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Historische Wurzeln der Impfskepsis

I n diesem Jahr wird, teilweise heftig, über den unzureichenden Impfschutz der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der Masern gestritten. Öffentlich wurde gar über eine Masern-Impfpflicht diskutiert. Hintergrund dieser Debatte bilden einerseits das von der Weltgesundheitsorganisation erklärte Ziel der Eliminierung von Masern und andererseits Meldungen über Masernausbrüche in verschiedenen Gegenden Deutschlands. Letztgenannte werden begründet mit einem unzureichenden Impfschutz, der gerade in anthroposophischen Kreisen, geballt bei Schülern und Lehrern an Waldorfschulen, zu finden ist.

Sowohl Befürworter als auch Gegner von Impfungen berufen sich gern auf die Geschichte: So wird gern auf die Pockenimpfung hingewiesen, die als erfolgreiche Präventionsmaßnahme seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit dazu beitrug, dass die Pocken in den 1970er Jahren weltweit als ausgerottet erklärt wurden. Impfungen können also Krankheiten ausrotten, damit die Gesundheit der Bevölkerung verbessern und die Gefährdung des Einzelnen vermindern. Auch Impfgegner ziehen historische Quellen heran, um aufzuzeigen, dass Impfungen großen Schaden bei Einzelnen ausrichten können. In ihrer statistischen Analyse von Geimpften und Erkrankten kommen sie häufiger zu dem Schluss, dass Impfungen dem einzelnen Individuum eher schaden als nutzen (Wolff 1996).

Impfungen sollen die Gesundheit der Bevölkerung schützen und stützen

Im Diskurs um Impfungen vermischen sich die Ebenen des Individuellen und des Gemeinwohls. Impfungen gelten als eine präventive Praktik, etwa wie die Kanalisation von Städten oder das Händewaschen von medizinischem Personal, die nicht nur das Individuum schützt, an dem die präventive Handlung vollzogen wird, sondern auch dessen Umfeld. Geimpft wird, epidemiologisch gesehen, nicht nur, um das Individuum vor einer Erkrankung zu schützen, sondern um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und zu stützen.

Wie klein oder groß das Umfeld einer Impfperson definiert wird, ist wiederum abhängig von der betrachtenden Institution: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das große Ganze im Blick und schaut somit nicht auf Individuen oder Bevölkerungsgruppen, sondern auf Krankheiten. Ihr erklärtes Ziel ist die Elimination der Masern, unabhängig von anderen Faktoren des Gesundheits- oder Krankenstandes im jeweiligen Land. Laut WHO ist für das Erreichen der sog. Herdenimmunität eine Durchimpfungsquote von 95 % notwendig. Dieser Zahl liegt die mathematisch errechenbare Impfschwelle zugrunde, deren Überschreiten zu keiner Ausbreitung einer natürlichen Infektion führt.

In Deutschland ist das Bundesgesundheitsministerium verantwortlich für den Impfschutz der Bevölkerung. Welche Impfungen durchgeführt werden, empfiehlt die Ständige Impfkommission. Einige Bundesländer leisten sich eine landeseigene Impfkommission mit teilweise abweichenden Empfehlungen. Die Kosten für die Impfungen werden seit 2007 von den Krankenkassen übernommen. Durchgeführt werden die Impfungen von niedergelassenen Hausärzten und Kinderärzten, die über die Kassenärztlichen Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag der medizinischen Versorgung erfüllen. In Deutschland wird für den Schutz vor Masern die Verwendung des MMR-Impfstoffs empfohlen.

Geimpft werden einzelne Menschen. Die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission lauten dahingehend, Kinder ab dem 11. Lebensmonat zweimal im Abstand von mindestens 3 Monaten mit dem MMR-Impfstoff zu impfen. Bei Kindern, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden, oder bei Kindern, die Kontakt mit einem akuten Masernfall hatten, kann die erste Impfung bereits im 9. Lebensmonat durchgeführt werden. Aufgrund bestehender Impflücken werden aktuell auch alle nach 1970 Geborenen aufgefordert, sich erneut gegen Masern mit dem MMR-Impfstoff impfen zu lassen.

Der Einzelne muss über den Nutzen, aber auch über die Gefahren des Impfens aufgeklärt werden

Weil im deutschen Grundgesetz die körperliche Unversehrtheit als ein hohes schützenswertes Gut verankert ist, muss der Arzt vor jeder Impfung nicht nur über deren Nutzen, sondern auch über ihren möglichen Schaden aufklären. Für jede Impfung muss das Einverständnis entweder der Person selbst oder der Sorgeberechtigten eingeholt werden. Da wir in einer Informationsgesellschaft leben, steht es dem jeweiligen Individuum frei, sich auch anderweitig zu informieren. Die geforderte Selbstpositionierung zu einer Handlung, die sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft, in der dieses Individuum lebt, von Nutzen und von Schaden sein kann, hat zur Folge, dass die Skepsis gegenüber der Impfung steigt. Dabei muss die Größenordnung der Skeptiker bedacht werden: In einer Studie von 2007 wird die Durchimpfungsrate bei Kindern der deutschen Bevölkerung mit 92,5 % angegeben. Es fehlt also nur eine kleine Gruppe, um die von der WHO festgelegte Herdenimmunität zu erlangen.

