Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

"Unter Strom" – Wenn Arbeit abhängig macht

Relevanz

In Deutschland ist Arbeitssucht zwar seit über 30 Jahren bekannt, empirische Unter-suchungen gibt es jedoch kaum. Der Arbeitspsychologe Stefan Poppelreuter schätzt, dass etwa 200 000 bis 400 000 Menschen in Deutschland akut arbeitssüchtig sind und jeder siebte Deutsche gefährdet sei. Eine weitere Einschätzung geht von 25 % arbeitssüchtigen Managern und Freiberuflern aus (Heide 2002). Betroffen sind Frauen und Männer gleichermaßen, insbesondere dann, wenn sie ihre Arbeit weitgehend selbst bestimmen können und ihr Erfolg und Ansehen vom unermüdlichen Einsatz abhängen. Mitarbeiter mit festen Arbeitszeiten sind seltener gefährdet; es gibt jedoch auch Sachbearbeiter, die sich Akten mit nach Hause nehmen, um sie abends und am Wochenende zu bearbeiten – angeblich können sie nur so ihr Arbeitspensum bewältigen.

Neue Arbeitsformen (Telearbeit), ein neuer Typus von Arbeitnehmern, der so genannte „Arbeitskraftunternehmer“, gekennzeichnet durch selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Arbeiten (Pongratz u. Voss 1998) sowie ein Trend zur ergeb-nisorientierten Projektarbeit sind förderliche Bedingungen für Arbeitssucht.

Abgrenzung

Abzugrenzen von Arbeitssucht ist das Flow-Erleben, das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit. Mihály Csíkszentmihályi, der Glücks-forscher und Erstbeschreiber von Flow-Erleben, bezeichnet Flow als „positive Sucht“. Bei Überanstrengung geht der Schaffens- bzw. Tätigkeitsrausch allerdings verloren, so dass „Flows“ zunächst nicht beunruhigend sind. Es ist aber denkbar, dass sich bei Ausbleiben von „Flows“ durchaus Symptome von Entzugserscheinungen einstellen.

In Japan gibt es das Phänomen des „Ka-roshi“(Tod durch Überarbeitung). Jährlich sterben hunderte Japaner (328 in 2005) durch Herzversagen, Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Suizide, ausgelöst durch „Karoshi“. Ob nun „Karoshi“ als krankhafte Arbeitssucht interpretiert werden kann, muss jedoch hinterfragt werden, da Arbeit in Japan einen gesellschaftlich anderen Stellenwert hat als in Deutschland mit diesbezüglichen Erwartungen an die Arbeitnehmer. Die Auf-opferung für die Firma wird mit einer lebens-langen Festanstellung belohnt.

Eine weitere Abgrenzung muss zu den Zwangsstörungen vorgenommen werden. Zwangshandlungen werden in der Regel von der Person selbst als ich-dyston (ich-fremd) und sinnlos erlebt, während das Ausleben der Sucht einen ich-syntonen Charakter aufweist, also von der Person selbst nicht als störend und bedrückend erlebt wird. So kann Arbeitssucht hier im Sinne einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung interpretiert werden (Poppelreuter 1996).

Ursachen für Arbeitssucht

Arbeitssüchtige arbeiten deshalb so viel, weil sie ihr Selbstwertgefühl und ihre Iden-tität ausschließlich über Arbeit und Leistung beziehen. Dies ist zurückzuführen auf frühkindliche Erfahrungen: Das Kind merkt, dass es Liebe nur gegen Leistung eintauschen kann und „etwas leisten“ somit dem eigenen Überleben dient. Ob sich daraus eine Arbeitssucht entwickelt, hängt allerdings von weiteren Sozialisationserfahrungen ab.

