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Wie wird die demografische Entwicklung die Tätigkeit des Arbeitsmediziners in Deutschland beeinflussen?

Die Zukunft der Sozialversicherung

Einleitung

Auch wenn die Leitlinie der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) rein empfehlenden Charakter hat, so ist die Zielsetzung für Arbeitsmediziner sehr interessant: Es geht um strategische Optionen, Diskussion über gute Praxis, Erfolgsfaktoren und praktische Instrumente zur Umsetzung, und zwar weltweit.

Die öffentliche Diskussion in Deutschland hat im Rahmen des XX. Weltkongresses Health und Safety in Frankfurt im August 2014 begonnen und wurde u. a. auf dem Reha-Weltkongress im Juni 2015 in einem DGUV-Forum in Berlin fortgesetzt.

Warum die Leitlinie aus Sicht der IVSS so wichtig ist

IVSS-Leitlinien für die Verwaltung der sozialen Sicherheit beinhalten international anerkannte Berufsstandards. Die Leitlinien zur Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit wurden unter Leitung des IVSS-Fachausschusses für die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten mit Dr. Joachim Breuer (DGUV) als Vorsitzendem und in Kooperation mit dem National Institute of Disability Management and Research (NIDMAR) und Rehabilitation Inter-national (RI) erarbeitet.

„Die Träger der sozialen Sicherheit ste-hen weltweit vor immer größeren werdenden wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Herausforderungen, die ihre Finanzierbarkeit belasten und ihre Aufgaben, soziale Unsicherheit zu bekämpfen, beeinträchtigen können.“ Dies ist vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen zu betrachten. Es gibt international einen sig-nifikanten Anstieg der Leistungsanträge aufgrund psychischer Erkrankungen und niedrige Beschäftigungsquoten für Menschen mit Behinderungen. Zwar verfügen einige Träger der sozialen Sicherheit noch über ausreichend solide Finanzlagen, aber die kombinierte Wirkung von mehr Leistungen und weniger Beitragszahlern führt „ohne Korrekturmaßnahmen letztlich zu geringeren Sozialleistungen und weniger Dienstleistung für diejenigen Menschen, für die das System der sozialen Sicherheit ursprünglich geschaffen wurde, einschließlich der Menschen mit Behinderungen“ (IVSS 2013).

In der politischen Diskussion in Deutsch-land wird ein wichtiger zusätzlicher gesetzlicher Faktor aus Sicht der Autorin noch wenig thematisiert. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), das 2008 in Kraft trat, „verpflichtet die Träger der sozialen Sicherheit zudem, ihre Rechtssysteme, insbesondere in den Staaten, welche das Übereinkommen ratifiziert haben, ihre Rechtssysteme anzupassen“ (IVSS 2013).

Vor diesem Hintergrund hat die IVSS in einem breit angelegten internationalen Konsultationsverfahren erfolgreiche Modelle guter Praxis ermittelt, um den Mitglie-dern beratend zur Seite zu stehen und Innovation zu ermöglichen.

Inhalt der Leitlinien „Wieder-herstellung der Beschäftigungs-fähigkeit“ oder „Return to Work and Reintegration“

Im Zentrum der Leitlinien der IVSS zur Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit stehen Personen, die kurz- oder langfristig arbeitsunfähig sind und die Bindung zu einem Arbeitgeber aufrechterhalten ( Tabelle 1). Die Leitlinien gelten unge-achtet des Grundes der Krankschreibung, ob diese nun berufsbedingt ist oder nicht (IVSS 2013).

Zusätzlich geht diese Definition auch über den Aufgabenkatalog der Gesetzlichen Unfallversicherung hinaus und fordert in gleicher Weise die Kranken- und Rentenversicherung. Es ist formuliert, dass sich die Anstrengungen in erster Linie auf den Erhalt des Arbeitsplatzes richten, damit Personen mit einer beeinträchtigten Beschäftigungsfähigkeit nicht zu früh aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Weitere Informationen sind auf der Homepage der ISSA zu finden (s. „Weitere Infos“). Es gibt eine Version im Internet mit dem Hinweis „öffentlich zugängliche Ausgabe“ und eine bei den Sozialversicherungen verfügbare Version, die mit den Gliederungspunkten Struktur und Mechanismus deutlich aussagekräftiger ist.

