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Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen bei einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der BKV

Leserfrage

Im Rahmen von Berufskrankheiten-Feststel-lungsverfahren gilt es zu prüfen, ob die Tätig-keit versichert ist, die arbeitstechnischen und die medizinischen Voraussetzungen vorliegen sowie der Ursachenzusammenhang gegeben ist. Nur wenn alle Voraussetzungen zutreffen, kann eine Berufskrankheit (BK) an-erkannt und entschädigt werden. Die Vorgehensweise bei Feststellungsverfahren einer BK nach Nr. 2108 der BKV (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule) ist im BK-Report 2/03 „Wirbelsäulenerkrankungen (BK-Nrn. 2108 bis 2110)“; DGUV/HVBG 2004) detailliert dargestellt. Demnach ist die Prüfung des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen verpflichtend. Sie ist Aufgabe des Unfallversicherungsträgers. Da das Verfahren zur Er-mittlung der kumulativen Belastungsdosis der Lendenwirbelsäule (LWS) im Sinne des Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD) auf-wändig ist, kann ein zweistufiges Verfahren angewendet werden, das zunächst eine Vor-prüfung bzw. ein vereinfachtes Beurteilungs-verfahren beinhaltet (DGUV/HVBG 2004).

Einzelne gesetzliche Unfallversicherungs-träger sind dazu übergegangen, zunehmend keine Stellungnahmen der Präventionsdien-ste zum Vorliegen der arbeitstechnischen Vo-raussetzungen zu erstellen. Es erfolgt somit weder eine Vorprüfung noch eine Abschätzung der kumulativen Belastungsdosis der LWS im Sinne des MDD. Tätigkeitsspezifi-sche Belastungen werden stattdessen allein von medizinischen Gutachtern bzw. staatlichen Gewerbeärzten anhand der Versichertenangaben zur Tätigkeit bzw. Beruf und anhand der von Arbeitgebern ausgefüllten standardisierten Fragebögen beurteilt.

Als Gutachter oder auch als beratende Ärzte der Unfallversicherungsträger für die Prüfung der medizinischen Beurteilungskriterien im Sinne der Konsensusempfeh-lungen bei bandscheibenbedingten Erkran-kungen (Bolm-Audorff et al. 2005) werden überwiegend Fachärzte für Orthopädie und/oder Chirurgie beauftragt, die in der Regel keine arbeitsmedizinische Fachkunde besitzen. Eine qualifizierte Beurteilung arbeits-technischer Voraussetzungen kann deshalb nicht erfolgen. Die Ablehnung einer BK 2108 wird in solchen Fällen damit begründet, dass medizinische Voraussetzungen, z. B. im Sinne der Konstellationen B2, B3, B5 oder B6 der Konsensusempfehlungen (Bolm-Audorff et al. 2005), nicht vorliegen. Einerseits ist in den Konsensusempfehlungen aufgeführt, dass das Schadensbild der BK 2108 nicht von chronisch-degenerativen Veränderungen der Bandscheiben in der Allgemeinbevölkerung abgrenzbar ist und das belastungskonforme Schadensbild durch den Vergleich der Veränderungen zwischen Beschäftigten mit hoher Wirbelsäulenbelastung und der Normalbevölkerung charakterisiert wird. Andererseits sind für die Prüfung der A- und B-Konstellationen Kenntnisse tätigkeitsspezifischer Expositionen, bei B-Konstellationen auch der Belastungsintensität und -dosis erforderlich. Da in den oben skizierten Fällen Aktenunterlagen der Unfallversicherungsträger keine Angaben zu den unter Konstellation B genannten Zusatzkriterien wie Belastungsspitzen und MDD-Tagesdosis-Richtwerte enthalten, kann das Vorliegen der meisten B-Konstellationen gar nicht be-urteilt werden.

Im Rahmen des Feststellungsverfahrens der BK 2108 stellen sich folgende Fragen:

  1. 1.Ist eine alleinige medizinische Beurteilung ohne eine vorausgegangene Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen und Stellungnahmen durch Präventions-dienste der Unfallversicherungsträger mit dem BK-Recht vereinbar?
  2. 2.Erfüllt eine alleinige medizinische Be-urteilung bzw. Begutachtung ohne detaillierte Kenntnis der tätigkeitsspezifischen Belastungsintensität und/oder -dosis die Voraussetzungen für die Ein-ordnung der Wirbelsäulenschäden zu den Konstellationen B2, B3, B5 oder B6?

