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“Es bestehen die bei Epilepsie üblichen Einschränkungen ...“

Es bestehen die bei Epilepsie üblichen Einschränkungen … Dieser Satz ist mir vor vielen Jahren in meiner Arbeit begegnet – er stellte die Kernaussage eines arbeitsamtsärztlichen Positiv-/Negativleistungsbilds über einen unserer Bewerber dar und enthielt keinerlei nähere Erläuterungen oder Konkretisierungen.

Seit mehr als 24 Jahren arbeite ich als Ärztin im Berufsbildungswerk (BBW) Bethel in Bielefeld. Das BBW Bethel ist eine Einrichtung zur beruflichen und gesellschaftlichen Ersteingliederung von jungen Menschen mit einer Behinderung (nach SGB IX § 19). Es ist eines von 52 in der Bundes-Arbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG-BBW) organisierten Berufsbildungswerke und das einzige BBW in Deutschland, das sich ausdrücklich auf die Eingliederung von Menschen mit Anfallserkrankungen spezialisiert hat. Meine Hauptaufgaben dort sind die Beurteilung der beruflichen Eignung unserer Klienten aus medizinischer Sicht und die maßnahmebegleitende Optimierung der Epilepsiebehandlung bei diesen jungen Menschen. ( Abb. 1)

Leider werden auch heutzutage immer noch pauschale und unsinnige „Verbote“ für Menschen mit Epilepsien ausgesprochen, so dass es bei meiner Arbeit oft darum geht, auferlegte Einschränkungen aufzuheben oder zumindest zu relativieren. Aber wie kann das gehen? Und woher kommen die pauschalen „Verbote“ überhaupt?

Berufsgenossenschaftliche Grundsätze

Ein Teil der Aussagen zur beruflichen Eignung stützt sich auf die berufsgenossenschaftlichen Grundsätze. Hierbei muss man sich aber immer wieder vor Augen führen, dass diese Grundsätze lediglich Hinweise für den begutachtenden Arzt darstellen und keine Rechtsnormen darstellen. Die Grundsätze sollen die ärztliche Handlungsfreiheit im Einzelfall nicht einschränken. Für jeden Fall „dauernder gesundheitlicher Bedenken“ gibt es in den Grundsätzen wenige Abschnitte später „die Auflösung“: mit individueller Gefährdungsbeurteilung können die gesundheitlichen Bedenken entfallen.

Bezogen auf Anfallserkrankungen werden am häufigsten die Grundsätze G 25 (Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten), G 37 (Bildschirmarbeitsplätze) und G 41 (Arbeiten mit Absturzgefahr) herangezogen, zusätzlich wird auf fehlende Eignung für Arbeiten an Maschinen mit ungeschützten drehenden, fräsenden oder schneidenden Teilen hingewiesen. Interessant ist dabei, dass die G 37 überhaupt keine Aussagen zu Anfallserkrankungen beinhaltet, sondern sich ausschließlich auf Sehbeeinträchtigungen bezieht. Einen Grundsatz, in dem Bedenken gegen „Arbeiten an Maschinen“ geäußert werden, gibt es überhaupt nicht. Und in den Grundsätzen, in denen Bedenken geäußert werden, lauten diese pauschal: „dauernde gesundheitliche Bedenken: … Anfallsleiden jeglicher Ursache …“.

Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie“ (BGI 585)

Um für die betroffene Menschen mit Epilepsie die beruflichen Möglichkeiten zu verbessern und eine praktischere Handhabe für begutachtende Ärzte zur individuellen Gefährdungsbeurteilung zu haben, wurde durch einen bundesweiten Arbeitskreis die oben genannte Berufsgenossenschaftliche Schrift entwickelt. Die gesamte Schrift und ihre Anwendung hier darzustellen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Daher hier nur die wichtigsten Grundsätze:

Treffen Sie niemals eine pauschale Aussage zur Frage der beruflichen Eignung im Sinne von: „Bei Epilepsie bestehen Bedenken gegen ...“ Die Beurteilung der beruflichen Eignung von Personen mit Epilepsie muss immer individuell vorgenommen werden. Hierbei müssen die folgenden fünf Kriterien berücksichtigt werden:

  •  1. Art der Anfälle – kategorisiert nach den drei Fragen: Ist das Bewusstsein während des Anfalls erhalten oder gestört? Fällt der Betroffene während des Anfalls zu Boden? Treten während des Anfalls unkontrollierte Bewegungen oder Handlungen auf? (Eine Kategorisierung nach medizinischen Diagnosen – beispielsweise komplex fokaler Anfall, Absence etc. – ist hier ungeeignet.)
  •  2. Häufigkeit der Anfälle – eingeteilt in „anfallsfrei“ (gem. den „alten“ FührerscheinLeitlinien vor 2009 – eine Anpassung wird derzeit erarbeitet), „max. zwei Anfälle pro Jahr“, „3–11 Anfälle pro Jahr“, „Anfälle monatlich oder häufiger“.
  •  3. Protektive Mechanismen – dies sind: Anfälle ausschließlich im Schlaf, Anfälle mit sicherem und nutzbarem Vorgefühl, Anfälle ausschließlich in der Zeit kurz nach dem Erwachen, Anfälle ausschließlich bei am Arbeitsplatz vermeidbaren Auslösern.
  •  4. Behandlungsstand und Prognose – hierzu siehe weiter unten ...
  •  5. Abgleich der Punkte 1. bis 4. mit berufs- bzw. arbeitsplatzspezifischen Gefährdungen.

