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Ergonomisches Patientenhandling in der Pflegeausbildung

Einleitung

Untersucht wurden in der Studie Rahmen-lehrpläne und Ausbildungscurricula, Stan-dardlehrbücher, Praxisleitfäden und Fachbücher. Darüber hinaus wurden ExpertIn-nen interviewt und Pflegelehrkräfte schriftlich befragt. Auf allen untersuchten Ebenen bestehen Handlungsbedarfe, um die Ausbildung von Pflegenden im Sinne eines ganz-heitlich definierten Ansatzes, eines so ge-nannten „ergonomischen Patientenhandlings“ (EPH) sicherzustellen. Eine Aufwer-tung des Themas ist dringend notwendig. Diese muss sowohl auf curricularer Ebene und in Lehrbüchern als auch bei der Qua-lifizierung von PflegepädagogInnen und PraxisanleiterInnen ansetzen. Forschungsbedarf besteht für den Vergleich der Ausbildungssituationen in Ländern mit Vorbild-charakter bei der Entwicklung von EPH-Standards wie z. B. Holland, Finnland oder England.

Die körperlichen Belastungen Pflegender sind hoch; dem zunehmenden Pflege-bedarf schwergewichtigerer, älterer und damit pflegebedürftigerer Personen steht die sich verschärfende Personalknappheit im Gesundheitswesen gegenüber. Umso bedeutsamer erscheint die ganzheitliche Prävention körperlicher Belastungen, deren Konzepte schon in der Ausbildung qualitäts-gesichert vermittelt werden sollten.

Unter dem in europäischen Nachbarlän-dern verwendeten Begriff „ergonomisches Patientenhandling“ ist ein systematischer und methodenübergreifender Präventionsansatz zu verstehen, um belastende Arbeits-situationen zu vermeiden. Da eine Bestands-aufnahme des derzeitigen Stellenwerts von EPH in der Gesundheits- und Kranken- sowie in der Altenpflegeausbildung bislang fehlte, hat unsere Arbeitsgruppe im Jahr 2012 eine sog. Methodenmix-Studie durchgeführt. Ziel war, den aktuellen Stellenwert von EPH in der theoretischen und praktischen Pflege-ausbildung sowie den Ausbildungsgrundlagen zu ermitteln und Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Methoden

Die Bestandsaufnahme erfolgte in Teilprojekten (TP) mittels dreier methodischer An-sätze:

  1. 1.Dokumententenanalyse (TP1): Systemati-sche Analyse von neun bundesländerspezifischen Rahmenlehrplänen/Ausbildungsrichtlinien für die Gesundheits- und Krankenpflege sowie von 14 für die Altenpflege; ebenso wurden die entspre-chenden Berufsgesetze bzw. Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen analysiert. Wir untersuchten die didaktische/inhalt-liche Ausrichtung des Themenfelds Patientenhandling für den Unterricht und die praktische Pflegeausbildung in vier Ausbildungscurricula, vier Standardlehr-büchern, drei Praxisleitfäden, fünf Fachbüchern zu Bewegungskonzepten in der Pflege, drei Fachbüchern zum rücken-schonenden/ergonomischen Arbeiten und einem Fachbuch zu Assessments mit Instrumenten zur Einschätzung der Mobilität von Patienten.
  2. 2.Experteninterviews (TP2): Befragung von 14 der 25 angesprochenen Fachleuten aus dem Schul-, Hochschul- und Berufs-bildungsbereich, der gesetzlichen Unfall-versicherungen, der Gewerkschaft und dem Berufsverband sowie den Wohlfahrtsverbänden zur Analyse ergonomi-scher Aspekte in den pflegepädagogischen Ausbildungen an den deutschen (Fach-)Hochschulen und zum Handlungsbedarf hinsichtlich physischer Be-lastungen beim Patientenhandling.
  3. 3.Bundesweite empirische Erhebung an Pfle-geschulen (TP3): Befragung von Pflege-lehrkräften zur Verankerung von EPH-Inhalten und qualitätssichernden Struk-turen in der theoretischen und praktischen Pflegeausbildung sowie zur Qualität von Lernortkooperationen.

