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Erste Hilfe für die Seele

Zahlreiche Rechtsquellen geben Auf-schluss darüber, wie in Betrieben mit erster Hilfe zu verfahren ist. Einige Prozent, je nach Gefahrenpotenzial, der anwesenden Beschäftigten müssen danach als betriebliche Ersthelfer qualifiziert sein. Im Fokus stehen dabei körperliche Verletzungen, die sich die Beschäftigten während der Arbeitszeit zugezogen haben. Solche betrieblich oder auch außerhalb zugezogenen körperlichen Verletzungen oder Leiden führen oft direkt zum Arztbesuch. Nach Behandlung und eventueller Krankheitsphase kehren die Beschäftigten kuriert vom physischen Leiden an ihren Arbeitsplatz zurück.

Bei psychischen Verletzungen oder Leiden stellt sich die Situation hingegen anders dar. Eine adäquate Versorgung wird häufig erst recht spät in Anspruch genommen. Das führt zu langen psychischen Krankheitsverläufen mit schlechter Prognose.

Doch was passiert eigentlich, wenn wegen psychischer Probleme (noch) kein Arzt-besuch stattgefunden hat? Man schämt sich oder glaubt, die Krise aus eigener Kraft über-winden zu können. Jeder Mensch hat eine persönliche Resilienzfähigkeit, der eine mehr, der andere weniger. So, wie gemeinhin von Selbstheilungskräften bei körperlichen Leiden gesprochen und auf diese gehofft wird, so vertrauen auch viele auf ihre Selbsthilfekompetenz, wenn es um die Überwindung von Lebenskrisen im Sinne kritischer Lebensereignisse geht. Gleichgültig ob diese Ereignisse häufiger im privaten als im beruf-lichen Umfeld stattfinden, so können sie doch gleichermaßen die psychische Stabilität und damit letztendlich die Beschäftigungsfähigkeit deutlich und unter Umständen langan-haltend beeinflussen.

Lebensphasenorientierte Selbsthilfekompetenz

Unter dem – zugegebenermaßen etwas sperrigen – Titel „Lebensphasenorientierte Selbsthilfekompetenz – Entwicklung eines ganzheitlichen und Lebensphasen-orien-tierten Angebotes zum Erhalt von Beschäftigungs- und Leistungsfähigkeit“ – ab-gekürzt „Los!“ – hat sich die REWE Group im Rahmen eines Förderprojekts der Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) gemeinsam mit dem Institut für gesundheit-liche Prävention (IFGP) zum Ziel gesetzt, ein ganzheitliches Konzept zur Unterstüt-zung betroffener Beschäftigter zu entwickeln und in die Fläche auszurollen. Die Leitfrage dabei: Wie können Akteure im Betrieb im Sinne einer ersten Hilfe handeln, wenn es um seelisch-psychische Krisen geht? Bei einer körperlich-physischen Erkrankung ist ein Gang zum Arzt etwas selbstverständliches, bei einer psychischen Instabilität, gleich aus welchem Grund, wird oft gewartet, bis es nicht mehr geht und eine mehr oder weniger massive Krisenintervention notwendig ist.

Können Arbeitgeber hier präventiv etwas tun?

Welche Aufgaben können die Akteure im be-trieblichen Umfeld (Vorgesetzte, Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit etc.) übernehmen? Wer hilft einem Beschäftig-ten, dem ein Ereignis in seinem Leben zwar große Sorgen bereitet, der aber trotzdem in vollendet präsentistischer Weise weiterar-beitet, ohne sich Hilfen zu holen? Kommt das seelische Gleichgewicht aus der Balance, hat das schnell Folgen auf die Arbeitsleistung oder das Verhalten. Das wird am Arbeitsplatz durchaus bemerkt. Zeitlich betrachtet liegt das eigentliche Problem oft lange vor einer Auffälligkeit. Dabei ist mit Auffälligkeit keinesfalls immer gleich ein massives Ereignis im Sinne einer Krankheit gemeint, sondern eher die möglichen Vorstufen wie erhöhte Fehlerquoten, Unkonzentriertheit, Gereiztheit, ein auffallend verlangsamtes Arbeitstempo oder gehäufte kurze Ausfallzeiten. Dies alles können Anzeichen einer psychi-schen Belastungssituation sein, der ein Mitarbeiter ausgesetzt ist. Kritische Lebensereignisse wie Trennung, Schuldenkrise, Tod eines Angehörigen oder die eigene Krankheit, aber auch Mobbing oder Prüfungsangst, können die Ursache sein.

