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Modell für Betriebsärzte im Spannungsfeld psychischer Beratung

“Netzwerk Arbeit & Psyche“

Machen Arbeitsverdichtung, digi-tale Informationsflut und Globalisierung uns krank? Steigen also psychische Fehlbelastungen in der Arbeitswelt an oder sind die all-seits beklagten Phänomene Ausdruck einer veränderten Wahrnehmung? Werden Burn-out und andere psychischen Erkrankungen unverhältnismäßig und skandalheischend in den Medien beschworen und so die Phäno-mene erst generiert, für deren Lösung dann lautstark geworben wird? Stecken politische Interessen dahinter oder eher Anbieterkalkül, wenn psychische Überlastungen in einer Weise unterstellt werden, dass man eigentlich kaum noch einen psychisch Gesunden in Deutschland erwarten würde? Brauchen wir schon bald alle Ritalin oder wenigstens Johanniskrautextrakt – am besten präventiv am Werkstor?

Zwischen „ausgebrannt“ und „Weichei“

Hassen die Beschäftigten heutzutage ihre Arbeit mehr als die Arbeiter vor 100 Jahren? Oder sind die nachrückenden Generationen so verhätschelt, dass sie mit Belastungen, die früher als normal eingestuft worden wären, nicht mehr zurecht kommen? Werden nur andere Diagnosen gestellt? Was früher noch „Rücken“ war, wird heute – vielleicht zu Recht – eher als Depression abgerechnet. Bekommt man also mit „Psycho“ eher einen gelben Schein und am Ende gar eine Frühberentung?

Fragen über Fragen – die Antworten hier-auf sind schwierig und heikel. Beruhigend ist da schon die Aussage einer praktizierenden Psychiaterin, dass die Inzidenz an Psychiatrischen Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten trotz aller Krisen nicht gestiegen sei (siehe dazu Interview mit U. Hapke, „Weitere Infos“). Sie selbst sei immer wieder erstaunt, was Menschen an Belastungen und Schicksalsschlägen kompensieren und schließlich verarbeiten können. Man denke doch nur an die Forschungen von Aaron An-tonowsky und die daraus abgeleitete Idee der Salutogenese.

Wirkliche primäre Prävention – Was hält gesund?

Genau dies ist das Handlungsfeld der Arbeitsmedizin als der zuständigen medizinischen Fachdisziplin für Präventionsmedizin. Die Arbeitsmedizin steht schließlich genau an der Schnittstelle zwischen Gesunderhal-tung und Arbeitsprozess. Ziel der Arbeits-medizin ist die primäre Prävention: optimale Arbeitsbedingungen im Betrieb und gesund-heitsgerechtes Verhalten der Beschäftigten. Die Aufgabe der modernen Arbeitsmedizin ist hierbei die Beratung der Unternehmen und der Beschäftigten zu „gesunder Arbeit“. Nach dem Motto: Arbeit darf nicht krank machen, Arbeit soll gesund erhalten, gute Arbeit kann gesund machen!

Nehmen wir den Begriff „Präventions-Setting Betrieb“, wie er im Entwurf des Präventionsgesetzes schon lange steht, doch ernst: Prävention im Betrieb erreicht Gesunde, Menschen, die noch keinen Hausarzt brauchen oder aufsuchen, und deren Ressourcen und Potenziale für ein gesundes Leben unterstützt werden können.

Filterfunktion oder Auffangstation Betriebsarzt

Im beschriebenen Kontext ist es gut, wenn die sog. „Wunschuntersuchungen“ in der Novellierung der Arbeitsmedizinischen Vor-sorgeverordnung (ArbMedVV) betont werden. Die Beschäftigten sollen und können so die Betriebsärzte als leicht erreichbare ärztliche Berater im Betrieb wahrnehmen und schätzen lernen. So ist es auch gut, wenn die Beschäftigten eine Wunschuntersuchung in Anspruch nehmen oder wie bisher eine G 42- oder G 37-Untersuchung, um dann ihre psychischen Probleme beim Betriebsarzt zu thematisieren. Lange bevor sie einen Hausarzt konsultieren oder gar einen Psychotherapeuten aufsuchen würden. Bei all den oben gestellten Fragen zu psychischen Fehlbelastungen ist es doch positiv, dass Betroffene sich eher trauen, ihre Probleme darzulegen und sich Hilfe suchend auch an Betriebsärzte wenden.