Ergebnisse

Teilprojekt 1: In den zahlreichen Ausbildungsgrundlagen der beruflichen Pflegeaus-bildung ist EPH als Ausbildungsgegenstand bisher weder unter pflegefachlichen noch unter präventiven Gesichtspunkten einheit-lich curricular verankert. Zudem fehlen fach-liche Qualitätsstandards und konsequent an der Gesundheitsprävention von Pflege-schülerInnen ausgerichtete EPH-Praxisleitlinien.

In den untersuchten Pflegelehr- und Fachbüchern fanden wir nur wenige Anknüpfungspunkte für eine systematische und umfassende Entwicklung pflegerischer Handlungsstrategien zu EPH. Rückenschonende Arbeitsweisen beim Patientenhandling haben sich in den vergangenen Jahren zwar zumindest in einzelnen Punkten in-haltlich niedergeschlagen. In den Lehrbüchern und Praxisleitfäden wurden allerdings Inhalte zum Selbstschutz der Pflegenden vor physischen Belastungen selten querschnittartig, d. h. bezogen auf alle relevanten Tätigkeitsbereiche, behandelt.

Teilprojekt 2: Alle interviewten ExpertInnen verwiesen auf die Notwendigkeit einer EPH-Qualifizierung im Rahmen der Lehrkraftausbildung sowie für PraxisanleiterInnen – insbesondere für die Vermittlung von prak-tischen EPH-Kompetenzen. Weiterhin be-tonten fast alle ExpertInnen die Notwendig-keit allgemeiner Verbesserungen der strukturellen Rahmenbedingungen der praktischen Ausbildung. Hierzu gehören einheitliche Grundlagen für den Mindestumfang von Praxisanleitungen wie auch inhaltliche Konkretisierungen in einem noch zu entwickelnden Praxiscurriculum.

Teilprojekt 3: Mit einem Fragebogenrücklauf von 20 % bei rund 1000 kontaktierten Pflege-schulen (n = 267) sind verallgemeinernde Aussagen mit Vorsicht zu interpretieren. Der Selbstschutz der Beschäftigten beim Patientenhandling wurde von den Befragten positiv bewertet, jedoch mehrheitlich nicht konsequent unter ergonomischen Aspekten thematisiert. Strukturelle Defizite bestehen in der EPH-bezogenen Qualifikation des Lehrpersonals und der ergonomischen Ausstattung der schulischen Übungsräume. Die Situation zu Umfang und Qualität der prak-tischen EPH-Ausbildung sowie zur Zusammenarbeit aller Beteiligten an den Theorie-Praxis-Schnittstellen ist sehr heterogen und insbesondere in der Altenpflegeausbildung defizitär.

Diskussion

Zur bundesweiten Qualitätssicherung einer EPH-Ausbildung in der Pflege sollten einheitliche und verbindliche Qualifikationsstandards geschaffen werden. Ob allerdings die Verankerung von EPH-Aspekten in einem bundeseinheitlichen und verbindlichen Rahmenlehrplan und einem abgestimmten Praxiscurriculum zur Qualitätssicherung in der Pflegeausbildung möglich ist, ist zurzeit nicht absehbar. Eine kurzfristig umsetzbare alternative Zielsetzung für den Erwerb von EPH-Kompetenz an Pflegeschulen könnte die Entwicklung eines gemeinsamen Curri-culum-Bausteins für Unterricht und Praxisanleitung sein, in dem Folgendes beschrieben wird:

  • prüfungsrelevante Lernziele und Handlungskompetenzen des EPH (ausdrücklich als bewegungskonzeptübergreifender Ansatz),
  • festgelegte Mindestzeiten für praktischen Unterricht, Training und Übung zur Festigung praktischer EPH-Kompetenzen und
  • zeitlich verbindliche EPH-bezogene Min-destregelungen zur Praxisbegleitung und -anleitung.

Zudem sollte eine grundlegende EPH-be-zogene Qualifizierung all jener Lehrkräfte er-folgen, die eine Praxisbegleitung durchführen und Prüfungen abnehmen, ggf. mithilfe exter-ner finanzieller Unterstützung. Praktische EPH-Kompetenzen sollten nachgewiesen werden. Am Praxislernort sollte eine syste-matische EPH-Ausbildung von Praxisan-leiterInnen/examinierten Pflegekräften (ggf. als „Training on the job“ durch betriebliche MultiplikatorInnen etc.) erfolgen.