Literatur

Bolm-Audorff U, Brandenburg S, Brüning T et al.: Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheiben-bedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I). Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegut-achtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe. Trauma Berufskrankh 2005; 7: 211–252. www.dguv.de/medien/inhalt/versicherung/dokum/teil1_ws_empf.pdf

DGUV/HVBG (Deutsche Gesetzliche Unfallversiche-rung/Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossen-schaften): BK-Report 2/03 Wirbelsäulenerkrankungen (BK-Nrn. 2108 bis 2110). Hauptverband der gewerbli-chen Berufsgenossenschaften (Hrsg.), Sankt Augustin, April 2004.

Antwort aus medizinischer Sicht

Zu Frage 1: Grundsätzlich ist eine alleinige medizinische Beurteilung einer BK 2108 durch einen sachkundigen Arzt (ist nicht automatisch jeder Unfallchirurg oder Ortho-päde, aber auch ein Arbeitsmediziner ist möglich) nicht hinreichend, wenn es sich aufgrund des Krankheitsbildes (Chondrose ab Grad 2 bzw. Prolaps und direkte Beziehung zwischen mechanischer Veränderung und klinischer Symptomatik – Segment-befund) um einen begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit handelt. Stellungnahmen der Präventionsdienste halte ich für erforderlich, sie setzen allerdings nicht die vollständige Ermittlung aller vorangegangenen beruflichen Belastungen voraus, wenn sich keine Hinweise aus der Arbeits-anamnese ergeben, dass diese Belastungen soweit erhöht gewesen sein können, dass eine für die BK 2108 hinreichende Belastung erreicht werden konnte (derzeit ab Hälfte des Empfehlenswertes der BK 2108 nach MDD = 12,5 MNh als ein Bereich der nicht auszuschließenden Verursachung aufgrund des BSG-Urteils von 2007). Es wäre nicht angemessen, bei jedem Fall einer Chondrose ab Grad 2 in der LWS (betrifft im fortge-schrittenen Alter die Mehrheit der Bevölkerung!) eine vollständige Ermittlung aller Arbeitsbelastungen mit Ermittlung der MDD-Dosis vorzunehmen, wenn klar ersichtlich ist, dass die berufliche Belastung in ihrem berufstypischen Rahmen diese BK nicht ver-ursacht haben kann. Insofern sehe ich die von Ihnen erwähnte qualifizierte Beurteilung arbeitstechnischer Voraussetzungen in einem gestuften Programm, das aufgrund vorlie-gender und durch die Arbeitsanamnese er-härteter Erkenntnisse erfolgt und nicht für jeden gemeldeten Verdachtsfall automatisch zu einer umfassenden Berechnung der Dosis- und Spitzenwerte führen muss.

Ausschließen kann der medizinische Gut-achter jedoch aus seiner Sicht jene Fälle, bei denen die im Konsens vereinbarten und näher ausgeführten Kriterien nicht erfüllt sind, die in den Konsensempfehlungen beschrieben werden durch „Kriterien bildgebender Verfahren über morphologische Veränderungen (soweit das Verfahren zur Abbildung der Ver-änderungen geeignet ist) und klinischen Kriterien des Wirkungsgrades morphologi-scher Schäden auf Funktionen der betroffe-nen Bewegungssegmente sowie topogra-phisch zuzuordnender Nervenwurzeln und der damit zu erklärenden Schmerzausprä-gung.“

Zu Frage 2: Die Konstellationen B2, B3, B5 und B6 betreffen Fälle, bei denen eine Chondrose ab Grad 2 oder ein Prolaps in L4/5 und/oder L5/S1 vorliegt und keine konkurrierenden erkennbar Faktoren sind. Hier soll die Begleitspondylose als von den Konsenspartnern vermutetes Kriterium der Reaktion des Bewegungssegments auf hohe mechanische Belastungen über die Anerken-nung entscheiden. Liegt sie vor, handelt es sich um die Konstellation B1 und die Anerkennung wäre aus medizinischer Sicht bei hinreichender Belastung gegeben. Die von Ihnen angesprochenen Konstellationen B2, B3, B5 und B6 enthalten „Surrogatkriterien für den Nachweis besonderer Belastungen (B2 – Belastungsspitzen oder Erreichen des Richtwerts in weniger als 10 Jahren) bzw. Mitreaktionen der HWS weniger als an der LWS (Annahme, dass eine gleich starke oder stärkere Reaktion an den Bewegungssegmenten der HWS für eine individuelle Disposition spricht). Für die B2-Konstellation ist die Kenntnis der Belastungen von Be-deutung, allerdings ist es durch die Konzentration auf besonders hohe (Spitzenwerte/Dosis) Belastungen auch hier möglich, durch einfache Vorprüfungen ohne konkrete Ermittlungen zu erkennen, ob es angezeigt ist, umfassende Ermittlungen zu beginnen.