Befindlichkeitsstörung oder Krankheit?

Oft hilft ein klärendes Gespräch beim Betriebsarzt. Ärger und Konflikte am Arbeitsplatz werden im vertraulichen Gespräch auf den Punkt gebracht. Manchmal erleichtert schon das alleinige „Auskotzen“, wie ein Beschäftigter jüngst meinte. Die vorgeschlage-nen Maßnahmen nahm er nicht mehr in Anspruch. Der aufgestaute Ärger war offenbar durch das ärztliche Gespräch schon gelöst. Fehlen im häuslichen Umfeld vielleicht auch die Zuhörer oder der Pfarrer, der auch einmal hilft, die Wirklichkeit wieder zurecht zu rücken?

Aber was ist, wenn vielleicht mehr dahinter steckt? Betriebsärzte sind Arbeits-mediziner oder Allgemeinmediziner, Inter-nisten mit der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin, selten Psychiater oder Psycho-therapeuten. Natürlich haben sie auch ihre Psychiatriekurse absolviert, aber meist liegen diese Jahre zurück. Und aktuell steigt der Informationsbedarf zu Psychosomatik und Psychiatrie enorm. Wir werden immer mehr sensibilisiert, nach psychischen Störungen zu forschen – und dann? Dann sitzt der Betriebsarzt vor dem Betroffenen mit geouteter psychischer Störung und weiß viel-leicht nicht mehr weiter, ist eventuell sogar selbst gestresst! Natürlich gibt es vielfältige Fortbildungsangebote, besonders auch des Berufsverbandes VDBW (Verband der deutschen Betriebs- und Werksärzte) zu Psychosomatik-Fortbildungen und anderen Seminaren (siehe „Weitere Infos“). Aber reicht das in solch einer Situation?

Betriebsärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Psychosomatiker – geht das denn?

Ausgehend vom Düsseldorfer Bündnis gegen Depression (siehe „Weitere Infos“) gründete sich im Januar 2010 eine Gruppe, die sich ursprünglich etwas akademisch „Fallkonferenz psychische Störungen im Beruf“ nannte. Organisiert von der Geschäftsführung des Düsseldorfer Bündnisses gegen Depression und moderiert von der Autorin dieses Artikels trifft man sich im alten Direktionsgebäude des LVR-Klinikums Düsseldorf-Grafenberg ( Abb. 1).

Niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten aus dem Bündnis bildeten zusammen mit Düsseldorfer Betriebsärzten die Keimzelle dieses „Netzwerkes Arbeit & Psyche“ (NAP). Nach anfänglicher Skepsis, ob diese medizinischen Fachrichtungen denn harmonieren würden, hat die Realität überzeugt. Über 70 Betriebsärzte aus dem weitläufigen Düsseldorfer Raum sind inzwischen im Netzwerk gelistet. Niedergelassene Arbeitsmediziner, angestellte Betriebs- und Werksärzte, aber auch andere Interessierte haben sich so vernetzt und wer-den durch Rundmails informiert und zu den Treffs eingeladen.

Man trifft sich nun seit etwa vier Jahren einmal im Quartal bei Kaffee und Keksen im Direktionsgebäude. In den Sitzungsraum passen 20 Teilnehmer, mehr dürfen es auch der Kommunikation und des Austausches wegen nicht sein.

Fachvorträge + Kasuistiken + Austausch – das ist die Mischung!