Im Erwachsenenalter verfestigen und differenzieren sich die Ursachen: Einige Arbeitssüchtige verlieren sich besonders in die Arbeit, wenn sie unsicher werden oder (Rollen-)Unsicherheiten erleben. Andere gehen mit ihrer Arbeitssucht Konflikten in der Partnerschaft oder anderen persönlichen Problemen aus dem Weg und vermeiden damit unangenehme Auseinandersetzungen mit sich und ihrer Umwelt. Wieder andere wollen durch vermehrte Arbeit ein Gefühl der inneren Leere überwinden und kompensieren mit Arbeit Unsicherheits-gefühle oder ein mangelndes Selbstwertgefühl. Arbeit bekommt dann den Charakter eines euphorisierenden und betäubenden Suchtmittels, um Unzulänglichkeiten zu überwinden.

Der Verlauf von Arbeitssucht

Arbeitssucht nimmt wie alle Süchte eine schleichende Entwicklung und durchläuft mehrere Phasen:

  • Einleitungsphase:
  • Alle Gedanken kreisen mehr und mehr um die Arbeit. Betroffene versuchen, heimlich zu arbeiten. Familien, Freunde und andere Interessen werden vernachlässigt.
  • Kritische Phase:
  • Die Arbeit nimmt langsam Suchtcharak-ter an. Arbeit wird gehortet und Ausreden für das übermäßige Arbeiten werden gesucht. Die Arbeit dominiert alle ande-ren Lebensbereiche. Der Betroffene rea-giert mit ersten Erschöpfungszuständen.
  • Chronische Phase:
  • Die Sucht nach Arbeit ist chronifiziert. Der Süchtige reißt alle Arbeiten an sich und arbeitet ständig, auch am Abend und am Wochenende. Er verzichtet auf Phasen der Erholung. Schwere Herz-Kreislauf-Störungen, Depressionen und Angstzustände können auftreten.
  • Endphase:
  • Durch die körperlichen Folgeerscheinungen kommt es zu einem irreparablen Verlust der Leistungsfähigkeit. Viele Süchtige scheiden mit Mitte 50 aus dem Berufsleben aus, sind ggf. selbstmordgefährdet oder können frühzeitig durch körperliche Erschöpfung versterben.

Indikatoren für Arbeitssucht

Indikatoren der Sucht sind permanente Mehrarbeit, starkes Kontrollverhalten, Perfektionismusstreben, ausgeprägte Rigidität, gekoppelt mit hohen Leistungserwartungen sich selbst und anderen gegenüber, was zusammengenommen als typisches Typ-A-Verhalten beschrieben werden kann. Arbeitssüchtige lehnen Arbeiten in Gruppen ab und wollen auch keine Arbeit an andere abgeben. Beobachtbar ist in Zusammenhang mit Arbeitssucht auch eine auf den ersten Blick völlig konträre Verhaltensweise: Die Vorstellung, Leistung erbringen zu müssen, treibt „Workaholics“ in eine „Arbeitsapathie“, in der sie keine (produktiven) Ergebnisse mehr erzielen.

Erschöpfungszustände, depressive Verstimmungen und Ängste sind mögliche Anzeichen für eine (latente) Arbeitssucht.

Auswirkungen von Arbeitssucht

Für das Individuum

Die Flucht in die Arbeit hat Folgen: Im zwischenmenschlichen Bereich flachen Bezie-hungen ab oder werden zerstört, am Aufbau neuer Beziehungen und sozialer Kontakte sind Arbeitssüchtige nicht interessiert. Erschöpfungszustände, Magen-, Darm-, Herz-Kreislauf-Beschwerden aufgrund andauender Überbeanspruchung können sich einstellen. Depressionen, Angstzustände, Suizid(versuche), Frühverrentung oder vor-zeitiger Tod kommen bei Arbeitssüchtigen häufig vor. Um die körperliche und seeli-sche Erschöpfung zu kompensieren, greifen Arbeitssüchtige oft zu Alkohol, Tabletten oder Zigaretten, und es kann zur „Suchtverschiebung“ kommen. Ähnlich wie Alkoholiker brauchen auch Arbeitssüchtige eine ständige Dosiserhöhung, um die erwünschte Euphorie zu erzielen. Das bedeutet, sie suchen regelrecht nach allen Arbeiten, die sie erledigen können (müssen), um Entzugserscheinungen wie „innere Leere“, Müdigkeit, Lustlosigkeit, Einsamkeit zu vermeiden. Das Suchtmittel „Arbeit“ wird gehortet, ähnlich wie andere Süchtige sich auch Vorräte anlegen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Burnout zu bekommen, ist groß.