Der Schlüsselsatz dieser Leitlinie ist mit dem Motto „Vom Payer zum Player“ be-schrieben und stellt einen deutlichen Paradigmenwechsel dar (IVSS 2013).

Das zentrale Thema dabei: Wie kann der Arbeitsplatz wirksam erhalten werden? Die Ideen der Leitlinien gehen von Geldbußen bis zu finanziellen Anreizen für Arbeitgeber und somit über das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), wie wir es in Deutschland kennen, deutlich hinaus. Leider ist die Einbindung des Arbeitsmediziners bei uns eine „Kann“-Bestimmung.

In der Vollversion unter Leitlinie 10: Früherkennung findet sich der Hinweis:

  • „Die Geschäftsführung sollte gemeinsam mit den Akteuren wie den Arbeitgebern und den Arbeitsmedizinern eine Strategie für die Früherkennung sowohl innerhalb als auch außerhalb des eigenen Trägers entwickeln.
  • Die Früherkennungsstrategie sollte präventive Initiativen beinhalten.
  • Sie sollte auch auf einen raschen und rechtzeitigen Zugang zu geeigneten Maßnahmen und Gesundheits- und Rehabilitationseinrichtungen ausgerichtet sein“ (IVSS 2013).

Ansonsten sind als betriebliche Ansprechpartner insbesondere Personalchefs und ganz allgemein Gesundheitsfachleute benannt. Der Hintergrund ist einfach – Arbeits-mediziner gibt es international nicht in allen Ländern in den Betrieben.

Gesundheit – seit 2011 festes Thema auf jedem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos

Dass Gesundheit für Unternehmen zu einem Schlüsselthema für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg geworden ist, zeigen die Themen der letzten Weltwirtschaftsforen eindrucksvoll. 2010 war das Thema der Finanzierbarkeit der Renten im demografischen Wandel ein gesundheitsrelevantes Schwerpunktthema (WEF 2010).

Um die globale Auswirkung auf die Produktivität zu schätzen, wurde das Harvard Institut for Public Health mit der finanziellen Einschätzung für die Zeit bis 2030 beauftragt (WEF u. Harvard Scholl of Public Health 2011). Ergebnis: Es geht um extrem hohe Summen und je wohlhabender das Land ist, desto gra-vierender werden die Auswirkungen durch chronische Erkrankungen in Zukunft sein.

Warum sich Unternehmen zunehmend für Gesundheitsthemen interessieren

Neben den üblichen Geschäftsberichten veröffentlichen viele Unternehmen freiwillig und regelmäßig Nachhaltigkeitsberichte und stellen diese ins Internet. Hier findet sich ein extra Kapitel zu Arbeits- und Gesundheitsschutz und aus mehreren Blickwinkeln geht es um den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit der Belegschaft.

Die Definitionen sind von der Global Reporting Initiative (GRI) erarbeitet und werden regelmäßig aktualisiert. Details zu den Definitionen finden sich im Implementation Manual, eine wahre Fundgrube von Definitionen und Referenzen (GRI 2013).

Möchte ein Unternehmen einen freiwilligen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlichen, werden die Ziele und Maßnahmen vom jeweiligen Vorstand unterzeichnet. Die Auswirkungen des demografischen Wandels bezogen auf die konkrete Unternehmens-situation wird zunehmend in den Nachhaltigkeitsberichten als Handlungsfeld detailliert beschrieben.

Online-Survey zur Rolle der Sozialversicherungen, HR und der Arbeitsmedizin

Im Rahmen ihrer MBA-Masterarbeit hat sich die Autorin 2014 mit der IVSS Leitlinie „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“ und den Auswirkungen und Chancen für HR und betriebsärztliches Handeln beschäftigt. Um ein Stimmungsbild zu erhalten, wurde dazu auch ein Online-Survey genutzt.

Fragen an die Sozialversicherungen waren z. B., ob es nationale Ziele zur Implementierung der IVSS-Leitlinien bereits gibt oder auch welche Art der Unterstützung bereits heute den Unternehmen angeboten wird?

Fragen an die Arbeitsmediziner waren auszugsweise:

  • Ist die Leitlinie der IVSS im Unternehmen bekannt?
  • Spielt die Größe des Unternehmens oder die Art der arbeitsmedizinischen Betreuung eine Rolle?
  • Gibt es bereits eine Implementationsstrategie im Unternehmen?
  • Benötigen Unternehmen Unterstützung beim Thema „Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit“, und wenn ja: welche?
  • Woran wird der Erfolg 2020 gemessen?