Zu den Konsenskriterien ist grundsätz-lich festzustellen, dass sie den zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bestverfügbaren Stand der Erkenntnisse wiedergeben, aber nicht frei von Widersprüchen sein können. Bedauerlich ist, dass es aus vielen Grün-den z. B. des Umfangs und der Art und Weise der Untersuchung nicht gelungen ist, trotz immensen nachfolgenden Auswertungsaufwands aus der mit dem Titel „Deutsche Wirbelsäulenstudie“ (DWS) bezeichneten Fall-Kontroll-Studie wissenschaftlich fundierte neue Erkenntnisse zur Verursachung der BK 2108 und ihrer Abgrenzung gegenüber allgemein verbreitetem unspezifischem Rückenschmerz in Verbindung mit verminder-ter physischer Belastungstoleranz abzuleiten. Insofern bestehen einige mit „kein Kon-sens“ bezeichnete Konstellationen der Kon-senskriterien der BK 2108 weiter.

Antwort aus juristischer Sicht

Vorbemerkung

Die Antwort muss ich mit einem Vorbehalt versehen: Es ist schwierig, eine Frage aufgrund einer abstrakten Schilderung zu beantworten, ohne die genaueren Umstände des Sachverhalts zu kennen. Mir ist die in der Leserfrage geschilderte Verfahrensweise „einzelner“ (welcher?) UV-Träger nicht bekannt. Nach telefonischer Rücksprache mit Herrn Priv.-Doz. Dr. med. Korinth handelt es sich nicht um die generelle Verfahrensweise der UV-Träger und auch nicht um die durch-gängige Praxis eines bestimmten UV-Trägers, sondern um möglicherweise regional oder bei einzelnen Organisationseinheiten weniger UV-Träger konzentrierte Verfahrensweisen; allerdings sei diese nicht auf gelegentliche Fälle beschränkt, sondern komme in seinem Bereich in bis zu etwa 30 % der BK-Verfahren zur BK-Nr. 2108 vor.

Aspekte der Verfahrensgestaltung aus rechtlicher Sicht

Die Leserfrage betrifft aus juristischer Sicht die Frage: Ist die geschilderte Praxis der Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen verfahrensrechtlich zulässig? Die Sachverhaltsermittlung ist für alle Sozialleistungsträger, also auch die UV-Träger, im SGBX geregelt. Die hier relevanten Vorschriften lauten in Auszügen, soweit hier relevant:

  • § 20 SGBX „Untersuchungsgrundsatz:
  • (1) Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.
  • (2) Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen.“
  • § 21 SGBX „Beweismittel:
  • (1) Die Behörde bedient sich der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält.“
  • Es folgt eine nicht abschließende Aufzählung der in Betracht kommenden Be-weismittel, insbesondere die Einholung von Auskünften jeder Art sowie schriftlicher oder elektronischer Äußerungen von Beteiligten (im BK-Verfahren: der Er-krankten), Sachverständigen und Zeugen (hier u. a. der Arbeitgeber und Arbeitskollegen) und die Anhörung der Beteilig-ten sowie die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen.
  • § 67a SGB X „Datenerhebung:
  • (2) Daten sind beim Betroffenen zu er-heben.“
  • Es folgt eine minutiöse Regelung der Vor-aussetzungen, unter denen die Datenerhebung als Ausnahme von dieser Re-gel ohne Mitwirkung der Betroffenen bzw. bei anderen Personen oder Stellen erhoben werden dürfen.