Den Auftakt bildet der Vortrag eines eingeladenen Referenten (Themen siehe Infokasten). Danach werden eigene Fallbeispiele der anwesenden Betriebsärzte gemeinsam mit dem Referenten und dem ebenso teilnehmenden Psychiater sowie Psychothera-peuten diskutiert. Kasuistiken zum Referats-thema, aber auch Problemfälle psychischer Art, die momentan in der betriebsärztlichen Praxis unter den Nägeln brennen.

Zum einen informieren die verschiedenen Referate über Anlaufstellen in der Region. Der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt Düsseldorf stellte sich mit seinen Funktionen und möglichen Verknüpfungen vor. Ebenso das Früherkennungszentrum Düsseldorf (FEZ). Das Zentrum hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu helfen, bei denen ein erhöhtes Risiko für eine psychotische Störung besteht. Dorthin können also Be-triebsärzte Beschäftigte verweisen, bei denen sie Verdacht auf eine entsprechende Störung geschöpft haben.

Frühe Hilfen tun Not!

Auch die Psychosomatische Institutsambu-lanz des LVR-Klinikums steht für ein schnel-les Erstgespräch zur Verfügung. Daneben gibt es nun einige Vernetzungen zu den nie-dergelassenen Psychiatern und Psychothera-peuten, die auch schnelle Hilfe für ein diagnostisches Erstgespräch und gegebenenfalls bei Einschleusung des Betroffenen ins Versorgungssystem anbieten.

Einige Unternehmen der Region haben zu diesem Zweck auch Versorgungsverträge mit ihren Betriebskrankenkassen abgeschlos-sen. Diese Modelle werden im Netzwerk vor-gestellt. Daneben werden innerbetriebliche Projekte zur Prävention psychischer Fehlbelastungen diskutiert sowie die Möglichkeiten der Wiedereingliederung psychisch Erkrankter im Unternehmen.

Je später eine geeignete Therapie beginnt und je länger der Arbeitsunfähigkeitsverlauf, desto schlechter ist die Prognose mit Blick auf die berufliche Rehabilitation.

Psychopharmaka und Arbeits-fähigkeit

Unter welcher Psychopharmakatherapie ist ein Beschäftigter einsatzfähig? Im Büro, als Kranführer oder Schwester in der Notaufnahme? Solche Fragen können im direkten Dialog geklärt werden. Wie ist die Wirkweise von Antidepressiva? Tückischerweise setzen die Nebenwirkungen unter Umständen eher ein als die erhoffte antidepressive Wirkung. Die Wirkeffizienz ist geringer als bei anderen Medikamenten und muss individuell eingestellt werden. Die medikamentöse Einstellung kann ein diffiziler Weg mit möglichem Wechsel der Therapie und langsamer Dosisfindung sein. Das muss ein Betriebsarzt wissen.

Häufig hören wir von Beschäftigten unzufriedene Kommentare über ihre Depres-sionstherapie. Sie klagen über rasch einset-zende Nebenwirkungen ohne den ersehnten Erfolg und brechen daher die Behandlung ab. Gelegentlich zweifeln sie auch an der Kompetenz ihres behandelnden Facharztes. Mit Kenntnis der Wirkweise der Psychophar-maka kann der Betriebsarzt den Therapieprozess dem Beschäftigten erklären und ihn beraten, nicht zu früh die Behandlung aufzugeben, sondern erst einmal den Psychia-ter zu konsultieren. Zeigt der Betriebsarzt diese Beratungskompetenz, erhöht sich aller Erfahrung nach seine Inanspruchnahme im Unternehmen. Seine Sprechstunde wird für psychische Fragestellungen mehr genutzt werden. Das läuft über die „stille Post“ im Betrieb. Darauf sollte er vorbereitet sein.