Ergebnisse aus 129 Antworten der Arbeitsmediziner aus Deutschland im kurzen Überblick

85 % der Antwortenden waren Fachärzte für Arbeitsmedizin. 49 % der Antwortenden waren im Unternehmen direkt beschäftigt und 43 % als externe Dienstleister oder stundenweise als Freiberufler in Betrieben tätig. 67 % der Antwortenden betreuen Unternehmen bis 10 000 Mitarbeiter, 23 % kannten die Leitlinien der IVSS bereits sechs Monate nach deren internationaler Veröffentlichung. Obwohl das betriebliche Eingliederungsmanagement in Deutschland seit 10 Jahren eine gesetzliche Grundlage hat, sehen 48 % einen Unterstützungsbedarf in Unternehmen beim Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter.

Die Top 5 der von Betriebsärzten gewünschten Dienstleistungen der Sozialversicherungen in Deutschland waren (Mehrfachnennungen möglich):

  • 57 % wünschen sich einen Arbeitgeber-Service,
  • 57 % Beratung im Einzelfall – Fallmanagement im Betrieb durch Mitarbeiter der Sozialversicherung,
  • 50 % erwarten Leitlinien und Handlungshilfen,
  • 49 % Schulungsprogramme für firmeninterne Mitarbeiter zu Return to Work,
  • 44 % Kennzahlensysteme zu erfolgrei-chem Wiedereingliederungsmanagement.

Spannend war auch die Beantwortung der Vision-2020-Frage: Exemplarisch typische Antworten für eine erfolgreiche Umsetzung in Unternehmen waren:

  • „Ältere Mitarbeiter sind beschäftigungs-fähig und werden nicht in den Fünfzigern in Vorruhestand geschickt“.
  • „Der Reflex Entlassung wegen Krankheit ist kein Thema mehr“.
  • „Alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze stehen ausreichend in Unternehmen zur Verfügung“.

Ausblick

Wie sich die Sozialversicherungen in Deutsch-land weiter entwickeln, bleibt abzuwarten. Die Gliederungsstruktur der Leitlinien enthält in der Vollversion viele Anregungen, um globale Return-to-Work-Prozesse bereits heute zu konzipieren und die aktive Unterstützung der Sozialversicherungen einzufordern.

Der VDBW bietet in Zusammenarbeit mit der DGUV seit 2007 dreitägige CDMP-Seminare für Arbeitsmediziner in verschie-denen Städten mehrfach im Jahr an, an denen bereits über 350 Betriebsärzte erfolgreich teilgenommen haben.

Aus Sicht der Autorin kann es sich im demografischen Wandel kein Unternehmen und keine Volkswirtschaft mehr leisten, auf das spezielle Know-How von Arbeitsmedizinern zu verzichten. Diese Leitlinien geben einen Ausblick, wie sich zukünftig Unterstützungsleistungen der Sozialversicherun-gen mit den Betrieblichen Ressourcen der Personaler und Betriebsärzte sinnvoll ergän-zen lassen.

    Weitere Infos

    GRI: Global Reporting Initiative™, GRI Version 4 Part 2, Implemen-tation Manual, Amsterdam, 2013

    https://www.globalreporting.org

    Leitlinien der IVSS: Wieder-herstellung der Beschäftigungsfähigkeit, Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit. Genf, 2013

    www.issa.int/excellence/guidelines/return-to-work

    World Economic Forum: The Future of Pensions and Healthcare in a Rapidly Ageing World, Scenarios to 2030. 2010

    www.weforum.org/reports/future-pensions-and-healthcare-rapidly-ageing-world-scenarios-2030

    World Economic Forum and the Harvard School of Public Health: The Global Economic Burden of Non-communicable Diseases, REF: 080911, Geneva, 2011

    www3.weforum.org/docs/WEF_Harvard_HE_GlobalEconomicBurdenNonCommunicableDiseases_2011.pdf

    Autorin

    Dr. med. Annette Gäßler

    Fachärztin für Allgemein- und Arbeitsmedizin

    Hamburg

    annette-gaessler@t-online.de

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