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Inkongruenzen an der Schnittstelle Mutterschutzarbeitsplatzverordnung / Gefahrstoffverordnung

Werdende Mütter genießen am Arbeits-platz einen besonderen Schutz. In Deutschland werden die entsprechenden Maßnahmen primär im Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz, MuSchG) und der Verordnung zum Schutze der Mütter am Arbeitsplatz (MuSchArbV, nichtamtliche Kurzform: Mutterschutzarbeitsplatzverordnung) geregelt. Hin-sichtlich der Tätigkeiten mit Gefahrstoffen am Arbeitsplatz finden sich wichtige Vorschriften aber auch in der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) und den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS, s. „Weitere Infos“). GefStoffV und TRGS konkretisieren das Chemikaliengesetz (ChemG) und das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Einen schematischen Überblick gibt  Abb. 1.

Ausarbeitung und Fortschreibung von MuSchG und MuSchArbV wurden feder-führend vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) übernommen, ArbSchG, GefStoffV sowie TRGS liegen im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Die Aufgabenteilung hat jedoch dazu geführt, dass sich die beiden rechtssystematischen Stränge im Lauf der Zeit auseinanderentwickelt haben und die Vorschriften zum Mutterschutz bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen einerseits und die allgemeinen Regelungen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen andererseits uneinheitlich und damit für die Rechtsunterworfenen teilweise unklar geregelt sind.

Verbot der Beschäftigung werdender Mütter mit krebserzeugenden, fruchtschädigenden oder erbgut-verändernden Gefahrstoffen

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 MuSchArbV dürfen werdende Mütter nicht mit krebserzeugenden, fruchtschädigenden oder erbgutverändernden Gefahrstoffen beschäftigt werden. Das Verbot gilt nicht, wenn sie bei bestimmungsgemäßem Umgang den Gefahrstof-fen nicht ausgesetzt sind. Somit greift das Verbot, wenn man die Definition von „ausgesetzt sein“ nach dem „Begriffsglossar zu den Regelwerken der Betriebsicherheitsverordnung, der Biostoffverordnung und der Gefahrstoffverordnung“ (BAuA, s. „Weitere Infos“) heranzieht, bei einer über die ubiquitäre Luftverunreinigung (Hintergrundbelastung) hinausgehenden Exposition (vgl. auch LASI-Veröffentlichung 11 zu Benzol, 1997).

Demgegenüber werden in der TRGS 900 „Arbeitsplatzgrenzwerte“ einzelnen Stoffen die Schwangerschaftsgruppen „Y“ oder „Z“ zugeordnet:

  • „Y“ bedeutet, dass ein Risiko der Frucht-schädigung bei Einhaltung des Arbeits-platzgrenzwertes (AGW) und des bio-logischen Grenzwertes (BGW) nicht be-fürchtet zu werden braucht.
  • „Z“ bedeutet, dass ein Risiko der Frucht-schädigung auch bei Einhaltung des AGW und des BGW nicht ausgeschlossen werden kann.

Viele Einträge in der TRGS-900-Liste sind mit der Fußnote „Y“ versehen. Aus toxiko-logischer Sicht könnten also werdende Müt-ter durchaus mit solchen Gefahrstoffen um-gehen, sofern der AGW eingehalten werden kann und der BGW ebenfalls nicht überschritten wird oder die Gefährdungsbeurteilung eine relevante dermale Aufnahme ausschließt. Beispiele sind die Grundchemi-kalie Propylenoxid (krebserzeugend Kategorie 2, erbgutverändernd Kategorie 2 nach Klassifikationssystem der Richtlinie 67/548/EWG), der Weichmacher Bis(2-ethylhexyl)-phthalat oder auch die bei der Herstellung von Spezialgläsern, Porzellan und Emaille eingesetzte Borsäure (beide Stoffe fruchtbarkeitsgefährdend und fruchtschädigend Kategorie 2).

Die Zuordnung zur Schwangerschaftsgruppe „Y“ erfolgt im Ausschuss für Gefahr-stoffe (AGS) nach einer sorgfältigen Auswertung der wissenschaftlichen Literatur und im gesellschaftlichen Konsens. Im Rahmen der Überarbeitung der MuSchArbV sollten diese Erkenntnisse berücksichtigt werden und eine Klarstellung erfolgen, unter welchen Expositionsrandbedingungen das Beschäftigungsverbot gilt.