Wie können innerbetriebliche Hilfsangebote diese Mitarbeiter erreichen, welche Wege stehen den ratsuchenden Beschäftig-ten zur Verfügung? Im Projekt wurden die relevanten Themenfelder durch Mitarbeiterbefragungen sowie auf Basis wissenschaft-licher Erkenntnisse identifiziert. Hierbei fiel auf, dass einerseits normative Ereignisse wie die voraussehbare Pflicht, pflegebedürftige Eltern zu betreuen, die Beschäftigten belasten, andererseits aber die nicht-normativen, plötzlichen Ereignisse wie Trennung oder eigene Erkrankung zu größeren Schwierigkeiten führen. Diese Krisen treffen den Men-schen unerwartet und können länger unbearbeitet auf der Seele der Betroffenen „schwelen“.

Ziel des Projekts ist es, einen möglichst niedrigschwelligen Zugang in ein betriebliches Unterstützungssystem zu ermöglichen.

Lotsen im Betrieb

In zweitägigen Workshops werden „Los!-Multiplikatoren“ beim Institut für gesundheitliche Prävention (IFGP) ausgebildet. Die Multiplikatoren sind Vertrauenspersonen, die im Wesentlichen zwei Aufgaben haben. Erstens sind sie in Gesprächsführung geschult, können so im Krisenfall Vertrauen aufbauen und im Gespräch das Gefühl der Ausweglosigkeit mindern. Zweitens bündeln sie Hilfsangebote von Schuldnerberatung bis Selbsthilfegruppe oder Unterstützung bei der Organisation von Pflege.

So wird ein erster möglicher Schritt her-aus aus der Krise aufgezeigt. Hierbei wird auf der einen Seite die kollegiale Nähe ge-nutzt, andererseits aber schon, da wo es ge-boten erscheint, gezielt in Richtung professioneller Hilfe gelotst. Dies kann die Kontaktvermittlung zum Betriebsarzt bedeuten oder auch im Extremfall ein gemeinsamer Gang zur Schuldnerberatung. Oft hilft aber auch einfach nur ein offenes Ohr, ein Gespräch, damit sich die Last nicht mehr so schwer anfühlt. Wichtig sind das Signal der Unterstützungsbereitschaft und die Glaubwürdigkeit. Zur Bewältigung ihrer Aufgaben steht den Multiplikatoren eine Reihe von themenbezogenen Handlungshilfen zur Ver-fügung. Diese können den ratsuchenden Mitarbeiter im Beratungsgespräch übergeben werden. Alternativ stehen diese Handlungshilfen aber auch im Intranet zum freien Download bereit. Die Handlungshilfen wer-den regelmäßig überarbeitet.

Wer ist als LoS!-Multiplikator geeignet?

Kollegen aus allen Bereichen und Ebenen des Unternehmens sind als Lotsen im Betrieb geeignet. Betriebsräte, Führungskräfte und Sachbearbeiter sind genauso dabei wie Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Gesundheitsreferenten. Die Multiplikatoren kommen immer aus dem kollegialen Umfeld und haben eines gemeinsam: Sie sollen empathisch sein und zuhören können. Wichtig ist, dass sie sich mit der Aufgabe identifizieren und so andere davon überzeugen können, sich bei ihnen rechtzeitig Hilfe zu holen.

Die Multiplikatoren bieten ein Angebot kollegialer Erstberatung. Sie sollen und kön-nen weder Psychologen noch Therapeuten ersetzen. Sie sind Ersthelfer in seelischen Angelegenheiten. Selbsthilfekompetenz hat im Prinzip jeder Mensch, aber oft und gerade in einer Phase seelischer Dysbalance ist sie „verschüttet“. Ein Gespräch mit einem LoS!-Multiplikator kann Impulse von außen geben, damit diese Selbsthilfekompetenz wieder aktiviert wird.