Misst man die Verfahrensweise, zu der die Leserfrage gestellt wird, an diesen Rechtsnormen, so ist auf den ersten Blick nichts auszusetzen: In BK-Verfahren ist u. a. das Vorliegen der schädigenden Einwirkung zu prüfen, bei BK-Nr. 2108 also das langjährige Heben und Tragen schwerer Lasten und die langjährige Belastung durch extreme Rumpf-beugehaltung. Zu diesen arbeitsbedingten Einwirkungen werden nach der geschilder-ten Praxis Daten bei den Betroffenen und ggf. ihren Arbeitgebern mittels Fragebögen erhoben. Damit werden zulässige Beweismittel – die schriftliche Befragung von Beteiligten und Zeugen – verwendet (§ 21 SGBX) und es wird dem Grundsatz der Ersterhebung der Daten bei den Betroffenen (§ 67a SGBX) entsprochen. Die Belange der Erkrankten (§ 20 SGBX) werden gewahrt, indem in erster Linie ihre Angaben erhoben werden.

Dass die Ermittlungen standardisiert mit-tels Fragebögen erfolgen und (wohl laut von mir nicht überprüfbarer Angabe in der Leser-frage) nicht vom Präventionsdienst, sondern von der BK-Sachbearbeitung durchgeführt werden, macht sie nicht per se rechtswidrig. Die erforderlichen Ermittlungen hat „die Be-hörde“, d. h. hier der UV-Träger, vorzunehmen. Ob er dies durch seinen Präventionsdienst oder durch entsprechend geschulte Beschäftigte der BK-Sachbearbeitung tut, bleibt ihm als innerorganisatorische Entscheidung überlassen. Mir ist bekannt, dass einzelne UV-Träger die Expositionsermittlungen zumindest zu bestimmten Berufskrankheiten generell der BK-Sachbearbei-tung übertragen haben, ohne dass dies zu Problemen geführt hat. Andererseits ist natürlich festzuhalten, dass sich die ganz über-wiegend erfolgte Übertragung der BK-Ermittlungen auf die Präventionsdienste der UV-Träger bewährt hat und gut begründet ist. Insbesondere können die Aufsichtsperso-nen bei den BK-Ermittlungen auf ihr Erfah-rungswissen zurückgreifen, das sie bei ihrer Beratungs- und Aufsichtstätigkeit gewonnen haben, und so beispielsweise bei der Befragung von Erkrankten in geeigneter Weise nachfragen, um deren Erinnerungsvermö-gen zu stützen. Sofern aber eine persönliche Befragung entbehrlich und die Ermittlung der Exposition mittels Fragebögen ausreichend erscheint, kann deren Auswertung prinzipiell auch der entsprechend geschulten BK-Sachbearbeitung übertragen werden. Dabei erscheint es in einer nennens-werten Zahl von Fällen grundsätzlich möglich, dass bereits aufgrund der Angaben der Betroffenen und ohne tiefer gehende Ermitt-lungen eine eindeutige Entscheidung getroffen werden kann, sei es eine negative im Sinn des Kurzverfahrens entsprechend dem BK-Report 2/03, S. 72ff., sei es eine po-sitive im Sinn der hier geschilderten Verfahrensweise. (Zur Frage, ob diese Ja-Nein-Entscheidung letzten Endes eine ausreichende Grundlage für die Begutachtung bietet, vgl. unten.) Eine Vollermittlung muss aber jeden-falls in solchen Fällen erfolgen, in denen die Angaben in den Fragebögen Fragen offen lassen und deshalb eine eindeutige Entscheidung im obigen Sinn allein aufgrund dieser Angaben nicht möglich ist.