Ein striktes Beschäftigungsverbot hätte beispielsweise zur Folge, dass überall dort, wo Formaldehyd eingesetzt wird, Produkte Formaldehyd ausgasen können oder durch unvollständige Verbrennung oder Erhitzen von organischem Material Formaldehyd freigesetzt wird, werdenden Müttern eine Beschäftigung untersagt werden müsste. Das würde viele Branchen, z. B. die Holzverarbeitung, den Gesundheitssektor oder auch Küchen betreffen.

Sowohl die Gefahrstoffverordnung als auch das konkretisierende technische Regelwerk (TRGS) sehen zu fruchtbarkeits-gefährdenden Gefahrstoffen der Katego-rien 1 und 2 (bzw. 1A und 1B nach „CLP-Ver-ordnung“ [EG] Nr. 1272/2008) dem Stand der Technik entsprechende Anforderungen vor (z. B. GefStoffV § 10 „Besondere Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit krebser-zeugenden, erbgutverändernden und frucht-barkeitsgefährdenden Gefahrstoffen“, TRGS 560 „Luftrückführung bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden, erbgutverändernden und fruchtbarkeitsgefährdenden Stäuben“). Für die Praxis ist es nicht verständlich, warum diese sinnvollen Detailvorgaben nicht auch für fruchtschädigende (entwicklungsschädi-gende) Gefahrstoffe, also insgesamt für die fortpflanzungsgefährdenden Gefahrstoffe gelten. Durch die Maßnahmen würde bereits für die ersten Wochen bis zur Bekanntgabe der Schwangerschaft und dem Wirksamwerden der Beschäftigungsbeschränkungen nach MuSchArbV ein höheres Sicherheitsniveau gelten als nach heutigem Stand.

Unklar bleibt ebenfalls, was genau nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 MuSchArbV unter „krebserzeugenden“, „fruchtschädigenden“ oder „erbgutverändernden“ Stoffen verstanden werden soll. Neben den „offiziellen“ Einstufungen im europäischen und nationalen deutschen Regelwerk finden sich in der Lite-ratur auch Klassifizierungen unabhängiger Fachgremien von hoher wissenschaftlicher Reputation, etwa der International Agency for Research on Cancer (IARC) der Weltgesundheitsorganisation oder der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe („MAK-Kommission“). Müssen deren Bewertungen berücksichtigt werden? Und bezieht sich das Beschäftigungsverbot der MuSchArbV auch auf Stoffe der Verdachtskategorie?

Zielgruppen

Der Geltungsbereich des MuSchG ist in § 1 wie folgt definiert: „Dieses Gesetz gilt 1. für Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, 2. für weibliche in Heimarbeit Beschäftigte und ihnen Gleichgestellte, soweit sie am Stück mitarbeiten“. Die MuSchArbV führt das MuSchG näher aus und hat damit denselben Normadressaten.

Demgegenüber wendet sich die GefStoffV an eine breitere Zielgruppe, nämlich auch an Personen, die nicht in einem Beschäftigtenverhältnis stehen. Nach § 2 Abs. 7 GefStoffV stehen nämlich dem Normadressaten „Beschäftigte“ die in Heimarbeit beschäftigten Personen sowie Schülerinnen und Schüler, Studierende und sonstige, ins-besondere an wissenschaftlichen Einrichtungen tätige Personen, die Tätigkeiten mit Gefahrstoffen ausüben, gleich.

Das MuSchG und die nachgeschaltete MuSchArbV wenden sich damit in ihrem Geltungsbereich nur an Beschäftigte, schließen also im Gegensatz zur GefStoffV Schülerinnen, Studentinnen, Praktikantinnen, Doktorandinnen und ehrenamtlich Tätige aus. Dies führt zu einer Ungleichbehandlung, die den Schutzzielen von MuSchG und ArbSchG widersprechen.

Um beim oben ausgeführten Stoffbeispiel zu bleiben: Mit der 6. ATP zur CLP-Verordnung wird Formaldehyd zum 1. April 2015 als krebserzeugend Kategorie 1B ein-gestuft sein; bisher galt es als ein Krebsver-dachtsstoff. Nach der geltenden Rechtslage dürfen werdende Mütter, die in einem Be-schäftigtenverhältnis stehen, z. B. Technische Angestellte oder Lehrkräfte, nicht in Pathologien oder Anatomien eingesetzt werden, wohl aber schwangere Studentinnen, die im Rahmen ihres Studiums ein Anatomiepraktikum absolvieren müssen.

