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Rezension

W. Schneider, Rostock

Mit dem Buch die Psychofalle hat Jörg Blech eine hochaktuelle und auch gesellschaftlich bedeutsame Thematik aufgegriffen. Im Vorder-grund des Buchs geht es um die zunehmende Pathologisierung menschlichen Erlebens und Verhaltens, bei der primär soziale Probleme durch vielfältige Prozesse, an denen unterschiedliche Akteure beteiligt sind, medikalisiert werden. Ein wichtiger Anlass, dieses Buch zu verfassen, stellt die Veröffentlichung des DSM-V im Frühjahr 2013 dar. Jörg Blech zeigt auf, wie durch die modernen psychiatrischen Diagnosensysteme immer mehr neue psychische Krankheiten geschaffen werden und wie die Schwellen, ab wann von einer psychiatrischen Erkrankung gesprochen wird, mehr und mehr abgesenkt worden sind. An vielfältigen Beispielen aus dem Erwachsenen-bereich (z. B. soziale Phobie, leichte neurologische Störung etc.) sowie aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie (z. B. ADHS, bipolare Störung im Kindesalter) veranschaulicht der Autor diese These. So arbeitet er für eine Reihe aktuell vielfach diskutierter „psychischer Probleme“, wie z. B. dem Burn-out-Syndrom, der sozialen Phobie, aber auch unterschiedlichen, im DSM verankerten Diagnosen aus dem Kinder- und Jugendbereich die psychosozialen und gesellschaftlichen Problemstellungen, die sich aus einer unreflektierten und zu schnellen Pathologisierung ergeben, heraus. Bemerkenswert ist dabei seine kritische Reflexion, inwieweit das aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht als pathologisch angesehene Erleben oder Verhalten nicht durchaus als „normal“ und angemessen bzw. vorteilhaft verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang wird die nor-mative und soziokulturelle Eingebundenheit der Psychiatrie wie der Psychotherapie von ihm ebenso kritisch reflektiert.

Daran sinnvoll ansetzend, arbeitet der Autor heraus, wie sich die Interessen der Pharma-industrie über mit ihnen kooperierende Psychiater, die finanziell über Industriemittel oder Vortragshonorare mit dieser verflochten sind, auch auf die Entwicklung der psychiatrischen Diagnosensysteme niedergeschlagen haben. So wird generell aufgezeigt, wie die Auswei-tung von Krankheitskonzepten sowie die Absenkung von diagnostischen Schwellen zu einer rasanten Zunahme von Psychopharmaka-verschreibungen führt, d. h. den Markt wie den Kundenstamm der Pharmaindustrie erweitert. Vor diesem Hintergrund diskutiert Jörg Blech auch die nachhaltigen Gefahren, die aus den Nebenwirkungen der Medikamente resultie-ren. Darauf aufbauend, wird kritisch diskutiert, welche Folgen die Etikettierung als psychisch krank für die Betroffenen aufweist.

Gut lesbar wird das Buch unter anderem dadurch, dass der Autor seine Ausführungen nicht nur theoretisch und empirisch belegt darstellt, sondern über das „Erzählen von kleinen Geschichten“ die Dynamik der skizzierten Problemstellungen illustriert. Dabei geht er so vor, dass er auf der Grundlage von, von ihm durchgeführten Interviews mit Protagonisten aus dem Feld der psychiatrischen und psychologischen Wissenschaft, aber auch mit Patienten, unterschiedliche Facetten der verschiedenen Problemstellungen personalisiert darstellt. Der kundige Leser wird so eine Reihe ihm bekannter Psychiater und Psychologen mit ihrer Sicht auf die Thematik wiedererkennen. Auch wenn dies erst einmal eine „ungewohnte“ Darstellungsform sein mag, zeigt sie doch einen gewissen Charme. Die Inhalte werden anschaulicher.

Im Weiteren zeichnet sich das Buch durch einen hohen Reflexionsgrad in Bezug auf die psychische Entwicklung und deren Ausfor-mungen aus. Jörg Blech greift evolutionspsychologische Entwicklungsperspektiven auf und diskutiert die Bedeutung von einer großen Varianz im psychologischen Erleben und Verhalten für die phylogenetische Entwicklung. So zeigt er auf, dass Abweichungen in psychosozialen Dimensionen nicht gleich als dysfunktional und krankhaft zu werten sind. Ebenso von Interesse sind seine kriti-schen und durch empirische Befunde be-legten Ausführungen zu ausgewählten einschlägigen Themen, wie z. B. der hormonellen Veränderungen im Alter oder im Gedächtnis-verlust. Auch hier relativiert er die vielfach mit diesen Prozessen in Verbindung gebrachten biologischen und psychosozialen Faktoren und diskutiert die vielfach praktizierte einschlägige Pharma-/Hormongabe skeptisch.

Abschließend finden sich in dem Buch durchaus ermutigende Abschnitte, in denen Fragen der Resilienz gegenüber psychischen Dekompensationen diskutiert und Lösungen angedacht werden, Ängste und Vorurteile gegenüber von der Norm abweichendem Erleben und Verhalten abgebaut oder zumindest relativiert werden. Im letzten Kapitel nimmt Jörg Blech noch einmal stringent Bezug auf die gesellschaftlichen Mechanismen im Um-gang mit den psychosozialen Problemen und verweist darauf, dass die Gesellschaft ihre soziale Verantwortung allzu gern in das medi-zinische Versorgungssystem verschiebt.

Insgesamt ist dieses Buch aus vielerlei Gründen ausgesprochen lesenswert. Es greift eine „brennende“ gesellschaftliche Tendenz zu einer Psychopathologisierung auf, die einerseits ökonomischen Interessen folgt und zum anderen einer gesellschaftlichen Haltung Ausdruck gibt, psychosoziale Probleme und damit verbundene Widerstände gegenüber den gesellschaftlichen Restriktionen, über diese Ausgrenzungsprozesse zu entschärfen. Dieses Buch ist gerade in einer Zeit, in der sich soziale Konstellationen zunehmend ver-schärfen und psychische Probleme und de-ren Nivellierung nur noch unter dem Gesichts-winkel der Pathologisierung/Diagnosenstellung, der Medikamentengabe oder ein anpassungsorientiertes psychotherapeutisches Vorgehen gelöst werden sollen, wichtig. Es ermutigt, kritisch über diese Fragen nachzudenken. Dies als Psychiater, Psychothera-peut oder auch als psychologischer Laie, der hoffentlich nicht ungerechtfertigt zum „Patienten“ wird. Auch für die Arbeitsmedizin, die mehr und mehr mit dem Thema „psychi-sche Gesundheit und Arbeit“ befasst ist, fin-den sich bemerkenswerte und zur kritischen Reflexion anregende Gedanken und Bewertungen. So lohnt es sich sowohl für Fachleute als auch für interessierte Nichtexperten, die-ses Buch zu lesen, und zwar sowohl inhaltlich als auch aufgrund seiner interessanten und eingängigen Darstellung von wissenschaft-lichen wie auch episodischen und engagiert wertenden Perspektiven.

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