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Warum die Rolle der seriösen Präventivmedizin in Unternehmen aufgewertet werden muss

Praevenire necesse est

Während die Lebenserwartung der Men-schen wächst, bleibt die Geburtenrate niedrig: Kontinuierlich steigt in den Unter-nehmen daher der Altersdurchschnitt der Mitarbeiter/-innen, die außerdem zwecks Stabilisierung der Sozialsysteme in Zukunft deutlich länger arbeiten sollen (trotz eines momentan gegenläufigen, der Kurzfrist-Orientierung unserer Politiker geschuldeten Trends).

Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass sich aufgrund unseres veränderten Lebensstils das Manifestationsalter von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankun-gen wie Bluthochdruck, Adipositas sowie Typ-2-Diabetes im Vergleich zu früheren Generationen um 10–15 Jahre nach vorne verlagert hat, wodurch für den Einzelnen die Zeitspanne der durchlebten Krankheitsjahre wächst (Hulsegge et al. 2013; Hauner 2011). Dies bringt zunehmende Belastungen für das Gesundheitswesen und auch die Unter-nehmen mit sich.

Gezielte Maßnahmen auf betrieblicher Ebene zur Verhaltens- und insbesondere zur Verhältnisprävention können berufstätige Menschen im mittleren Alter erreichen, die ansonsten eher selten den Hausarzt aufsuchen würden.

Kritik an der Prävention in Betrieben – sind Gesundheits-Check-ups „nutzlos“?

Kritische Stimmen behaupten unter Berufung auf die Kriterien der evidenz-basierten Medizin (EBM), dass Gesundheits-Check-ups generell nutzlos seien (Gøtzsche et al. 2014; Muhlhauser et al. 2014). Hier lohnt ein Blick hinter die Kulissen, dann nicht immer beruhen solche plakativen Aussagen oder Schlagzeilen auf belastbaren Daten.

Dies gilt u. a. auch für die 2012 veröffent-lichte Metaanalyse von Peter Gøtzsche zu sog. „Health-Checks“. In der Definition von „Health-Checks“ blieben die Autoren vage, so dass etliche Untersuchungen in die Analyse eingeschlossen wurden, die nach heuti-gen Vorstellungen keinesfalls die Kriterien eines „guten“ Gesundheits-Check-ups erfüllen.

Es fällt auf, dass 9 von 14 Studien aus den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen. In 11 der 14 Studien gab es keine Erhebung des Herz-Kreislauf-Risiko-Profils. In der Hälfte der Studien er-folgte keine Beratung zur Lebensstiländerung im Sinne einer nachhaltigen Verhaltensprävention. Was hätte sich also ändern sollen? Im Wesentlichen handelte es sich bei diesen sog. Health-Checks um einfache Untersuchungen zur Feststellung bislang unerkannter Krankheiten.

Wenn man bedenkt, wie vor 40–50 Jahren der wissenschaftliche Stand zum Thema Herz-Kreislauf-Risikofaktoren war, dass nur wenige nebenwirkungsträchtige Blutdruck-medikamente und vor allem noch keine Statine zur Verfügung standen, zudem es keine aussagekräftigen Studien zur Bedeu-tung der körperlichen Fitness und völlig falsche Vorstellungen zur Rolle der Ernäh-rung gab, dann wird klar, dass die der Meta-analyse zugrunde gelegten Studien völlig un-geeignet waren, die Frage eines möglichen Nutzens von Gesundheits-Check-ups zu be-antworten. Die Schlussfolgerung der Cochrane-Autoren ist daher nur vermeintlich evidenzbasiert, de facto aber in ihrer Extrapolation auf die heutige Zeit nicht haltbar.

Die missbräuchliche Anwendung des Begriffs „evidenzbasierte Medizin“

Häufig argumentieren Verfechter der EBM heute damit, dass man ohne Metaanalyse aus randomisierten, plazebokontrollierten Studien (RCT) „nichts wissen könne“ und deshalb auch nicht intervenieren solle.

EBM beschränkt sich aber aus unserer Sicht keineswegs auf die Durchführung von RCTs mit harten Mortalitätsendpunkten. Gerade in der Prävention geht es schließ-lich nicht nur um Leben und Tod, sondern auch um Leistungsfähigkeit und Lebensqualität!