Lösungsansätze

Die Vorgaben des Arbeitsschutz- und des Mutterschutzgesetzes mit ihren ausführenden Verordnungen (GefStoffV, MuSchArbV) sind nicht immer kongruent; teilweise las-sen die Schnittstellen einen Interpretations-spielraum, der einem einheitlichen und wirk-samen Arbeitsschutz abträglich ist. Nicht zuletzt aufgrund des neuen Einstufungs- und Kennzeichnungssystems der CLP-Verordnung müssen sowohl die GefStoffV als auch die MuSchArbV bis zum 1. Juni 2015 novelliert werden. Im Sinne einer verbesserten Rechtssicherheit für die Verantwortlichen im Arbeitsschutz und einer Harmonisierung des Verwaltungshandelns ist zu wünschen, dass bei dieser Gelegenheit auch die oben beschriebenen Inkonsistenzen bereinigt werden.

Dabei muss einerseits ein maximales Schutzniveau für werdende Mütter und ihre Leibesfrucht gewährleistet bleiben, andererseits das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Eine zeitgemäße Gefährdungsbeurteilung sollte auch quantitative Aspekte einschließen und die Expositionshöhe am Arbeitsplatz vor dem Hintergrund wissenschaftlich abgeleiteter toxikologischer Wirkschwellen bewerten.

Was die deutschen Regelungen von Ge-fahrstoffen am Arbeitsplatz anbetrifft, erscheint die momentane „Aufteilung“ fortpflanzungsgefährdender Stoffe unter den beiden Bundesministerien für Arbeit und Soziales (fruchtbarkeitsgefährdende Arbeitsstoffe) sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend (fruchtschädigende Arbeitsstoffe) nicht zielführend. Es wird daher an-geregt, die Arbeitsschutzvorschriften für alle fortpflanzungsgefährdenden Stoffe auch zum Schutz werdender oder stillender Mütter konsequent in der GefStoffV zusammenzufassen und erforderlichenfalls im technischen Regelwerk zu konkretisieren, während die MuSchArbV bei den Regelungen zu Gefahrstoffen auf die GefStoffV gleitend verweisen würde. Damit erhielte der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) ein klares Mandat, die der GefStoffV nachgeordneten Technischen Regeln auch mit Blick auf fruchtschädigende Arbeitsstoffe regelmäßig an den Stand der Technik und Wissenschaft anzupassen. 

Literatur

Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG) vom 7. August 1996 (BGBl I S. 1246), zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 19. Oktober 2013 (BGBl I S. 3836)

Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutter-schutzgesetz – MuSchG) in der Fassung der Bekannt-machung vom 20. Juni 2002 (BGBl I S. 2318), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 23. Oktober 2012 (BGBl I S. 2246)

Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemi-kaliengesetz – ChemG) in der Fassung der Bekannt-machung vom 28. August 2013 (BGBl I S. 3498, 3991), zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 20. Juni 2014 (BGBl I S. 824)

Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheits-technik (LASI): Schutz schwangerer Frauen vor Benzolexposition in Verkaufsräumen von Tankstellen und an anderen Arbeitsplätzen. LASI-Veröffentlichung LV 11, Juli 1997 (inzwischen zurückgezogen)

Richtlinie 67/548/EWG des Rates vom 27. Juni 1967 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kenn-zeichnung gefährlicher Stoffe. ABl (EU) Nr. 196 vom 16.08.1967, S. 1–98

Technische Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 560: Luft-rückführung bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden, erbgutverändernden und fruchtbarkeitsgefährdenden Stäuben. Ausgabe Januar 2012. GMBl 2012, S. 17–18 [Nr. 2]

Technische Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 900: Arbeits-platzgrenzwerte. Ausgabe Januar 2006. BArBl 1/2006 S. 41–55, zuletzt geändert und ergänzt: GMBl 2014, S. 271–274 vom 2.4.2014 [Nr. 12]

Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Auf-hebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006. ABl (EU) vom 31.12.2008, L353/1-1355

Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen (Gefahr-stoffverordnung – GefStoffV) vom 26. November 2010 (BGBl I S 1643), geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 28. Juli 2011 (BGBl I S. 1622), durch Artikel 2 der Verordnung vom 24. April 2013 (BGBl I S. 944) und Artikel 2 der Verordnung vom 15. Juli 2013 (BGBl I S. 2514)

Verordnung zum Schutze der Mütter am Arbeitsplatz (MuSchArbV) vom 15. April 1997 (BGBl I S. 782), zu-letzt geändert durch Artikel 5 Absatz 8 der Verordnung vom 26. November 2010 (BGBl I S. 1643)

    Weitere Infos

    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Technische Regeln für Gefahrstoffe

    http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/TRGS/TRGS_content.html

    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Begriffsglossar zu den Regel-werken der Betriebsicherheitsverordnung, der Biostoffver-ordnung und der Gefahrstoff-verordnung

    http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/Gefahrstoffe/Glossar/Glossar.html

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