Für den Betrieb

Der anfangs von betrieblicher Seite geförderte oder zumindest selten unterbundene Hang, viel zu arbeiten, wirkt sich in einem späteren Stadium der Arbeitssucht eher destruktiv aus: Fehlentscheidungen aufgrund hohen Zeitdrucks, Nichteinhalten von Terminen und hohe Fehlerquoten aufgrund von Überlastung sowie eine Erhöhung krankheitsbedingter Ausfälle durch zuneh-mende körperliche Beschwerden sowie Leistungseinbußen durch Alkohol oder Tabletten können die Folgen sein.

Wie bei vielen Suchtkranken erfolgt zunächst eine Deckung des süchtigen Verhaltens durch die Kollegen und Vorgesetzten (Co-Workaholics), später dann die Abwendung vom Suchtkranken. Die Zusammenarbeit wird immer schwieriger, und die Kollegen reagieren mit offener oder versteckter Ablehnung auf den vermeintlichen Leistungsträger, das Teamklima ist gestört, Teamarbeit wird unmöglich.

Für die Gesellschaft

Solange Leistung Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung ist, besteht die Gefahr, dass aus Arbeitnehmern Arbeitssüchtige werden. Angst vor Arbeitsplatzverlust kann eine latente Arbeitssucht begünstigen. Wie bei allen anderen Süchten belasten die Folgekosten die Gesundheits- und Rentenkassen (Therapie, Arbeitsunfähigkeit, Frühverrentungen).

Prävention und Interventions-maßnahmen für Arbeitssüchtige

Um den bereits beschriebenen negativen Auswirkungen für Individuum, Betrieb und Gesellschaft vorzubeugen beziehungsweise Schadensbegrenzung zu betreiben, gibt es unterschiedliche Ansätze:

Die individuelle Heilung ist wie bei allen Suchtkranken ein langwieriger Prozess, der mit der Selbsterkenntnis anfängt und in den auch das soziale Umfeld (Familie, Kollegen, Vorgesetzter) einbezogen werden sollten. Dem Betroffenen muss die Dysfunktionalität seines Handelns bewusst (gemacht) werden, damit es zu einer stabilen Änderung seiner (selbst)zerstörerischen Einstellungs- und Handlungsmuster kommt. Die Aufarbeitung verdrängter grundlegender und lebensbestimmender Einstellungen und Überzeugungen geschieht am besten mit professioneller Hilfe (Therapeut) oder in Selbsthilfegruppen.

Dem Betriebsarzt kommt insofern eine wichtige Rolle zu, als er direkt „vor Ort“, also im Zentrum des Suchtgeschehens, Kon-takt mit dem Betroffenen hat bzw. aufbauen kann. Er kann im Suchtverlauf frühe Anzeichen psychovegetativer und körperlicher Störungen feststellen wie z. B. Erschöpfungssymptome, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Beschwerden oder Magenbeschwerden. Kommt der Kontakt zum Arbeitssüchtigen erst später zustande, lassen sich i. d. R. bereits typische Burnout-Symptome wie Frustration, Erschöpfung, Unzufriedenheit, psychosomatische und de-pressive Symptome feststellen. Als Begleitsymptome werden oft auch Alkohol- und Medikamentenmissbrauch diagnostiziert.

Therapiert werden kann Arbeitssucht analog dem Therapieprogramm für Anonyme Alkoholiker, wobei bei Arbeitssucht natürlich nicht die totale Abstinenz im Vordergrund stehen kann. Es gibt Selbsthilfegruppe für Menschen mit Arbeitsproblemen und Arbeitssucht, wie z. B. AAS (Anonyme Arbeitssüchtige).