Nach dem Begründer der EBM (D.L. Sack-rett, 1996) bezieht diese explizit auch „die individuelle klinische Expertise und die best-verfügbare Evidenz aus systematischer For-schung“ ein. Mit dem GRADE-System zur Be-wertung der Evidenz und der Stärke einer Empfehlung hat die EBM darüber hinaus ein Modell eingeführt, das es erlaubt, bei sehr starken Zusammenhängen und konsistenter und direkter Evidenz auch nicht randomisierte Studien zur höchsten Evidenz-stufe hinaufzustufen (Guyatt et al. 2008).

Wenn dies nicht so wäre, hätten wir u. a. auch „keine Evidenz“ für die Schädlichkeit des Zigarettenrauchens, da diese bisher nie-mals in einem RCT gegen Placebo-Zigaret-ten überprüft wurde. Zudem wüssten wir „nichts“ über die positiven Auswirkungen von körperlicher Aktivität und einer guten Fitness auf die Gesundheit, da man natür-lich auch niemals Menschen in einem RCT mit dem Endpunkt Mortalität auf Training vs. Bettlägerigkeit randomisiert hat. Prospektive Kohortenstudien zeigen jedoch, dass eine unterdurchschnittliche Fitness genauso das KHK-Risiko steigert wie das Rauchen von 20 Zigaretten pro Tag (Laukkanen et al. 2011). Follow-up-Studien be-legen darüber hinaus, dass eine Verbesse-rung der Fitness das Risiko für einen zukünftigen Herzinfarkt halbieren kann (Blair et al. 1955).

Aus diesen Gründen sind wir der festen Überzeugung, dass aufgrund der bekannten epidemiologischen, pathophysiologischen und in Kohortenstudien beobachteten Zusammenhänge eine Steigerung der körper-lichen Aktivität und der Fitness einen erheb-lichen Gewinn an Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung bringen (Lee et al. 2014; Wen et al. 2011, 2014). Aktivitätsfördernde Maßnahmen auf betrieblicher Ebene sind daher aus unserer Sicht nicht nur vernünftig, sondern zudem auch evidenzbasiert.

Was braucht ein Gesundheits-Check-up, um nachhaltig wirksam zu sein?

Ein „gutes“ Gesundheits-Check-up-Konzept beinhaltet eine standardisierte Anamnese unter besonderer Berücksichtigung der Familienvorgeschichte (KHK, Diabetes, Krebs), berücksichtigt die individuelle berufliche und private Lebenssituation und erfragt die aktuellen Beschwerden des Pro-banden. Es erfasst dabei alle häufigen, relevanten sowie beeinflussbaren Risikofak-toren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

Die Früherkennung der subklinischen Arteriosklerose im Ultraschall (IMT-Messung und Erfassung von Plaques) kann über die klassischen Risikofaktoren hinaus die Einstufung des Herz-Kreislauf-Risikos verbessern, da sie z. B. auch den Einfluss der Fitness auf den Prozess der Arteriosklerose abbildet (Scholl et al. 2015). Auf die Motivation gerade der Risikokandidaten wirkt sie sich dadurch positiv aus, dass sie den Effekt „nicht spürbarer“ Risikofaktoren sichtbar und damit verständlich macht.

Verständliche Risikokommunikation und langfristige Perspektive

Für die angestrebte Lebensstiländerung ist nach unserer Erfahrung die Visualisierung des Herz-Kreislauf-Risikos besonders hilfreich, insbesondere wenn die Kommunikation dazu so verständlich und anschaulich ist wie mit dem neuen JBS3 Risk Calculator (s. „Weitere Infos“) aus den Britischen Präventionsleilinien 2014. Seit April 2014 steht er kostenlos online zur Verfügung und erlaubt die Darstellung der Effekte therapeutischer Interventionen (Stopp des Rauchens, Blutdrucksenkung, Statintherapie) auf das Herz-Kreislauf-Risiko in der Lebenszeitperspektive.

Das von den Autoren verfolgte Konzept beinhaltet zudem einen Fitness-Test auf dem Fahrradergometer, wobei dessen zeitlicher und personeller Aufwand sicherlich als hoch bewertet werden muss. Er ermöglicht andererseits eine valide Einstufung der Fitness und eine präzise, im Alltag umsetzbare Trainingsplanung sowie die konkrete Verknüpfung mit aktivitätsfördernden Maßnahmen im Kontext des betrieblichen Gesundheitsmanagements.

