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Individuelle und systemische Sichtweisen

Arbeiten bis ins hohe Alter im Agrarbereich?

Der Wert der Arbeit für die menschliche Gesundheit wurde bereits frühzeitig thematisiert. Für Benedikt von Nursia war das „ora et labora“ der beste Weg, um innere Zufriedenheit zu erlangen. Für Siegmund Freud definierte sich Gesundheit wesentlich durch Arbeit („Gesundheit als die Fähigkeit lie-ben und arbeiten zu können“). Für Martin Luther macht ein zufriedenstellender Beruf, der durch Ganzheitlichkeit, Kontinuität und Lebenslänglichkeit charakterisiert ist, den Menschen zur Persönlichkeit (vgl. Weber u. Hörmann 2007). In der Wissenschaft sind inzwischen Theorien Standard, die neben den belastenden Wirkungen der Arbeit auch deren gesundheitsförderliche Potenziale in den Fokus nehmen – auch in Hinblick auf den Übergang in den Ruhestand. Vor diesem Hintergrund ist der Agrarsektor von besonderem Interesse, weil hier die Arbeit bis ins hohe Alter eher die Regel als die Ausnahme ist. Der folgende Beitrag fasst die Erfahrun-gen aus konzeptionellen und wissenschaftlichen Tätigkeiten für die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) zusammen. Leitend sind dabei die eingangs aufgeführten Fragen.

Stand der Forschung

In der Agrarwirtschaft ist der demografische Wandel weit fortgeschritten. Es ist der Wirtschaftszweig mit den wenigsten Arbeitsunfähigkeits(AU)-Fällen, die aber überdurch-schnittliche AU-Dauern aufweisen. Zudem liegt der Schwerpunkt des Unfallgeschehen deutlichen bei den älteren Menschen. Das Krankheitsgeschehen ist von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Binde-gewebes dominiert. Psychische und Verhal-tensstörungen nehmen tendenziell zu, haben aber bei Weitem (noch) nicht die Bedeutung wie in anderen Wirtschaftszweigen (Daten dazu siehe Hetzel 2012). Zu den Arbeitsbedingungen und zur gesundheitlichen Situa-tion gibt es für den deutschen Agrarbereich jedoch kaum belastbare Forschung. Natio-nale Repräsentativerhebungen (IGA-Baro-meter 2008, Erwerbstätigenbefragung 2005/2006) deuten darauf hin, dass die Arbeit im Agrarbereich durch die Gleichzeitigkeit von hohen körperlichen Belastungen, von zum Teil geringen psychischen Belastungen und von hohen gesundheitsförderlichen Poten-zialen charakterisiert ist (Hetzel 2012). Dies stützen internationale Studien nur teilweise. So kommt beispielsweise eine Metaanalyse (Fraser et al. 2005) zu dem Ergebnis, dass, zu-mindest in Subgruppen, der Suizid erhöht ist, es keine Evidenz für neurotische Symp-tome gibt, aber erhöhte psychische Stressoren vorliegen (z. B. Struktur landwirtschaftlicher Familien, ökonomische Schwierigkeiten). Zusammenfassend ist die Datenlage teils dürftig und teils uneinheitlich.