Entsprechend seiner Aufgabe, den Arbeitgeber in allen Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu unterstützen, kann der Betriebsarzt in Unterweisungen der Beschäftigten auf das Problem „Arbeitssucht“ hinweisen und als Ansprechpartner für betroffene Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Natürlich ist er auch Ansprechpartner für den Vorgesetzten, falls dieser einen Verdacht hegt, dass ein Mitarbeiter gefährdet oder bereits arbeitssüchtig ist.

Im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements ist der Betriebsarzt mit seiner Expertise fachkundiger Berater und Mitgestalter der betrieblichen Suchtpräven-tion, die auch das zwar verbreitete, aber dennoch selten wahrgenommene Phänomen der Arbeitssucht beinhaltet.

Auf der Ebene der Arbeitsorganisation kann die Arbeitssuchtproblematik in das Personalrisikomanagement eingebunden wer-den. Maßnahmen umfassen Informations- und Check-up-Gespräche hinsichtlich der Risikobewertung, die Fehlzeitenanalyse Arbeitssüchtiger sowie die Aufstellung eines Eskalationsplans, der Individuum und Betrieb vor weiteren Schäden bewahren soll. Durch Kompetenzbeschneidungen können dem Mitarbeiter Prokura, Unterschriftsbe-fugnis und Budgets entzogen werden. Die Anzahl der Überstunden ist bei einem Gefährdeten oder Betroffenen zu begrenzen. Urlaubstage sollten nicht ausbezahlt, sondern durch Freizeit abgebaut werden.

Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es Stimmen, die sagen, dass die Änderung von Einstellungs- und Handlungsmustern auf individueller und betriebswirtschaftlicher Ebene nicht ausreichen, sondern neue For-men arbeitspolitischer Regulierung des Gebrauchs von Arbeitskraft vonnöten sind.

Die Therapie von Arbeitssucht ist wie jede andere Suchttherapie schwierig. Hinzu kommt verschärfend, dass Unternehmen in einem kapitalistischen System ja selbst Bestandteil des Suchtsystems sind und von einem an Gewinnmaximierung orientierten Betrieb schlecht verlangt werden kann, eige-nen existenziellen Interessen durch entsprechende personalpolitische Maßnahmen wie Steuerung der Anreizsysteme oder Beförderungskriterien entgegenzuwirken. Ein Unternehmen hat von hohen Leistungen der Mitarbeiter auszugehen und profitiert davon.

Rechtliche Einstufung

In Deutschland ist Arbeitssucht keine Berufskrankheit. Die Diagnose ist (noch) nicht im Klassifikationssystem der Krankenkassen aufgeführt, daher kann dem Kranken auch nicht krankheitsbedingt gekündigt werden. Eventuell kommt eine verhaltens-bedingte Kündigung in Betracht. 

Literatur

Csíkszentmihályi M: Flow im Beruf – Das Geheimnis des Glücks am Arbeitsplatz. Frankfurt: Klett-Cotta, 2012.

Heide H (Hrsg.): Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Bedeutung einer neuen Volkskrankheit. 2. Aufl. Bremen: Atlantik, 2002.

Landau K, Pressel G (Hrsg.): Lexikon der beruflichen Belastungen und Gefährdungen. Stuttgart: Gentner, 2009.

Meissner UE: Die „Droge“ Arbeit: Unternehmen als „Dealer“ und als Risikoträger – personalwirtschaft-liche Risiken der Arbeitssucht. Frankfurt: Peter Lang, 2005.

Pongratz HJ, Voss GG): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1998; 50: 131–158.

Poppelreuter S: Arbeitssucht. Integrative Analyse bisheriger Forschungsansätze und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Symptomatik. Bonn: Witterschlick, 1996.

Poppelreuter S: Arbeitssucht. In: Fengler J (Hrsg.): Handbuch der Suchtbehandlung: Beratung, Therapie, Prävention. Landsberg/Lech: ecomed, 2002.

    Autorin

    Dr. phil. Fritzi Wiessmann

    Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologin

    Friedlebenstraße 8

    60433 Frankfurt

    fw@fritzi-wiessmann.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen

    Tags