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Erfahrungen der BGW

Moderierte Gefährdungsbeurteilung

Hinsichtlich der Belastungen im Be-rufsalltag spielen in der Pflege die klassischen Arbeitsschutzthemen nicht die größte Rolle. Natürlich ist es wichtig, dass die Feuerlöscher einsatzbereit sind und sich niemand in der Pause einen Stromschlag an der Kaffeemaschine holt. Aber Feuerausbrüche oder Elektrizitätsunfälle kommen glücklicherweise selten vor. Viel öfter leiden die Beschäftigten unter Zeitdruck, unter bestimmten Anforderungen von Patienten sowie deren Angehörigen oder unter Problemen bei der Abstimmung im Team oder in der Zusammenarbeit mit Führungskräften. Hinzu kommt, dass Pflegekräfte oft Einzelkämpfer sind. In der ambulanten Pflege sind sie allein zu ihren Einsatzorten unterwegs und auch in der stationären Pflege bewältigen die meisten ihre Arbeit für sich – trotz räumlicher Nähe zu Kollegen.

Das Wahrnehmen psychischer Belastung hat mittlerweile im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz einen wichtigen Stellen-wert gewonnen. Nicht zuletzt infolge der ent-sprechenden Änderung des Arbeitsschutzgesetzes werden Betriebsärzte inzwischen regelmäßig um Hilfe bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung gebeten – auch von kleinen und mittleren Unterneh-men. Gleichzeitig sind viele Arbeitsschutzfachleute unsicher, wie sie diesem Bedarf entsprechen können. Es mangelt nicht etwa an Wissen. Das Angebot an Konzepten und Materialien, Instrumenten und Tools ist groß. Aber angesichts knapper finanzieller und personeller Ressourcen möchten und können viele Unternehmen keine aufwändigen und wissenschaftlich fundierten Erhebungen machen. Vielmehr gilt es für sie, schnell und einfach Lösungen für die Belastungssituation ihrer Beschäftigten zu entwickeln.

Genau für diesen Bedarf eignen sich oft moderierte Gruppenverfahren sehr gut: Mit ihnen lässt sich zügig in die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung einsteigen. Gleichzeitig werden die Betroffenen hier nicht nur befragt, sondern erarbeiten auch praxisnahe Lösungsvorschläge. Beschäftigte sind Fachleute für ihren Arbeitsplatz: Sie wissen am besten, was dort los ist. Daher fordert das Arbeitsschutzgesetz aus gutem Grund ihre Beteiligung an der Gefährdungsbeurteilung. Betriebsärzte mit Moderationserfahrung können das Verfahren, das sich bereits sehr bewährt hat, als einfaches Handwerkszeug nutzen, um gerade in kleinen und mittleren Unternehmen mit überschaubarem Aufwand eine praxisnahe Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung anzuschieben.

Das Instrument im Überblick

Im Kern umfasst die moderierte Gefährdungsbeurteilung drei Schritte:

  • Zuerst wird herausgearbeitet, wo der Schuh drückt. In einer Versammlung der Mitarbeiter erfolgt eine Bestandsaufnahme der Themen, die belasten und be-arbeitet werden sollen.
  • Im zweiten Schritt geht es um Lösungen. Die Beschäftigten entwickeln Ideen und konkrete Schritte zur Verwirklichung. Wenn ein Treffen nicht reicht, können dazu mehrere Sitzungen stattfinden. Auch die Umsetzung der Präventionsmaßnahmen im Unternehmen gehört zu dieser Phase.
  • Anschließend wird in einer weiteren Sitzung geprüft, ob die Maßnahmen ge-griffen haben und wo eventuell nachgebessert werden muss.

Dann kann das nächste Thema kommen. So beginnt ein Kreislauf kontinuierlicher Verbesserungen.

Schritt 1: Die Bestandsaufnahme

An der Bestandsaufnahme werden nach Mög-lichkeit alle Mitarbeiter beteiligt. Der äußere Rahmen kann eine Versammlung der Beschäftigten sein, die eigens dafür einberu-fen wird. Es lässt sich aber auch eine regu-läre Dienstbesprechung nutzen, in der dem Thema Platz eingeräumt wird. Inhaltlich geht es in diesem Schritt vor allem um zwei Punkte:

  • Was belastet die Beschäftigten in ihrem Berufsalltag?
  • Was stärkt und motiviert sie?