Burnout, Depression und Komorbidität

Die Differenzialdiagnosen und Komorbidi-täten der Depression bieten ein weites und interessantes Spektrum: Herzinfarkt und Depression, Krebserkrankung und Depres-sion, Diabetes mellitus und Depression. Oft fallen depressive Störungen, die parallel zu den Erkrankungen auftreten können, besonders im betrieblichen Kontext auf und müssen bei der Therapie und Rehabilitation berücksichtigt werden.

Burnout wird im Arbeitsleben immer häufiger beklagt. Es ist als Funktionsstörung in der Betriebsärztlichen Beratung ernst zu nehmen und im Kontext differenzialdiagnostisch zu analysieren und zu beraten. Frühe Pathologisierung bei Erschöpfungszuständen ist zu vermeiden. Gelegentlich verbirgt sich aber hinter den Problemen bereits eine manifeste Depression, die therapiert werden muss oder aber auch einmal eine unerkannte Hashimoto-Thyreoiditis. Hier sind betriebsärztliche Empathie und differenzialdiagnostische Erfahrung gefragt ( Abb. 2).

Gegenseitiges Lernen

Mit steigender Netzwerkvertrautheit inten-siviert sich der kollegiale Austausch auch neben den Treffs. Aber nicht nur Betriebsärzte lernen von den Fachkollegen aus den „Psych-Disziplinen“. Auch diese lernen die Arbeitsmediziner als Kooperationspartner kennen und sind bereit, Betriebsärzte ne-ben den Hausärzten viel eher in ihr weiteres Behandlungskonzept einzubeziehen. Für anhaltende Stabilisierung kann neben der hausärztlichen Betreuung die betriebsärztliche Begleitung im beruflichen Wiedereingliederungsprozess ebenso wichtig sein.

Netzwerk im eigenen Umfeld knüpfen – Fangen Sie an!

Das „Netzwerk Arbeit & Psyche“ist so für alle Beteiligten ein voller Erfolg geworden und für die Leser zur Nachahmung empfohlen. Betriebsärzte arbeiten häufig als Einzelkämpfer. Ein kollegialer Austausch tut Not nicht nur mit arbeitsmedizinischen Kollegen, sondern gerade auch zunehmend mit Kollegen der Psychotherapie, Psycho-somatik und Psychiatrie. Man muss einfach mit dem Netzwerken anfangen und sich Gleichgesinnte suchen. Ein Raum, ein „jour fixe“ und ein paar interessierte Kollegen – so kann die Keimzelle für ein Netzwerk aus-sehen, das sich zunehmend ausdehnt, Erfolg hat und allen Beteiligten Spaß macht. Das tut uns Betriebsärzten gut und auch den Beschäftigten in unseren Betrieben. 

    Info

    Themen der Fallkonferenzen des „NAP“ 2010–2014

    • Depression – „unspezifische“ Symptome richtig deuten
    • Was kann der Sozialpsychiatrische Dienst leisten?
    • BGM und Prävention psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz
    • Komorbidität von Depression und Krebserkrankungen
    • Komorbidität von Depression und Herzerkrankungen
    • Burnout: „neues“ Krankheitsbild oder bloß Etikett?
    • Suizidalität erkennen und angemessen handeln
    • „Return to Work“ nach psychischen Krisen
    • Medikation und Leistungsfähigkeit bei psychischen Erkrankungen
    • Komorbidität von chronischem Schmerz und psychischen Störungen
    • Demenz und Depression: Frühsymptome im Arbeitskontext erkennen und richtig deuten
    • Traumatisierungen am Arbeitsplatz: Prävention und frühe Therapie
    • Mitarbeiter mit Multipler Sklerose – Symptome im Blick des Betriebs-arztes
    • Psychopharmaka – Wirkspektrum und Arbeitsfähigkeit
    • Sucht, Substanzmissbrauch im Betrieb

    Weitere Infos

    Autorin

    Dr. med. Ulrike Hein-Rusinek

    Leitende Betriebsärztin im Gesundheitsmanagement der REWE Group

    Domstraße 20 – 50668 Köln

    ulrike.hein-rusinek@rewe-group.com

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