Auch wenn die Leserfrage hierzu keine Angaben enthält, ist davon auszugehen, dass die BK-Sachbearbeitung des UV-Trägers vor dem nächsten Verfahrensschritt, also der Erteilung des Auftrags für ein medizinisches Sachverständigengutachten, prüft, ob die ermittelte Einwirkung den Voraussetzungen der BK-Nr. 2108 entspricht. Ohne diese Vor-aussetzung zu bejahen, könnte der UV-Träger keinen Gutachtenauftrag erteilen. Die Ex-position im Sinn der BK-Nr. 2108 kann im Einzelfall auch ohne genaue Berechnung nach dem MDD festgestellt werden, wenn sie unproblematisch zu bejahen ist, beispiels-weise wenn bekanntermaßen hoch belastende Tätigkeiten (z. B. Gerüstbau) über zwei oder mehr Jahrzehnte ausgeübt wurden. Da-bei kann insbesondere ein Vergleich mit ge-nerellen Erkenntnissen zur typischen Belas-tung bei bestimmten Tätigkeiten die erhobe-nen individuellen Einwirkungen absichern (Belastungskataster, wie sie bereits vor Ausarbeitung des MDD von den damaligen Bau-Berufsgenossenschaften entwickelt wurden, s. BK-Report 2/03 S. 47, und nach meiner Kenntnis unter Berücksichtigung des MDD u. a. von der BG BAU fortgeführt werden). Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass die individuellen, retrospektiv erhobenen Angaben der Betroffenen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erheblich von den tatsächlichen Einwirkungen abweichen können (vgl. Ditchen 2012, v. a. S. 52ff.), anhand von gesicherten Erfahrungswerten auf ihre Plausibilität hin überprüft und objektiviert werden. Sie erleichtert nicht zuletzt den „Vollbeweis“ der Exposition, wenn Betroffene beispielsweise keine genauen Angaben zu den vor vielen Jahren gehandhabten Last-gewichten mehr machen können, aber aufgrund von Beobachtungen und Messungen Erfahrungswerte über die zur fraglichen Zeit üblichen Belastungen bei bestimmten Tätigkeiten vorliegen. Aufgrund welcher Überlegungen der UV-Träger die individuelle Ex-position als ausreichend im Sinn der BK-Nr. 2108 ansieht, soll er in einem Aktenvermerk oder im Gutachtenauftrag festhalten. Die blo-ßen aktenkundigen Angaben der Betroffenen im Fragebogen zur Exposition reichen nicht aus, um das Ergebnis der Expositionsermittlungen für die Sachverständigen oder die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständi-gen Stellen nachvollziehbar zu machen.

Die geschilderte Verfahrensweise lässt sich wohl als eine neue Variante eines Kurzverfahrens verstehen. Der BK-Report 2/03 (S. 71ff.) sieht ein Kurzverfahren nur für die Fallkonstellation vor, dass sich eine BK-relevante Exposition aufgrund einfacher Erstermittlungen (Fragebögen im Sinn der geschilderten Verfahrensweise) mit Sicherheit ausschließen lässt. Für alle anderen Konstel-lationen schlägt der BK-Report 2/03 ein Voll-verfahren mit genauer Ermittlung der Lebens-Gesamtdosis nach dem MDD vor. Festzuhal-ten ist: Der BK-Report 2/03 empfiehlt eine fachlich bestmöglich fundierte Verfahrensweise, enthält aber keine rechtsverbindliche Vorgabe. Der BK-Report 2/03 schließt es aber nicht aus, dass UV-Träger ihre BK-Verfahren darüber hinausgehend vereinfachen. Eine Vollermittlung der Exposition in BK-Verfahren ist generell sehr zeit- und personalaufwändig, beispielsweise, wenn die erkrankte Person im Lauf ihres Arbeitslebens z. B. die Arbeitsstellen häufig wechselte und daher unterschiedliche Arbeitsbedingungen hatte, wie es vor allem für die Bauwirtschaft typisch ist. Zur Minimierung des Personal- und sonstigen Aufwands und zur Beschleunigung ihrer Verfahren sind die UV-Träger gesetzlich verpflichtet (Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, § 69 Abs. 2 SGBIV). Im Gesetzgebungsverfahren zum UVMG 1996 wurden Einsparungen beim Verwaltungsaufwand angemahnt, s. § 222 SGBVII. Es entspricht also ihrem Auftrag, wenn die UV-Träger nach geeigneten Verfahrensvereinfachungen suchen, allerdings immer unter der Voraussetzung, dass diese mit der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufga-ben vereinbar sind. Dementsprechend wird beispielsweise seit Langem bei Lärmschwer-hörigkeit (BK-Nr. 2301) ein Stufenverfahren durchgeführt, in dem eine große Zahl von Verfahren ohne medizinische Begutachtung abgeschlossen wird – dies geht nicht zu Las-ten der Betroffenen, da nur BK-Anerkennun-gen im Kurzverfahren vorgesehen sind. Für die neue BK Hautkrebs durch natürliche UV-Strahlung (BK-Nr. 5103) wurden in einer aus-gezeichneten Bachelorarbeit der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg Vorschläge für eine vereinfachte Expositionsermittlung und -be-urteilung ausgearbeitet (Engel 2013).