Epidemiologische Befunde „Studie 55plus“

Die SVLFG hat vor diesem Hintergrund eine Basisstudie durchgeführt, um das Profil der versicherten Personen zu ermitteln und bei Bedarf darauf zu reagieren. Die erste Stu-die wurde in Bayern durchgeführt, das durch klein- und familienbetriebliche Strukturen geprägt ist. Sie ist repräsentativ (Hetzel 2012). Die Transferfähigkeit auf andere Regionen wurde in einer weiteren Studie weitgehend bestätigt. Die wesentlichen Ergebnisse in Bezug auf ältere Betriebsinhaberinnen und -inhaber sowie ältere mithelfende Familien-angehörige seien schlaglichtartig zusammengefasst – „Ältere“ ist hier kalendarisch definiert: 55 Jahre bis weit über das gesetz-liche Renteneintrittsalter hinaus. Die Freude an der Arbeit und die Lebenszufriedenheit sind überdurchschnittlich und jeweils eng mit hohen Entscheidungsspielräumen verbunden. Das dürfte auch erklären, dass die Arbeit im Alter größtenteils eigenmotiviert ist. Die subjektive Gesundheit ist durchschnittlich. Es dominieren Beschwerden des Muskel-Skelett-Apparates sowie Befindens-beeinträchtigungen. All diese Gesundheitsindikatoren sind entgegen den Erwartungen kaum von Betriebsgröße und -ausrichtung abhängig. Ursächlich scheint neben der in-dividuellen physiologischen Alterung insbesondere die Qualität der Betriebsübergabe-regelung zu sein. Dies wird dadurch gestützt, dass die Betriebsübergabe auch das Risiko für eine Gratifikationskrise deutlich determiniert – und Gratifikationskrisen erhöhen das Erkrankungsrisiko (Siegrist u. Dragano 2008). Gleichzeitig ist der Anteil derartiger Risikopersonen im Agrarsektor überdurchschnittlich. Nicht zuletzt wird durch die Stu-die das Tätigkeitsspektrum der Älteren fassbar. Zum einen sind sie häufig in betriebswirtschaftlichen Randbereichen im Betrieb sowie im Wald aktiv. Zum anderen ist der Anteil der Personen, die zu Hause ein Familienmitglied pflegen, überdurchschnittlich.

Interventionsstudie zu „Betriebsübergabe – ein Gesundheitsthema“

Die Erkenntnis, dass Gesundheitsindika-toren wesentlich von der Regelung der Betriebsübergabe abzuhängen scheinen und dass die Arbeit im Alter meist eigenmotiviert ist, hat die SVLFG qualitativ in Einzelgesprächen, in einer Fokusgruppe sowie in einer multidisziplinären Arbeitsgruppe konkretisiert. Im Ergebnis ist ein mehrtägiges Seminar „Betriebsübergabe – ein Gesund-heitsthema“ entstanden (siehe Beitrag von Holzer in diesem Heft). Das Konzept ist innovativ, weil es sowohl das Individuum als auch das Setting Betrieb bzw. Familie in den Fokus nimmt. Das Seminar ist von der Zielgruppe in höchstem Maße akzeptiert. Eine kontrollierte Studie zeigt: Das Seminar erreicht neue Zielgruppen für die individuelle Gesundheitsförderung, aktiviert zielgerichtetes Handeln und verbessert die Zuversicht zumindest qualitativ (Hetzel 2014).

Interventionsstudie zur Gesundheits-förderung pflegender Angehöriger

Die Belastungen und die gesundheitliche Situation von pflegenden Angehörigen sind empirisch gut erfasst (z. B. DEGAM 2005; s. „Weitere Infos“). In Deutschland sind die Sozialgesetzgebung einerseits und die Interventionen andererseits weitgehend auf die pflegebedürftige Person zugeschnitten. Dies ist notwendig, aber nicht hinreichend. Pflegende Angehörige stehen kaum im Fokus. Eine Ausnahme bieten die Trainings- und Erholungswochen, die die SVLFG seit vielen Jahren umsetzt und aufgrund der Ergebnisse aus „55plus“ weiter forciert. Die Evaluation zeigt positive Effekte bei konstanten Pflegebelastungen und stützende Effekte bei zunehmenden Pflegebelastun-gen. Zum Evaluationszeitpunkt gab es noch keine systematischen Unterstützungsaktivi-täten im Nachgang zu den Trainings- und Er-holungswochen. Seitdem sind professionell begleitete Nachtreffen, regionale Angehörigengruppen und Aktivitäten bezüglich professioneller Pflegeberatung vorangetrieben worden, um die erzielten Effekte verstetigen zu können.

Partizipation und bürgerschaftliches Engagement

Die beiden zuvor genannten sowie weitere Gesundheitsangebote der SVLFG werden partizipativ (weiter)entwickelt und umgesetzt. Das bedeutet, dass die wesentlichen Interessensgruppen in die Konzeption und Durchführung von Maßnahmen intensiv ein-gebunden werden. Dies gilt als ein zentra-les Qualitätsmerkmal für Maßnahmen der Gesundheitsförderung (Wright 2010).

