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Gesundheitsschutz und Politik I

Dr. Krämer hatte die arbeitsmedizinische Betreuung einer Batteriefertigung übernommen. Sein Kollege, der das vorher über dreißig Jahre gemacht hatte, war in den Ruhestand getreten. Dieser war fest angestellt gewesen, doch jetzt hatte die Firma beschlossen, sich von einem externen Arzt betreuen zu lassen. Es existierten langfristige Pläne, die Batteriefertigung zu veräußern. Da wollte man so schlank wie möglich auftreten, um einen guten Verkaufspreis zu erzielen. Die Inhaber der Firma, die einer sehr vermögenden Industriedynastie angehörten, hatten aber noch ein weiteres, allerdings nie öffentlich verlautbartes Motiv. Die Batteriefertigung hatte einen toxikologischen Makel. Blei war eines der ältesten Industriegifte und man wollte bei immer rigoroseren Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen nicht ins Gerede kommen. Nicht dass es im Betrieb an Arbeitshygiene gemangelt hätte, aber die immer niedriger angesetzten Grenzwerte für Blei im Blut ließen erwarten, dass die Investitionen für den technischen Arbeitsschutz in die Höhe schnellen würden und damit die Produktion von Bleibatterien in Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig sein würde.

Der Technische Aufsichtsbeamte des Unfallversicherungsträgers erschien immer häufiger zu Kontrollbesuchen. Einige Wettbewerber hatten sich um die Arbeitsschutzauflagen wenig geschert. Eine konkurrierende Batteriefirma war gar von der Presse aufgespießt worden, weil man dort „billige Männer“ aus Polen beschäftigte, die ausgetauscht wurden, wenn ihr Blutbleispiegel den Grenzwert deutlich überschritten hatte. Ein anderer Konkurrent war deswegen ins Gerede gekommen, weil sich in seiner Nachbarschaft im Stadtgebiet einige Vergiftungsfälle bei Kindern ereignet hatten. Bleioxidstaub war emittiert worden und hatte den Sand in den Sandkästen der umliegenden Spielplätze kontaminiert. Die Kleinkinder hatten den Sand gefuttert, wie Babies das mitunter so machen.

Dr. Krämer war von seinem Vorgänger im Amt innerhalb mehrerer Tage kollegial eingearbeitet worden. Die Batteriearbeiter wurden einmal im Monat in die Sanitätsstelle einbestellt. Sie wurden regelmäßig nach Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen, Lähmungserscheinungen usw. befragt. Dann mussten sie sich auf die Untersuchungsliege legen und der Arzt tastete den Bauch ab, schaute in die Augen und inspizierte das Zahnfleisch. Blutdruck wurde auch gemessen. Und natürlich wurde auch Blut abgenommen, nicht etwa nur, um den Blutbleisiegel zu bestimmen, sondern für die Blutabstriche, damit die eigens dafür angestellte MTA die Tüpfelzellen zählen konnte. Ein Ritual ohne jegliche Aussagekraft. Der Novize machte sich anfänglich keine Gedanken über dieses seltsame Programm. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich in die Abläufe einzuarbeiten und sich in der Firma bekannt zu machen.

Einen Monat nachdem Dr. Krämer den neuen Job angefangen hatte, quoll das Wartezimmer in der Sanitätsstation über. Es war mal wieder so weit, die Batteriearbeiter erschienen in Massen, obwohl bereits das Fehlen von einigen Arbeitern die Produktion zum Erliegen brachte. Ständig klingelte das Telefon in der Sanitätsstelle. Am anderen Ende der Leitung waren ungeduldige Vorgesetzte, die nach ihren Arbeitern schrien. Die Mitarbeiter hingegen hatten keinerlei Eile. Jede Minute in der Sanitätsstelle bedeutete für sie bezahlte Arbeitszeit.

Dr. Krämer dämmerte es allmählich, dass das alles gesunde Menschen waren, die da vor ihm auf der Untersuchungsliege lagen. Das vom Vorgänger eingeführte Untersuchungsregime war teilweise völliger Unsinn. Bleikoliken können natürlich nicht getastet werden, und Bleisäume am Zahnfleischrand waren eine Rarität. Wenn man da etwas sehen konnte, dann waren es Parodontose und mangelnde Zahnhygiene, aber nicht der gräuliche Bleisaum. Auch die monatliche Blutabnahme war Mumpitz. Sie machte bei rund 200 Venenpunktionen pro Durchgang eine Heidenarbeit und kostete besonders viel Zeit, die von der Arbeitszeit abging, weil die Probanden die Einstichstelle ja lange komprimieren mussten.

Dr. Krämer sah hier erhebliches Rationalisierungspotenzial. Eine Straffung des Untersuchungsprogramms könnte Pluspunkte bringen und seine Stellung im Betrieb festigen. Doch da irrte er sich gewaltig.

Mehr dazu in der nächsten Ausgabe von ASU …

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