Ähnlich dürfte auch die hier zur Diskus-sion gestellte Verfahrensweise motiviert sein.

Aspekte der medizinischen Begutachtung

In der Leserfrage wird die Ermittlung der Exposition durch den UV-Träger als „verpflichtend“ bezeichnet. Dem ist grundsätz-lich zuzustimmen. Dem entspricht aber auch grundsätzlich die geschilderte Praxis. Entscheidende Frage ist, ob die geschilderte Ver-einfachung der Verfahrensweise generell oder nur in bestimmten Fallkonstellationen sinnvoll sein kann. Es geht also um die sach-gemäße Ausübung des Ermessens nach den oben zitierten §§ 20 und 21 SGBX bei der möglichst einfachen und zielführenden Aus-gestaltung des BK-Verfahrens. Dieses Ermessen kann hier nur sachgemäß ausgeübt werden, wenn die Ermittlungen zur Exposi-tion im Zusammenhang mit den weiteren Schritten der Sachverhaltsermittlung, insbesondere mit der medizinischen Begutachtung, gesehen werden. Diese baut auf dem Ermittlungsergebnis des UV-Trägers zu den Expositionsbedingungen auf. Für die Begut-achtung sind die relevanten wissenschaft-lichen Erkenntnisse einschließlich des medizinischen Erfahrungswissens in den zitierten Konsensempfehlungen zusammengefasst. Die sachgemäße Ausgestaltung der Exposi-tionsermittlungen zur BK-Nr. 2108 muss sich deshalb hieran ausrichten. Für die Begutachtung ist in manchen Fällen nicht nur die bloße Ja-Nein-Entscheidung über das Erreichen der o. g. Mindestbelastungsgrenze bedeutsam. Vielmehr kann es für die Beurteilung der in der Leserfrage besonders angesprochenen Fallkonstellation B2 und u. U. auch der von B2 abgeleiteten Konstellationen B3, B5 und B6 auf eine „besonders intensive Belastung“ und auf ein „besonderes Gefahrenpotenzial durch hohe Belastungsspitzen“ ankommen (Konsensempfehlungen Teil 1, TuB 2005, 211, 217). An gleicher Stelle formulieren die Konsensempfehlungen auch die generellen Anerkennungsvoraussetzungen wie folgt: „Für sämtliche nachfolgenden Konstellationen wird jeweils vor-ausgesetzt, dass

  • eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegt,
  • die Exposition ausreichend ist und
  • eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung besteht … .“

Schließlich kann es für die komplexe gutachterliche Beurteilung des Ursachenzusam-menhangs im Einzelfall durchaus Bedeutung haben, ob die Minimalbelastung von 12,5 MNh (bei Männern) nur geringfügig überschritten ist oder die Gesamtbelastung deutlich darüber liegt.

Das Ermittlungsergebnis zur Exposition soll aus diesen Gründen auch zu diesen für die Begutachtung relevanten Aspekten einschließlich der genannten zeitlichen Korrelation nachvollziehbare Aussagen treffen. Die im BK-Report 2/03, S. 75ff. vorgeschla-gene Verfahrensweise zur Vollermittlung entspricht diesen Anforderungen. Wenn UV-Träger aus den oben ausgeführten Gründen demgegenüber ihr Verfahren zur Expositions-ermittlung vereinfachen, ist sicherzustellen, dass ihr Ermittlungsergebnis nachvollziehbare Aussagen auch zu diesen Aspekten ent-hält. Sonst laufen sie Gefahr, dass die zu Recht angestrebte Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens in einzelnen Fällen durch berechtigte Rückfragen der beauftragten medizinischen Sachverständigen oder der im BK-Verfahren mitwirkenden für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stellen und durch ggf. notwendig werdende Nachermittlungen misslingt. Zu raten ist auch, dass UV-Träger bei derartigen Verfahrensänderungen – abweichend von der im BK-Report 2/03 empfohlenen Vorgehensweise – mit den am Verfahren Beteiligten (medizinische Sachverständige, für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stellen) in geeigneter Weise kommunizieren und die Änderungen ggf. im Erfahrungsaustausch mit ihnen evaluieren.