Qualitätsmerkmale für eine „Good-prac-tice“-Zusammenarbeit zwischen Schule und Praxislernorten sind u. a. die Abstimmung von EPH-Lerninhalten und deren geregelte Umsetzung in der praktischen Ausbildung. Hierzu gehören auch konsensbasierte Kriterien für den Einsatz von Hilfsmitteln, die Durchführung von Hilfsmittelassessments und eine entsprechende Ausstattung mit Hilfsmitteln.

Für zukünftige Auflagen von Pflegelehrbüchern ist die Bereitstellung von Grund-lagenwissen aus unterschiedlichen „Bezugs-wissenschaften“ und ein Überblick über allgemeine Präventionsgrundsätze bei der Arbeit mit Patienten und über Prinzipien aus der Bewegungslehre und Ergonomie zu empfehlen (mit Verdeutlichung durch Fallbeispiele und Bereitstellung von Kriterien bzw. Assessmentinstrumenten für die sinnvolle Auswahl und konkrete Anwendung von Hilfsmitteln und technischen Hilfen sowie Optionen unter dem Gesichtspunkt Handlungssicherheit).

Für die praktische Ausbildung und die Praxisanleitung von SchülerInnen empfehlen wir anstelle von Praxisleitfäden zukünftig curriculumbasierte Arbeitshilfen (die an einem noch zu entwickelnden EPH-bezoge-nen „Baustein“ eines Praxiscurriculums aus-zurichten wären).

Fazit und Ausblick

Auf allen untersuchten Ebenen bestehen Handlungsbedarfe, um die Ausbildung von Pflegenden im Sinne eines ganzheitlichen „ergonomischen Patientenhandlings“ (EPH), wie es eingangs definiert wurde, sicherzustellen. Dies betrifft sowohl die Situation der heterogenen Ausbildungsgrundlagen der Bundesländer und die unzureichende Ausgestaltung fachspezifischer Lehrmaterialien, uneinheitliche und teils defizitäre Voraussetzungen für die fachgerechte Vermittlung von EPH bei Lehrenden, fehlende Regelun-gen zu Lernortkooperationen sowie Defizite in der Ausgestaltung und Umsetzung der praktischen Ausbildung an den Praxislernorten.

Vor dem Hintergrund des steigenden Bedarfs professioneller Pflege in der Gesellschaft und dem damit verbundenen hohen Stellenwert von EPH ist die Aufwertung des Themas dringend notwendig. Veränderun-gen müssen sowohl auf curricularer Ebene und in Lehrbüchern als auch bei der Qualifi-zierung von PflegepädagogInnen und Praxis-anleiterInnen ansetzen. Forschungsbedarf besteht für einen Vergleich der Ausbildungssituationen in Ländern mit Vorbildcharakter in der Entwicklung von EPH-Standards wie z. B. Holland, Finnland oder England.

Literatur

Literatur kann bei der Autorin angefordert werden.

    Info

    Finanzierung und Danksagung: Wir danken der Berufsgenossenschaft für Gesundheits-dienst und Wohlfahrtspflege (BGW) für die finanzielle Unterstützung, Melanie Bremer vom Institut für Public Health und Pflege-forschung (Literaturrecherchen und -analy-sen im Teilprojekt 1) sowie Ariane Haug und Johanna Kranich von der FFAS (Daten-management im Teilprojekt 3, Unterstützung bei der Manuskripterstellung) sowie allen TeilnehmerInnen der Studie.

    Weitere Infos

    Projektbericht: Ergonomisches Patientenhandling in der Pflege-ausbildung

    www.ffas.de/assets/pdf/EPH-IN-DER-PFLEGEAUSBILUNG-Projektbericht-2014.pdf

    Für die Autoren

    Dr. med. Martina Michaelis

    Freiburger Forschungsstelle Arbeits- und Sozialmedizin (FFAS)

    Bertoldstraße 63

    79098 Freiburg

    michaelis@ffas.de

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