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Ein Plädoyer für die Unfallversicherungspflicht so genannter selbständiger Hilfsarbeiter

Holt die Dreckarbeit zurück

Unfallrisiko bei der Arbeit weiter gesunken“, meldet die DPA jeden Sommer. Und das bei einer seit 2003 kontinuierlichen Zunahme der Zahl der Versicherten auf inzwischen fast 38 Mio. „Vollarbeiter“ – das heißt, dass Teilzeitbeschäftigte nur anteilig gerechnet werden. Die 38 Mio. Vollarbeiter entsprechen fast 50 Millionen beschäftigten Personen. Beamte und Soldaten sind in diesen Zahlen der DGUV nicht enthalten. Wenn man die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland grob überschlägt, kann es eigentlich nicht mehr viele Menschen geben, die außerhalb des Schutzes der gesetzlichen Unfallversicherung stehen. Insofern darf man unschwer schlussfolgern, dass die Prävention immer besser wird.

Gleichwohl sind wir noch nicht am Ziel: Mir berichten Patienten in unserer Ambulanz, dass Unternehmen die Zahl meldepflichtiger Unfälle drücken, indem „positiver Druck“ in Form materieller Belohnung für das Unterschreiten der Meldeschwelle ausgeübt wird. Da sind wir in einem Graubereich. Nun erfassen die UV-Träger nicht nur die meldepflichtigen Unfälle, sondern zusätzlich alle nichtmeldepflichtigen Leistungsfälle – selbst wenn nur 5 Euro für ein Rezept angefallen sind. Die nichtmeldepflichtigen Unfälle laufen seit Jahren ziemlich parallel zu den meldepflichtigen. Aber die UV-Träger können nur bearbeiten, was ihnen gemeldet wird.

Arbeitsplätze in der Produktion werden seit Jahren in Niedriglohnländer verschoben. Dies geschieht, um konkurrenzfähig zu bleiben. Bei jeder Absenkung von Arbeitsplatzgrenzwerten (Blei, allgemeiner Staubgrenzwert) droht ein solcher Schub – manchmal verbal, manchmal real. Es werden vorrangig gerade solche Arbeitsplätze exportiert, an denen gesundheitsgefährden-des Potenzial und Unfallträchtigkeit gegeben sind – gut für die deutsche Unfallstatistik, aber nur dann gut für die Niedriglohnländer, wenn der Arbeitsschutz dort einigermaßen mit europäischen Standards vergleichbar ist. Dass dies oft nicht der Fall ist, weiß jeder Zeitungsleser. Der Tod zahlreicher junger Leute durch das Quarzstrahlen von Jeans in türkischen Hinterhofgaragen ist nur ein Beispiel, es gibt zahlreiche. Natürlich ist es illusorisch zu glauben, dass preiswerte Textilien – die es auch geben muss – in der EU hergestellt werden können. Hier werden wir auch keine Arbeitsplätze nach Deutschland zurückholen. Diesen Ländern und den Menschen dort tut es erst einmal gut, dass dort viele Arbeitsplätze für den Export geschaffen werden. Es geht aber sehr darum, unsere Arbeitsschutzstandards mit der Produktion dorthin zu exportieren.

Schmutzige und unfallträchtige Arbeit wird an Fremdfirmen ausgesourct. Ge-gen dieses Outsourcen spricht erst einmal nichts, zumal solche Firmen oft besser spe-zialisiert sind. Die Betreuung nach DGUV Vorschrift 2 ist Pflicht und wird zudem von den Unfallversicherungsträgern wie von den Ländern seit 2012 penibel kontrolliert. So engmaschig das Kontrollnetz sicher offiziell und wahrscheinlich auch tatsächlich sein mag – häufig sitzen aber auch Patienten in unserer Ambulanz, die durch diese engen Maschen gleichwohl krachend durchgeflogen sind.

Ein gewisser Teil der deutschen Dreckarbeit ist in ein Paralleluniversum abgerutscht. Die gut konzipierte Kampagne „Risiko raus“ der Unfallversicherungsträ-ger haben einige Unternehmen leider so ver-standen, dass sie die risikobehafteten Tätigkeiten raus aus der hiesigen gesetzlichen Unfallversicherung und rein in die deutsche, serbische, polnische, rumänische, ukrainische Krankenversicherung schieben. Hierzu drei Fallgeschichten, Namen geändert:

  • Pjotr D., Anfang 50, ungelernt, sitzt in unserer arbeitsmedizinischen Ambulanz mit der Frage nach einem berufsbedingten Non-Hodgkin-Lymphom. Neben-befundlich fehlt der rechte Daumen. „Ein Arbeitsunfall?“ „Ja, äh, also, nein.“ „Wo-bei ist das denn passiert?“ „Auf Montage.“ Ob nun als Schwarzarbeiter oder Scheinselbständiger, war ohne unangemessenes Insistieren unsererseits nicht recherchierbar und auch nicht das aktuelle Problem – Fakt ist: Pjotr war zur ärztlichen „Erstversorgung“ nach Ende seiner Schicht mit dem Kleinbus in ein südöstliches Nachbarland gefahren. Er hat nicht die Hilfe bekommen, die jeder in unserem Lande Arbeitende bekommen sollte, und er fehlt in der deutschen Unfallstatistik, in die er eigentlich doch hineingehört.
  • Vitali Z., Anfang 30, Schmied, arbeitet intermittierend wochenweise bei Revisio-nen im Kernkraftwerk eines deutschen Energieerzeugers. Am Mittag kommt es zu einer Kopfverletzung, der Rettungswagen wird geholt. Das verwunderte rettungsmedizinische Fachpersonal, der Sohn des Autors dieser Zeilen, wird von Vitali eindringlich darauf hingewiesen, dass hier kein Arbeitsunfall anzukreuzen sei, sondern er vielmehr bereits mit der frisch blutenden, klaffenden Fleischwunde am Morgen zur Arbeit gekommen sei. Ein wichtiger Hinweis, denn darauf wäre der Rettungsassistent in Ausbildung tatsächlich nicht von allein gekommen.
  • Biser R., 36, gelernter Hirte, wurde über eine Schlepperbande als Scheinselbständiger „selbständiger Hilfsarbeiter im Bereich Bau“ mit entsprechendem Gewerbeschein mit Überholungsarbeiten an der Filteranlage in einem Chemie-unternehmen tätig. Infolge eines Leitersturzes erlitt er einen Harnröhrenabriss (Bartsch M, Gezer Ö: Am Ende der Leiter. Der Spiegel 2013; Heft 16: 48–51). Der Fall ist journalistisch etwas über- und auch fehlbelichtet worden, und er wurde von mir nicht überprüft.

Ich habe darum Zweifel, dass die Häufigkeit von Unfällen bei der Arbeit hierzu-lande tatsächlich so stark abnimmt wie es die Statistik vordergründig zeigt. Mein persönlicher Eindruck: Unfallgefährdete Arbeitsplätze verschwinden aus der gesetzlichen Unfallversicherungspflicht! Es ist doch bi-zarr, wenn die professionelle Unfallpräven-tion und arbeitsmedizinische Vorsorge ge-rade an den Arbeitspätzen systematisch um-gangen wird, an denen sie am nötigsten ist. Der Betriebsarzt diskutiert Bildschirmbrille und Raumfeuchte, und für die unversicherten Daumen, Schädel und Harnröhren ist niemand zuständig.

Was waren das noch für gute alte Zeiten der Mitarbeitergesundheit und der ehrlichen Fürsorge, als eine Berufsgenossen-schaft der Feinmechanik und Elektrotechnik die nachgehende Betreuung ehemalig Asbest-exponierter Kraftwerksarbeiter der Bayernwerke veranlasste, als eine BG der Chemischen Industrie ehemals Dioxin-exponierte Chemiearbeiter eines Hamburger Unternehmens nachuntersuchen ließ.

Die heutigen Arbeiter, die in den obigen Fallgeschichten vorkamen, sind schon in ein paar Monaten, spätestens Jahren wieder in alle Winde zerstreut. BK-Ermittlung? Fehlanzeige. Betriebliche Epidemiologie? Fehlanzeige. Präventionsfortschritte? Fehlanzeige. Wer ist hier gefordert?

  • „Die Politik“ muss handeln. In Koali-tionsvertrag steht unter der Überschrift „Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen verhindern“ folgende Absichtserklärung: „Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden. Dafür ist es erforderlich, die Prüftätigkeit der Kon-troll- und Prüfinstanzen bei der Finanz-kontrolle Schwarzarbeit zu konzentrieren, organisatorisch effektiver zu gestalten, zu erleichtern und im ausreichenden Umfang zu personalisieren, die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats si-cherzustellen, zu konkretisieren und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu sanktionieren. Der vermeintliche Werkunternehmer und sein Auftraggeber dürfen auch bei Vorlage einer Verleiherlaubnis nicht besser gestellt sein, als derjenige, der unerlaubt Arbeitnehmerüberlassung betreibt. Der gesetzliche Arbeitsschutz für Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer muss sichergestellt werden.“ Ich kann hieraus nicht mit letzter Sicher-heit ablesen, dass am Ende der Legislaturperiode Leute wie Pjotr D., Vitali Z. und Biser R. unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung stehen werden. Ich hoffe es.
  • „Die Unternehmer“ könnten sich hin und wieder an ethische Standards erinnern, die nicht nur auf dem Papier stehen und im Firmeneingang hängen. Unsere Arbeitsschutzstandards müssen gleichzeitig mit der Produktion exportiert werden.
  • „Die Krankenkassen“ der genannten Länder, denen momentan unsere Produktionsnebenkosten durch Arbeitsunfälle unversicherter Bauhilfsarbeiter aufgedrückt werden, werden sich nicht zusammentun. Die deutschen Krankenversicherungen? Ich sehe da wenig Aktivität.
  • „Die UV-Träger“ sollten sich „ihre“ Versicherungsfälle wiederholen: Sie mögen ihren Einfluss nutzen, die Dreckarbeit in unserem Lande wieder dorthin zurückzuholen, wohin sie gehört, nämlich unter den Mantel der Prävention und der Kompensation durch die Gesetzliche Unfallversicherung.

Selbständige Hilfsarbeiter ohne gesetz-liche Unfallversicherung darf es bei uns nicht mehr geben.

Prof. Dr. med. Dennis Nowak

Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Klinikum der Universität München

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