Literatur

Ditchen D: Erfassung arbeitsbedingter Kniebelastun-gen an ausgewählten Arbeitsplätzen. Diss. Witten/Herdecke 2011 (IFA-Report 2/2012).

Engel D: Hautkrebs durch UV-Strahlung. Entwick-lung eines Verfahrensablaufs zur beschleunigten Be-arbeitung von Hautkrebsfällen nach UV-Strahlung – dargestellt am Beispiel der BG BAU. Bachelorarbeit am Fachbereich Sozialversicherung der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, 2013.

Antwort aus technischer Sicht

Bei der BG BAU werden grundsätzlich alle BK-2108-Fälle, sofern medizinisch eine bandscheibenbedingte Erkrankung gesichert ist, an die Präventionsabteilung zur Expositions-ermittlung und Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen weitergeleitet.

Seitens der Prävention – die BG BAU setzt hier spezielle BK-Ermittler ein – erfolgt immer eine persönliche Befragung des Versicherten. Einzig, wenn die Aktenlage ganz klar ergibt, dass beim Versicherten die arbeitstechnischen Voraussetzungen eindeutig erfüllt sind (z. B. Maurer mit 30 Jahren Berufstätigkeit), kann auf die persönliche Befragung verzichtet werden. In diesen Fällen erfolgt die Berechnung des MDD über die IFA-Software mit den standardisierten Modulen der BG BAU. Das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen wird in diesen Fällen seitens der BG BAU bejaht.

In allen anderen Fällen erfolgt eine per-sönliche Befragung des Versicherten, im Re-gelfall mit einem Gesprächsprotokoll. In die-sem Gesprächsprotokoll werden die Angaben des Versicherten aufgenommen – ohne jegliche Wertung. Dieses Protokoll dient der Dokumentation der Befragung.

Sind die Angaben des Versicherten nicht plausibel, erfolgen im Einzelfall weitere Befragungen, z. B. von Arbeitgebern oder Arbeitskollegen. Auch Rückfragen bei Innungen werden im Einzelfall vorgenommen. Zusätzlich hierzu werden Erfahrungen des Präventionsdienstes von vergleichbaren Arbeitsplätzen mit herangezogen.

Die Ermittlung durch den Präventionsdienst beinhaltet die Erstellung eines Tätigkeitsprofils unter Angabe der Einzeltätigkeiten, die Feststellung der Dauer/Anteile der Einzeltätigkeiten sowie den Umfang der Teil- und Gesamtexposition unter Berücksichtigung von Fehlzeiten.

Die arbeitstechnische Stellungnahme be-steht aus einer Beschreibung des Arbeitsplat-zes je Beschäftigungsverhältnis mit Nennung der Tätigkeiten/Teiltätigkeiten und den BK-relevanten Expositionen in Arbeitsschichten pro Jahr. Eine Bewertung der Exposition er-folgt unter Verwendung der jeweils aktuellen Anamnese Software BK 2108 des IFA. Hierbei werden sowohl standardisierte Module verwendet, wie auch individuelle Gegeben-heiten des Versicherten in gesondert erstell-ten Modulen berücksichtigt.

Die zusammenfassende Aussage zur Ge-samtbelastungsdosis weist den prozentualen Anteil des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswerts als Entscheidungsgrundlage für die Abteilung Rehabilitation und Leistung aus.

    Priv.-Doz. Dr. med. Gintautas Korinth

    Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz

    Amt für Arbeitsschutz

    Billstraße 80 – 20539 Hamburg

    gintautas.korinth@bgv.hamburg.de

    Prof. Dr. med. Bernd Hartmann

    Steinbeker Grenzdamm 30 d

    22115 Hamburg

    hartmannbernd-hamburg@email.de

    Prof. Dr. jur. Andreas Kranig

    Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

    Fachbereich 06: Sozialversicherung

    Lehrgebiete Sozialrecht, Berufskrankheitenrecht

    Zum Steimelsberg 7 – 53773 Hennef

    andreas.kranig@dguv.de

    Dipl.-Ing. Gerald Rehme

    BG BAU – Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft

    Bereich Prävention Berufskrankheiten

    Friedrich-Gerstlacher-Straße 15 – 71032 Böblingen

    gerald.rehme@bgbau.de

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