Hier liegt die eigentliche Schwierigkeit, die verhindert, eine weltweite Masernelimination bzw. die von der WHO formulierten Ziele zu erreichen. In der Debatte um die Verbesserung des Impfschutzes der deutschen Bevölkerung hat man sich zu lange auf die sog. Impfgegner konzentriert, auf Menschen, die aufgrund ihrer religiösen oder anderweitigen Orientierung Impfungen kategorisch ablehnen. Dazu kommen noch die wenigen, die in ihrer Familie einen der sehr seltenen Fälle von Impfschaden zu beklagen haben. Doch diese beiden Gruppen machen, epidemiologisch gesehen, weniger als 5 % der Gesamtbevölkerung aus. Wenn sie also die Impfung verweigern, kann dennoch die Herdenimmunität erreicht werden.

Zur Verbesserung des Impfschutzes sollten verstärkt die Impfskeptiker in die Diskussion eingebunden werden

Als eigentliche Zielgruppe für Aktivitäten, die den nationalen Impfstatus verbessern helfen, sind daher die Impfskeptiker anzusehen. Diese Menschen überlegen intensiv und informieren sich genau, welche Leistungen aus dem Gesamtkatalog sie für sich selbst bzw. für ihre Kinder und Schutzbefohlenen für notwendig erachten und welche nicht. In diesen stark von Individualismus geprägten Diskursen gehen die Hauptargumente der Impfung, der Schutz der Allgemeinbevölkerung und das Erreichen einer Herdenimmunität, oft unter.

Diese individuelle Denkungsart findet sich auch bei Ärzten wieder, die Impfungen empfehlen und durchführen. Sie sprechen auf einen individualisierten Impfplan an, diskutieren die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission und bieten individuelle Programme an. Damit erfüllen sie eben nicht den Sicherstellungsauftrag der medizinischen Grundversorgung, den sie von der Kassenärztlichen Vereinigung erhalten haben.

Die gerne als historisches Vergleichsobjekt herangezogene Pockenimpfung verzerrt das Bild, war doch die Pockenimpfung, was die unerwünschten Nebenwirkungen angeht, eine wesentlich gefährlichere Impfung als die MMR-Impfung. Für die Pocken bestand auch eine staatliche Impfpflicht, und die Impfung lag in staatlicher Hand. Der Impfstoff wurde in so genannten Impfanstalten produziert, die Impfung von Impfärzten durchgeführt und evaluiert. Weder niedergelassene Ärzte in eigener Praxis noch impfstoffproduzierende Konzerne waren an dieser Impfung beteiligt.

Um unter Zuhilfenahme der historischen Erkenntnis die Durchimpfungsraten für Masern innerhalb der deutschen Bevölkerung zu steigern, scheint eine offene Einlassung mit Impfskeptikern zielführend. Verbote und Ausgrenzungen führen nicht weiter, Gespräche und ehrlich formulierte Zwecke von Impfungen schon eher. Innerhalb der Ärzteschaft muss über die Gratwanderung zwischen Sicherstellungsauftrag und Freiheit der ärztlichen Kunst offen diskutiert werden. Den staatlichen Auftrag der Prävention wieder vermehrt an die Gesundheitsämter und öffentlichen Stellen zurückzugeben, wäre eine vorstellbare Möglichkeit. 

Literatur

Hulverscheidt M, Laukötter A: Die Debatte um die Pockenschutzimpfung in der Zeit von 1920 bis 1960. Kontinuitäten und Brüche in der Impfgegnerschaft und in der gesundheitspolitischen Reaktion. Prävention 2009; 32: 10–13.

Rosian-Schikuta I, Fröschl B, Habl C, Stürzlinger H: Die Masern-Mumps-Röteln-Impfung aus gesundheitspolitischer und ökonomischer Sicht. Köln: HTA-Bericht DIMDI, 2007.

Wolff E: Medizinkritik der Impfgegner im Spannungsfeld zwischen Lebenswelt- und Wissenschaftsorientierung. In: Dinges M (Hrsg.): Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich, ca. 1870 – ca. 1933. Stuttgart: Med GG, Beihefte 9, S. 79–108.

    Autorin

    Dr. med. M. A. Hulverscheidt

    Ärztin und Medizinhistorikerin

    Grüner Waldweg 30

    34121 Kassel

    m.hulverscheidt@web.de

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