zu besuchen, das als Wahlfach Sozialmedizin angerechnet wird. Das (entsprechend der Studien-ordnung aus 40 Unterrichtseinheiten bestehende) WPV hat zum Ziel, Studierenden der Medizin ab dem 5. bis 9. Fachsemester die sozialen und privaten Versicherungssysteme und ihre Auswirkungen auf die medizinische Versorgung und die Gesell-schaft zu vermitteln. Entsprechend scheint eine frühzeitige Sensibilisierung von Medizinstudierenden für die Thematik sinnvoll (Simoes et al. 2012). Die bislang an der Wahlpflichtveranstaltung teilnehmenden Tübinger Studierenden beschrieben neben den Inhalten vor allem die vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten mit den bereits im Versicherungswesen tätigen Masterstudierenden als sehr wertvoll und empfahlen die Veranstaltung auch an Mitstudierende.

Zusammenwachsen in Europa auch beim Thema Soziale Sicherung

An allen drei beteiligten Universitäten wird ein starkes Gewicht auf die Vermittlung von notwendigem Basiswissen der Gebiete Epidemiologie, Evidenzbasierte Medizin, Rechts-anwendung, Statistik, Versicherungsmathematik und Ethik sowie den Transfer dieser Disziplinen in das Berufsfeld Versicherungsmedizin gelegt. Einen weiteren Schwerpunkt speziell im Tübinger Auslandsmodul stellt die Thematik Gender in der Versicherungsmedizin dar. Derzeit ist der Studiengang an der Universität Basel beheimatet – eine zusätzliche Akkreditierung dieses ersten international ausgerichteten Master-studiengangs für Versicherungsmedizin auch in Tübingen ist bei erfolgreichem Verlauf der Pilotphase denkbar, um das Zusammenwachsen in Europa auch beim Thema Soziale Sicherung weiter zu fördern. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften in der versicherungsmedizinischen Begutachtung ist europaweit steigend und wird allein in Deutschland mit 28 000 beziffert (Wandl u. Bollag 2011). Der Masterstudiengang kann in diesem Zusammenhang dazu beitragen, entsprechende Kompetenzen zielgerichtet zu vermitteln.

Schlussfolgerungen für die Praxis

Für die Fortbildung in Versicherungsmedizin standen bisher verschiedene Fortbildungskurse, sowie das Selbststudium im Vordergrund. Das postgraduale Masterstudium Ver-sicherungsmedizin greift die Thematik syste-matisiert auf, betont deren Interdisziplinarität und gesamteuropäische Bedeutung und ermöglicht den Erwerb eines akademischen Abschlusses. Es soll die Teilnehmenden zu herausgehobener Schnittstellenkompetenz und interdisziplinärer Kommunikation und Zusammenarbeit befähigen, wie sie in allen Feldern der Versicherungsmedizin für Begut-achtung und Beratung, aber auch für Lehre und Forschung benötigt werden.

Danksagung und Finanzierung: Wir danken Frau lic. iur. Yvonne Bollag, asim, für die kri-tische Durchsicht und Anmerkungen zum Manuskript. Das Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung sowie alle ReferentInnen erhalten eine Aufwandsentschädigung für die Mitwirkung am postgradualen Masterstudiengang Versiche-rungsmedizin. Die Arbeit des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versor-gungsforschung Tübingen wird finanziell unterstützt durch den Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e. V. (Südwestmetall).

Literatur

Baur E, Nigst H: Versicherungsmedizin: Ein Leit-faden für Studenten, Gutachter und praktizierende Ärzte. Bern: Huber, 1985.

Bundesärztekammer: Strukturierte curriculare Fortbildung „Medizinische Begutachtung“, 3. Aufl. Berlin: Eigenverlag, 2014.

Donceel P: Development of an academic training program in insurance medicine. J Insur Med 2008; 40: 212–217.

Gyr N, Bollag Y: Versicherungsmedizin – ein univer-sitäres Fachgebiet? Schweiz Ärzteztg 2005; 86: 1400.

Hakimi R: Gesellschaftsarzt in der privaten Kranken-versicherung: Die medizinische Instanz. Dtsch Ärztebl 2012; 109: A251–A254.

Meyer M, Modde J, Glushanok I (2014): Krankheitsbedingte Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2013. In: Badura B et al. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2014. Berlin: Springer, 2014, S. 323–375.

Repschläger U: Der Einfluss der demographischen Entwicklung auf die Gesundheitsausgaben in Deutschland. BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2012, S. 26–45.

Rijkenberg AM, Vervoort F: Der Facharzt für Ver-sicherungsmedizin – die Weiterbildung in Flandern. Versicherungsmedizin 2011; 63: 191–193.

Schröder B: Versicherungsmedizinische Kompetenz als Wettbewerbsfaktor. Versicherungsmedizin 2011; 63: 173–176.

Simoes E, Hildenbrand S, Rieger MA: (Inter)nationale und regionale Gesundheitsziele in der sozialmedizini-schen Lehre. Lehrkonzeption für Medizinstudierende an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Gesundheitswesen 2012; 74: 442–448.

Stöhr S: asim – Academy of Swiss Insurance Medicine – ein Jahr später. Schweiz Ärzteztg 2006; 26: 1219– 1220.

Wandl U, Bollag Y: Erster deutschsprachiger, länder-übergreifender Masterstudiengang für Versicherungsmedizin. Versicherungsmedizin 2011; 63: 1–2.

    Weitere Infos

    DAK: Gesundheitsreport 2014. Die Rushhour des Lebens

    www.dak.de/dak/download/Vollstaendiger_bundesweiter_Gesundheitsreport_2014-1374196.pdf

    Deutsche Rentenversicherung Bund: Rentenversicherung in Zeitreihen. 2014

    www.deutsche-rentenversicherung.de/cae/servlet/contentblob/238700/publicationFile/50912/03_rv_in_zeitreihen.pdf

    GKV-Spitzenverband: Leistungs-ausgaben insgesamt. Entwicklung 2010–2015

    https://www.gkv-spitzenverband.de/presse/zahlen_und_grafiken/gkv_kennzahlen/gkv_kennzahlen.jsp#lightbox

    Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg: Abschlussbericht der Medizinstrukturkommission – Sachverständigenkommission Universitätsmedizin – Baden-Württemberg, 2006

    https://www.med.uni-freiburg.de/dekanat/service/Medizinstruktur-kommission.pdf#page=1&zoom=auto,-107,107

    Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Gesundheitsausgaben 2004–2013. Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wiesbaden, 2015

    https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/Gesundheitsausgaben.html

    Techniker Krankenkasse: Gesundheitsreport 2013. Berufstätigkeit, Ausbildung und Gesundheit

    www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/516416/Datei/83065/Gesundheitsreport-2013.pdf

    Für die Autoren

    Prof. Dr. med. Elisabeth Simoes

    Department für Frauengesundheit

    Forschungsinstitut für Frauen-gesundheit

    Universitätsklinikum Tübingen

    72076 Tübingen

    elisabeth.simoes@med.uni-tuebingen.de

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