In den vorangegangenen Kasuistiken wurden die Aufgaben und Möglichkeiten der Multiplikatoren verdeutlicht.

Präventionspreis der BGHW 2013

Mittlerweile sind in der REWE Group rund einhundert LoS!-Multiplikatoren ausgebildet und untereinander sehr gut vernetzt. In regelmäßigen Treffen, tauschen sich die Multiplikatoren aus und unterstützen sich bei Bedarf gegenseitig. Es besteht auch die Möglichkeit für Multiplikatoren, sich über den betriebsärztlichen Dienst an einen Psychologen zu wenden, wenn Beratungsgespräche auch für die Multiplikatoren zu belastend sind.

Das Angebot an die Mitarbeiter ist unternehmensweit kommuniziert und wird zunehmend in Anspruch genommen. Etwa zwei bis drei Beratungsgespräche pro Monat können vorkommen und zeigen die gesamte Bandbreite menschlicher Probleme. Mittlerweile ist das Projekt im gesamten Konzern bekannt und der Zulauf zu den Beratungsgesprächen wächst.

Am 31. 05. 2013 wurde das „Projekt LoS!“ offiziell beendet. Im REWE Konzern wurde es damit zu einem regulären Angebot für die Belegschaft. Im November 2013 wurde das Angebot mit dem Präventionspreis der Berufsgenossenschaft für Handel und Warenlogistik (BGHW) ausgezeichnet. 

    Beispiele

    Fall 1

    Das ist zu viel: Trennung und eigene Krebserkrankung

    Eine Mitarbeiterin kontaktierte den LoS!-Multiplikator in einer für sie sehr schwieri-gen Situation. Nach einer familiären Krise, an deren Ende die Trennung vom Partner stand, wurde ihr wenige Monate später eine niederschmetternde Diagnose eröffnet. Der Krebs im fortgeschrittenen Stadium erforderte eine radikale Therapie. An eine Erholung von der vorangegangenen Familien-krise war nicht mehr zu denken.

    Nach Monaten der Therapie und damit einhergehender Arbeitsunfähigkeit war nun die Sorge groß, dass der Arbeitsplatz in Gefahr sein könnte. Diese Befürchtungen konnten schon im ersten Beratungsgespräch schnell zerstreut werden. Die Frau war zwar bereits in psychotherapeutischer Behand-lung, aber nach deren Ende war der Bedarf an „leidensgerechter Kommunikation“ nicht gedeckt.

    Neben der Unterstützung in einer Selbst-hilfegruppe profitierte die Beschäftigte im Gespräch mit dem LoS!-Multiplikator von dessen Kenntnis der Firmeninterna. Es wurde als hilfreich empfunden, einen neu-tralen Ansprechpartner im Betrieb zu finden. Die Kollegin hatte großen Gesprächsbedarf, scheute sich aber davor, ihre Angehörigen, die ja ohnehin schon „mitgelitten“ hatten, weiter zu belasten.

    Einige Gespräche, einfaches Zuhören, Empathie und das ehrliche Interesse, sich in die Situation der Kollegin hineinzudenken wurden hier schon als große Unterstützung erlebt. Da die Kollegin bereits bestens im professionellen Hilfssystem aufgehoben war, reichten einige Gespräche zur Stabilisierung aus. Heute, nachdem etliche Monate ver-gangen sind, geht die Kollegin ihrer Arbeit an ihrem alten Arbeitsplatz in gewohnter Weise nach.

    Fall 2

    Diskretion ist oberste Pflicht!

    Ein anderer Fall drehte sich um einen Mit-arbeiter und Vater von zwei Kindern, der nach der Trennung von seiner Ehefrau be-fürchtete, dass ihn die anstehenden Unter-haltsforderungen finanziell ruinieren könn-ten. Seine Vorgesetzte kontaktierte den LoS!-Multiplikator und fragte, ob er sich um diesen Mitarbeiter, dessen Arbeitsleis-tung sie sehr schätze, „kümmern“ könnte.

    Aufgabe der Vorgesetzten ist es, dem be-treffenden Mitarbeiter die Kontaktdaten zum Multiplikator zu geben und ihm die Kontakt-aufnahme vorzuschlagen. Es ist aber wichtig, dass ratsuchende Kollegen den ersten Schritt machen und den Kontakt von sich aus herstellen. Alles andere käme einem Übergriff von außen in ein fremdes Leben gleich, der sich schlichtweg verbietet.