Diese Fragen werden am besten in Kleingruppen mit bis zu sechs Personen bearbei-tet. So können wirklich alle zu Wort kom-men und haben auch schüchterne Menschen eine Chance, ihre Erfahrungen einzubringen. Wenn viele Aspekte zusammengetragen werden, empfiehlt es sich zu priorisieren. Dabei helfen Moderationsmethoden, etwa das Vergeben von Klebepunkten. Bei Bedarf kann hier auch die Fragestellung va-riiert werden. Aus „Was belastet Euch am meisten?“ ließe sich beispielsweise ableiten: „Was können wir am schnellsten ändern?“ Eine solche Frage leitet indirekt schon zur Maßnahmenentwicklung über.

Schritt 2: Das Entwickeln und Umsetzen von Lösungen

Der zweite Schritt ist das Erarbeiten von Lösungen. Er findet aus zwei Gründen in einigem Zeitabstand zum ersten statt. Zum einen, weil der erste Termin sonst zu lang würde. Zum anderen, weil die Fragestellungen in der Zwischenzeit weiterwirken. Für das Erarbeiten von Lösungen lassen sich be-reits bestehende Strukturen nutzen, zum Bei-spiel Qualitäts- oder Gesundheitszirkel.

Gerade in dieser Phase ist Moderation hilfreich, denn oft liegen die Lösungen nicht auf der Hand. Der Moderator oder die Mode-ratorin unterstützt dann die Gruppe, systematisch vorzugehen und dabei so konkret wie möglich zu werden. Es geht hier darum, gemeinsam die verschiedenen Aspekte des vorliegenden Problems zu erfassen, passgenaue Ziele zu formulieren, darauf aufbauend Lösungsideen zu entwickeln und entsprechende Maßnahmen zu beschließen. Festzulegen ist auch, wer was bis wann macht. Sämtliche Beschlüsse sind auf ihre Umsetzbarkeit abzuklopfen. Oft braucht es nach der Versammlung der Beschäftigten, in der diese Arbeit geleistet wird, zudem noch die Abstimmung mit der Leitung. Anschließend kann die Umsetzung beginnen.

Schritt 3: Das Überprüfen

In einer weiteren Versammlung der Beschäftigten, etwa ein halbes Jahr nach dem Einstieg, sind folgende Fragen zu klären:

  • Wurden die Ziele erreicht?
  • Welche zusätzlichen Maßnahmen sind erforderlich?
  • Welche neuen Themen sollen bearbeitet werden?
  • Wie zufrieden sind die Beschäftigten mit dem Erfolg der Maßnahmen?

Dabei kann auch das Äußern von Unzufrie-denheit konstruktiv sein: dann nämlich, wenn nach den Gründen geforscht und Verbesserungsvorschläge aufgegriffen werden. In dieser Versammlung werden auch die Weichen für weitere Verbesserungen gestellt. Im Idealfall mündet die moderierte Gefährdungsbeurteilung so in einen Prozess kontinuierlicher Verbesserung, der in den betrieb-lichen Strukturen verankert ist.

Erfahrungen aus der Praxis

Viele Unternehmen finden über die moderierte Gefährdungsbeurteilung einen neuen Zugang zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Das Thema kommt im Betrieb in Be-wegung. Für die Unternehmensleitung ist oft zunächst die Rechtssicherheit ein starker Beweggrund, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Die Mitarbeiter zeigen häufig erst einmal wenig Interesse an dem Thema. Mit der moderierten Gefährdungsbeurteilung lässt sich dieses Dilemma in vielen Fällen lösen. Die Beschäftigten kommen mit ins Boot, weil sie merken, dass es um ihre eigenen Themen geht. Wenn sie dann die Sinnhaftigkeit von Arbeitsschutz erfahren haben, kann es auch weitergehen.

Die moderierte Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung kann ein Ausgangspunkt sein, um den betrieblichen Arbeitsschutz lebendig zu gestalten. Sie kann auch eine wertvolle Ergänzung der vorhandenen Arbeitsschutzaktivitäten sein. Eine klassi-sche Gefährdungsbeurteilung, die mit Unter-stützung von Sicherheitsfachkraft und Arbeitsmedizin auf Basis von Begehungen ent-standen ist, wird um zusätzliche Themen und die Perspektive der Beschäftigten ergänzt.

Pflegende richten ihre Aufmerksamkeit oft nach außen, auf die Bedürfnisse der ihnen Anvertrauten. Bei der moderierten Gefährdungsbeurteilung geht es vor allem um sie selbst. Das ist eine neue und positive Erfahrung. Es werden gemeinsam Missstände und verborgene Belastungen aufgedeckt und Lösungen entwickelt. Mit den Leitungen kön-nen diese Ideen diskutiert werden. Diese sind oft froh, wenn sie zu einer klar formulierten Frage Stellung nehmen, Missverständnisse ausräumen oder etwas klären können. Vieles, was der Leitung so selbstverständlich ist, dass sie gar kein Wort darüber verliert, ist den Beschäftigten überhaupt nicht klar. Durch die moderierte Gefährdungsbeurteilung ver-stehen die Beschäftigten die betriebliche Perspektive besser. Das wiederum hilft, die Sinnhaftigkeit im eigenen Tun zu erkennen – ganz im Sinne der Salutogenese.