Die entscheidende Komponente eines „guten“ Gesundheits-Check-ups ist aber in jedem Fall die persönliche und evidenz-basierte Beratung zu den individuellen Risiko-faktoren, zu Ernährung, körperlicher Aktivität und Training. Eine konkrete Vereinbarungen gemeinsam erarbeiteter Ziele und das routinemäßige Angebot von Follow-up-Terminen sind hilfreich, um die Nachhaltigkeit der Empfehlungen zu gewährleisten und die Selbstwirksamkeit bei den Teilnehmern zu verstärken.

Was finden wir bei den Gesundheits-Check-ups?

Bei den von uns im Rahmen des FIT IM LEBEN – FIT IM JOB-Programms untersuchten, durchschnittlich 46,5 Jahre alten Mitarbeitern/-innen von Boehringer Ingelheim (s.  Tabellen 1 und 2) fand sich bei einer sehr guten Teilnahmequote von > 90 % eine hohe Prävalenz von Herz-Kreislauf-Risikofaktoren, metabolischen Risiken, von subklinischer Arteriosklerose und von manifesten kardiovaskulären Erkrankungen (Kempf et al. 2013).

Die aktuelle Auswertung der Langzeit-Blutdruckmessungen aus den Jahren 2013 und 2014 (bislang unveröffentlichte Daten) zeigen die Bedeutung einer konsequenten Strategie zur Behandlung von Bluthochdruck: In 79,8 % der Verdachtsfälle auf Bluthochdruck (n = 347) wurde dieser anhand eines erhöhten Tagesmittelwertes von  135/ 85 mmHg bestätigt. Die Einstellung eines beim ersten Check-up bereits bekann-ten Bluthochdrucks (n = 215) war in 80 % der Fälle unzureichend.

Die Prävalenz des Zigarettenrauchens liegt dagegen unter den Mitarbeiter/-innen von Boehringer Ingelheim mit 12 % der Män-ner und 10 % der Frauen bereits weit unterhalb des altersentsprechenden Niveaus in der Allgemeinbevölkerung, was ein Erfolg des langjährigen konsequenten Nichtraucherschutzes und der konsequent umgesetz-ten Maßnahmen zur Tabakentwöhnung im Unternehmen ist.

Welche Evidenz gibt es für Interventionen?

Völlig unabhängig von der aktuellen Leitlinien-Debatte über strengere oder weniger strenge Zielwerte bei Blutdruck und Blutzucker gibt es eine eindeutige Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studien

  • für die Senkung des Herzinfarkt- und Schlaganfallrisikos
    • durch den Stopp des Zigarettenrau-chens (Jha et al. 2013),
    • durch eine Blutdrucksenkung bei ar-terieller Hypertonie (Law et al. 2009; Sundstrom et al. 2014),
    • durch die Cholesterinsenkung mit Statinen bei Hypercholesterinämie (Mihaylova et al. 2012);
  • sowie für die Diabetesprävention
    • durch Lebensstilinterventionen bei Vorliegen eines Prädiabetes (Gillies et al. 2007).

Die Früherkennung dieser von unserem Ge-sundheitswesen kaum oder nicht konsequent adressierten Risiken z. B. im Umfeld der Betrieblichen Gesundheitsförderung ist deshalb evidenzbasiert, vernünftig und wichtig.

Was verändern wir langfristig mit den Check-up-Untersuchungen?

Im Rahmen der Längsschnittanalysen der bei Prevention First durchgeführten Check-ups des FIT IM LEBEN – FIT IM JOB-Programms (n = 525, Follow-up 3,4 Jahre) und aller anderen Prevention First-Check-ups (n = 2812, Follow-up 3,9 Jahre; P 18 auf der DGAUM-Jahrestagung 2015) können wir zeigen, dass bereits eine einmalige Check-up-Intervention zu einer deutlich verbesser-ten Blutdruck-Einstellung bei bekannten oder neu entdeckten Hypertonikern, zu einer hochsignifikanten Steigerung der Nikotin-abstinenz bei Rauchern, zu einer Verbesse-rung der Fitness und zu einer erheblichen Senkung des zukünftigen Diabetes-Risikos führt.

Im Rahmen des FIT IM LEBEN – FIT IM JOB-Programms wurde die Blutdruckkontroll-Rate bei bekannten Hypertonikern bei Männern von 28,6 auf 44,8 % und bei Frauen von 38,2 auf 54,4 % verbessert.