    Der Mann meldete sich kurz darauf und fragte den Multiplikator, ob er vertraulich reden könne. Diese Frage wird fast immer am Anfang des Gespräches gestellt. Kann sich der Ratsuchende auf Vertraulichkeit verlassen, unterliegen die LoS!-Multiplika-toren der Schweigepflicht? Die Antwort ist ein klares „Ja“.

    In der Ausbildung der Multiplikatoren ist Diskretion ein sehr wichtiger Punkt, niemals wird von einem Multiplikator erwartet, dass über Kontakte oder Inhalte berichtet wird. Darauf müssen sich die Mitarbeiter hundert-prozentig verlassen können. Der Kollege (ein türkischer Landsmann) schilderte seine Situation. Es wurde schnell klar, dass sich seine Befürchtungen darauf bezogen, dass er aus Unkenntnis und wegen sprachlicher Defizite übervorteilt würde. Keineswegs wollte er sich aber seiner Verantwortung entziehen.

    Hier bestand der hilfreiche Hinweis ein-fach darin, dass es auch türkischsprachige Rechtsanwälte gibt, was der Betroffene nicht wusste. Entsprechende Anwälte für Familienrecht, die die türkische Sprache beherrschen und deren Kanzlei zudem in erreichbarer Nähe zum Wohnort des Mitarbeiters liegen, wurden anschließend vom LoS!-Multiplikator recherchiert. Damit war die Erstversorgung geleistet und der Mitarbeiter in eine Richtung gelotst, die ihm weiterhalf und Orientierung gab.

    FAll 3

    Prüfungsstress

    Vor nicht allzu langer Zeit kam ein Multi-plikator mit einem sehr jungen Mitarbeiter (Azubi) ins Gespräch. Es war ein simples und eher belangloses Tischgespräch. Er hatte vom LoS!-Projekt gehört und wollte Beratung. Der junge Kollege fing an, seine Sorge bezüglich der anstehenden Prüfung zu äußern. Da zu diesem Zeitpunkt ein Gespräch in einem geschützten Raum nicht möglich war, wurde kurzfristig ein Gesprächstermin verabredet. Der Kollege war sehr besorgt, seine Prüfung nicht zu bestehen. Er schlafe schon seit längerer Zeit nicht gut, manchmal die ganze Nacht nicht und besonders vor Berufsschultagen. Gefragt nach seinen schulischen Leistungen, antwortete er, dass diese durchaus gut seien. Der Lernstoff sei kein Problem, aber es mangele an Konzentrationsfähigkeit in der Schule. Dies hinge mit früheren Erlebnissen in der Schule zusammen, über die er nie mit jemandem habe reden können. Schon in der Realschule sei er gemobbt wor-den, oft habe es sogar tätliche Auseinander-setzungen mit Mitschülern gegeben.

    Der Multiplikator riet zu einem offenen Gespräch mit den Eltern des minderjährigen Auszubildenden und einem Besuch beim Hausarzt. Auch die Kontaktaufnahme mit einem Psychologen wurde empfohlen. Der Kollege erschrak: „Wieso Psychologe? Ich bin doch nicht verrückt.“ Im weiteren Ge-spräch konnte geklärt werden, dass man für einen Besuch bei einem Psychologen nicht verrückt sein muss, sondern es eher schlau ist, sich professionelle Hilfe zu su-chen, wenn man ein Problem nicht selbst lösen kann. Verabredet wurde, dass er sich nach den Gesprächen wieder melden solle.

    Zwei Wochen später kam er wieder zur Beratung. Er hatte mit seiner Mutter gespro-chen und mit dem Hausarzt. Nun wurde ein Termin bei einem Psychologen vereinbart und auch dieser Kollege fand den Weg in professionelle Hilfe.

    Weitere Infos

    Autor

    Peter Hildebrandt

    Gesundheitsreferent

    REWE Markt GmbH

    Niederlassung Südwest

    Gesundheitsmanagement

    Im unteren Wald – 69168 Wiesloch

    peter.hildebrandt@rewe-group.com

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