Viele Arbeitsschutzfachleute, aus dem medizinischen wie dem technischen Bereich, suchen nach Aufgaben jenseits der klassischen Begehung eines Betriebes oder der medizinischen Untersuchung und Beratung von Einzelpersonen. Oft köcheln Sicherheits- oder Gesundheitsthemen in den Be-trieben lange vor sich hin und geraten im Alltag immer wieder ins Hintertreffen. Eine moderierte Gefährdungsbeurteilung lässt häufig deutlich werden, wie sehr ein Missstand Zeit und Energie frisst und wie viele Personen darunter leiden. Das sorgt für den notwendigen Veränderungsdruck. Mit der Moderation von Gefährdungsbeurteilungen ergänzen Betriebsärzte ihr Aufgabenspektrum. In der Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung treten nun inhaltliche Arbeits- und Gesundheitsschutzaspekte in den Vordergrund. Es geht darum, das jeweilige Thema zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen und praktikable Lösungen zu finden. Im günstigsten Fall tritt dabei das Ringen um Einsatzzeiten und Pflichtstunden ganz in den Hintergrund.

Fazit

Mit der moderierten Gefährdungsbeurtei-lung gelingt, was bisher oft nur schwer mög-lich war: Unternehmensleitungen und Beschäftigte gleichermaßen für einen nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz zu gewinnen. Von den alltäglichen Belastungen ist der Weg dann nicht mehr weit zu den Arbeitsschutzthemen, die im Alltag nicht so offensichtlich, aber ebenso wichtig sind. Schritt für Schritt nähert sich ein Betrieb so der Rechtssicherheit im Arbeitsschutz an. Positive Nebenwirkung: Sogar die Kunden bemerken Verbesserungen und die Auswirkungen sind über verbesserte Betriebsabläufe und Geschäftsprozesse bis in die Bilanz hinein spürbar.

Darüber hinaus macht die Durchführung einer moderierten Gefährdungsbeurteilung vielen Beteiligten auch Spaß. Die Arbeit wird herausfordernder und befriedigender zugleich. Man hat plötzlich mit Gruppendynamik zu tun und kann unmittelbar erleben, wie Mitarbeitende gemeinsam ungeahnte konstruktive Ideen entwickeln – ohne für jedes Problem selbst eine Lösung aus dem Hut zaubern zu müssen. Das fördert nicht zuletzt die Arbeitszufriedenheit und Motivation.

Literatur

Bauer-Sternberg D, Brennert C, Deters J, Müller-Bagehl S: Arbeitsschutz in der ambulanten Pflege. Initiative Neue Qualität der Arbeit, 2008.

Brennert C: Die Belastungen des Pflegealltags ver-ringern – die Moderierte Gefährdungsbeurteilung. In: Brandenburg S, Palsherm K, Warmke S, Weiß E (Hrsg.): Pflege – Erfolgsfaktor Arbeits- und Gesund-heitsschutz. Berlin: Erich Schmidt-Verlag, 2012, S. 143–156.

Brennert C, Müller-Bagehl S, Bauer-Sternberg D, Säckl W: Moderierte Gefährdungsbeurteilung. Initiative Neue Qualität der Arbeit, 2009.

    Info

    Praxishilfen und Qualifizierungsangebot

    Die Berufsgenossenschaft für Gesundheits-dienst und Wohlfahrtspflege (BGW) hat im Rahmen der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ zusammen mit dem Amt für Arbeits-schutz Hamburg Praxishilfen für kleine und mittlere Unternehmen entwickelt. Das Material aus dem Kooperationsprojekt ist im Internet zu finden (s. „Weitere Infos“).

    Weiter ist die moderierte Gefährdungs-beurteilung auch Thema in einer Qualifi-zierung für Arbeitsschutzfachleute zur systemischen Arbeitsschutzberatung, die die BGW entwickelt hat. Interessierte können sich für weitere Informationen zu diesem Angebot an die Autorin wenden.

    Weitere Infos

    Autorin

    Carola Brennert

    Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)

    Präventionskoordination

    Pappelallee 33/35/37

    22089 Hamburg

    carola.brennert@bgw-online.de

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