Während die jüngste Meta-Analyse zur Konversion vom Prä-Diabetes zum Typ-2-Diabetes (Morris et al. 2013) eine Diabetes-Inzidenz von 35–70/1000 Personen-Jahre beschrieb, liegt die Rate bei den eigenen Untersuchungen über einen Beobachtungs-zeitraum von knapp 4 Jahren bei nur 2,3 bis 6,5/1000 Personen-Jahre und damit um rund 80–90 % niedriger als eigentlich zu erwarten wäre (P 496, EuroPRevent 2015). Diabetes-prävention im betrieblichen Setting funktioniert also und hat ein riesiges betriebs- und volkswirtschaftliches Potenzial zur Kosten-einsparung!

Mitarbeiter/innen mit einem erhöhtem Ausgangsrisiko (oberste Quintile) hatten beim zweiten Check-up ein um 20–25 % niedrigeres statistisches 10-Jahres-Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall (Scholl u. Schneider 2012), berechnet nach den Reynolds’ Risk Formeln (Ridker et al. 2007, 2008).

Verhältnisprävention auf betrieblicher Ebene besonders wichtig

Für diejenigen, die sich freiwillig entscheiden, an einem evidenzbasierten Check-up-Programm mit intensiver Lebensstilberatung teilzunehmen, kann dies häufig der Wendepunkt hin zu einem gesünderen Lebensstil sein.

Die Autoren sind sich allerdings der Tat-sache bewusst, dass Check-ups nicht die Lösung unserer Gesundheitsprobleme auf Bevölkerungsebene bringen können. Sie müssen unbedingt um verhältnispräventive Maßnahmen ergänzt werden. Das ist auf der betrieblichen Ebene durch ein geeigne-tes Betriebliches Gesundheitsmanagement möglich, z. B. über die Gestaltung der Kantinenverpflegung, über Sportprogramme und -förderung (beispielsweise durch die Bereit-stellung eines „Dienstfahrrads“ sowie von Umkleidemöglichkeiten für Radfahrer), eine klare Nichtraucher-Politik oder auch über zielgruppenspezifische präventive und re-habilitative (Kur-)Programme bei Hypertonie, Diabetes und Adipositas in Kooperation mit den jeweiligen Renten- und Kranken-versicherungen.

Die Beweiskette ist nach unserer Einschätzung lückenlos: von der epidemiologischen Evidenz für die vorliegenden und zunehmenden Probleme über die Wirksamkeit der aufgeführten therapeutischen Interventionen bis hin zu den nachhaltigen Verhaltensänderungen, die de facto durch geeignete und nachhaltige Check-up-Programme erreicht werden.

Gesundheits-Check-ups sind bei freiwilliger Teilnahme und qualitätsgesicherten Inhalten also keineswegs nutzlos, sondern äußerst wirksam in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Davon profitieren langfristig betrachtet sowohl die Teilnehmer selbst als auch deren Arbeitgeber und die Gesellschaft.

Literatur

Gotzsche PC, Jorgensen KJ, Krogsboll LT: General health checks don‘t work. BMJ 2014; 348: g3680.

Muhlhauser I. [On the overestimation of the benefit of prevention]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2014; 108: 208–218.

Blair SN, Kohl HW III, Barlow CE, Paffenbarger RS Jr, Gibbons LW, Macera CA: Changes in physical fitness and all-cause mortality. A prospective study of healthy and unhealthy men. JAMA 1995; 273: 1093–1098.

Scholl J, Bots ML, Peters SA: Contribution of cardio-respiratory fitness, relative to traditional cardiovas-cular disease risk factors, to common carotid intima-media thickness. J Intern Med 2015; 277: 439–446.

Scholl J, Schneider M. Lifestyle modification and risk factor management for cardiovascular prevention in a workplace setting: The FIT IN LIFE – FIT ON THE JOB Study. Eur Heart J 2012; 33 (Suppl): 953.

Die vollständige Literaturliste kann beim Autor oder beim ASU-Redaktionsbüro angefordert werden.

    Weitere Infos

    Britische Präventionsleilinien: JBS3 risk calculator

    www.jbs3risk.com

    Für die Autoren

    Dr. med. Johannes Scholl

    Dr. Scholl Prevention First GmbH

    Europastraße 10

    65385 Rüdesheim am Rhein

    scholl@preventionfirst.de

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