Die wesentlichen Interessensgruppen sind neben SVLFG-internen und -externen Experten vor allem die Bäuerinnen und die Landwirte selbst einschließlich ihrer Interessensvertretungen (z. B. Landfrauen). Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Interventionen zum einen auf Akzeptanz stoßen und zum anderen auch in der Fläche umsetzbar sind. So sind bei allen Interventionen die Interessensvertretungen maßgeb-lich in Bewerbung und Durchführung eingebunden. Professionell gestützt werden diese Aktivitäten insbesondere durch den Präventionsdienst der SVLFG, z. B. im Rah-men von Betriebsbegehungen, und durch die kundenorientierte Sachbearbeitung in den einzelnen Sozialversicherungszweigen. Das Mengenproblem – eine vergleichsweise große Anzahl zu betreuender Betriebe steht den begrenzten Ressourcen einer Sozialversicherung gegenüber – sowie auch die geringe Institutionalisierung im ländlichen Raum werden durch diese Vorgehensweise zumindest im Ansatz gelöst.

Fazit

Auf Basis der vorgestellten Studien und Erfahrungen lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, zum einen bezüglich der im Agrarsektor arbeitenden Personen und zum anderen bezüglich des Unterstützungssystems der SVLFG:

  • Die Eigenmotivation für Arbeit auch im Alter ist vor allem in Familienbetrieben sehr hoch.
  • Die Arbeit ist zwar belastend, gleichzei-tig aber auch durch hohe Schutzfaktoren gekennzeichnet.
  • Die Gesundheit ist nur in geringem Maße von der Betriebsgröße und -ausrichtung abhängig. In Familienunternehmen ist die Regelung der Betriebsnachfolge gesund-heitsrelevant.
  • Die Förderung psychischer Gesundheit ist von zunehmender Bedeutung.
  • Die Gesundheitsangebote der SVLFG werden partizipativ (weiter)entwickelt. Dies ist ein anerkanntes Qualitätsmerk-mal, das zu innovativen Gesundheitsangeboten führt. Außerdem wird das Vorgehen auch dadurch gestützt, dass die Schnittstellen zwischen den Sozialversicherungszweigen der SVLFG vergleichsweise gering sind.
  • Die kooperative Verbindung zwischen SVLFG und bürgerschaftlichem Engage-ment ist eine beispielgebende Lösung, um im ländlichen Raum und im klein-betrieblichen Setting flächendeckend ge-sundheitsbezogene Interventionen be-werben und durchführen zu können. 

Literatur

Fraser CE, Smith KB, Judd F, Humphreys JS, Fragar LJ, Henderson A: Farming and mental health problems and mental illness. Int J Soc Psych 2005; 51: 340–349.

Hetzel C: Arbeitsbedingungen und Gesundheit von älteren Personen in Familienunternehmen – eine clusteranalytische Betrachtung. Bamberg: University of Bamberg Press, 2012.

Hetzel C, Holzer M: Die innerfamiliäre Betriebs-übergabe als Handlungsfeld der Gesundheits-förderung. Gesundheitswesen 2014. Online-Publi-kation: http://dx.doi.org/10.1055/s-0034-1381989

Siegrist J, Dragano N: Psychosoziale Belastungen und Erkrankungsrisiken im Erwerbsleben. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2008: 51: 305–312.

Weber A, Hörmann G: Psychosoziale Gesundheit im Beruf – vom Humankapital zur Humanität? In: Weber A, Hörmann G (Hrsg.): Psychosoziale Gesundheit im Beruf. Stuttgart: Gentner, 2007, S. 9–15.

Wright TM: Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Hans Huber, 2010.

    Weitere Infos

    Berichte zu den vorgestellten Studien:

    http://www.iqpr.de/iqprweb/seiten/forschung/abgeschl_projekte/abgeschl_projekte.aspx

    Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM): Pflegende Angehörige. DEGAM-Leitlinie Nr. 6:

    http://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/DEGAM-S3-Leitlinien/LL-06_PA_003.pdf

    Autor

    Dr. phil. Christian Hetzel

    Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation GmbH an der Deutschen Sporthochschule Köln (iqpr)

    Eupener Straße 70 – 50933 Köln

    hetzel@iqpr.de

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