Die BGI 585 enthält für diesen Abgleich Tabellen zu bestimmten Berufen und Berufsgruppen – diese sind keineswegs umfassend oder vollständig, ermöglichen dem Arzt aber durch Vergleich mit ähnlichen Berufen ein „Extrapolieren“. Daneben sind Tabellen zu den wichtigsten Tätigkeiten (Absturzgefahr, Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten) enthalten und Informationen zu Bildschirmarbeit und Schichtarbeit, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden.

Bildschirm- und Schichtarbeit – für Menschen mit Epilepsie möglich?

Bildschirmarbeit: Eine Fotosensibilität liegt nur bei einem sehr geringen Anteil aller Menschen mit Epilepsie vor – v. a. bei generalisiert idiopathischen Epilepsien. Das Vorliegen einer Fotosensibilität, die anfallsauslösenden Frequenzen sowie ein möglicher Schutz mittels depolarisierender Brille lassen sich durch geeignete EEG-Untersuchungen feststellen. Die Lichtblitzfrequenzen, die zur Auslösung von Anfällen führen können, liegen fast immer im Bereich bis zu 40 Hz (Röhrenmonitor = ab 75 Hz aufwärts). Für die heute üblichen Flachbildschirme stellt sich die Frage der Anfallsauslösung durch Flackerlichteffekte sowieso nur in Ausnahmefällen: Bei stark musterempfindlichen Patienten kann eine Anfallsauslösung durch eine kontrastreiche Software oder durch rasches „Scrollen“ von Listen oder Texten entstehen. Eine Lösung kann hierbei das einfache Herunterregulieren des Kontrasts am Bildschirm darstellen. Deutlich riskanter als die Bildschirmarbeit am Computer ist bei fotosensiblen Epilepsiepatienten eine Überwachungstätigkeit an zahlreichen Schwarz-Weiß-Fernsehbildschirmen.

Schichtarbeit: Eine Anfallsauslösung durch Verschiebung des Schlafrhythmus liegt lediglich bei einem kleinen Teil der Epilepsie-Patienten vor – bevorzugt bei generalisiert idiopathischen Epilepsien. Auch bei denjenigen Personen, die auf Verschiebung des Schlafrhythmus mit Anfällen reagieren, ist das Ausmaß der verträglichen Schlafverschiebung individuell sehr unterschiedlich. Versäumter Schlaf lässt sich nicht unbedingt durch längeres Schlafen am folgenden Tag nachholen – zusätzlicher Schlaf (z. B. ein Mittagsschlaf „außer der Reihe“) bedeutet vielmehr eine erneute Schlafverschiebung. Im Einzelfall lässt sich die Eignung für Schichtarbeiten, die eine Schlafverschiebung beinhalten, nur durch Ausprobieren (z. B. im Rahmen eines Praktikums) feststellen.

Behandlungsstand und Prognose

Bei der Entscheidung über die Berufswahl im BBW Bethel verlangen wir nicht unbedingt, dass zu Beginn einer Ausbildung die gesundheitliche Eignung gemäß der BGI 585 bereits vorliegen muss. Vielmehr nehmen wir eine Einschätzung vor zu der Frage: „Lässt sich der Behandlungsstand im Laufe der Maßnahme im BBW so weit verbessern, dass die Epilepsie am Ende der Ausbildung einer Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr im Wege steht?“ ( Abb. 2). Wenn irgend möglich, werden diese „Optimierungen“ des Behandlungsstandes maßnahmebegleitend durchgeführt – also ohne Unterbrechung der Ausbildung durch stationäre Behandlungen und ohne Arbeitsunfähigkeitszeiten während einer medikamentösen Umstellung. Das hat den Vorteil, dass Änderungen der Behandlung den Alltagsbelastungen im Berufsleben oft besser „standhalten“ als so manche unter geringen Alltagsanforderungen durchgeführte stationäre Medikamentenumstellung. Möglich ist uns ein solches Vorgehen, da aufgrund unserer Spezialisierung alle Mitarbeiter in Ausbildung, Berufsschule, Wohnbereich und begleitenden Fachdiensten im Umgang mit Epilepsien geschult sind und die bereichsübergreifende Kommunikation sehr gut funktioniert. Besondere Schutzvorrichtungen aufgrund der Epilepsie gibt es bei uns nicht, Tätigkeitsbeschränkungen nur gelegentlich und vorübergehend in schwierigen Umstellungsphasen.

Oft bedeutet „Optimierung“ aber auch gar keine Änderung der Behandlung, sondern Schulung, Beratung und Anleitung der jungen Menschen im Umgang mit ihrer Erkrankung. Dazu gehören u. a. der Abbau von Ängsten bzw. die Förderung von Selbstvertrauen und Eigenverantwortlichkeit, Beratung und Hilfen zur Sicherstellung einer zuverlässigen Tabletteneinnahme, das Einüben einer sinnvollen Nutzung von Anfallsvorgefühlen, aber auch das Austesten von Möglichkeiten und Grenzen. Letztere sind oft deutlich weniger eng als die Betroffenen zuvor gedacht hatten.

Sie werden mit Recht sagen: Wir haben es im BBW Bethel gut – wir „haben“ unsere Auszubildenden für einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren. Wenn Sie als begutachtender Arzt einen Patienten nur zu einem einmaligen Gespräch sehen oder gar nach Aktenlage begutachten sollen, dann ist eine Mitberücksichtigung eines möglicherweise verbesserungsfähigen Behandlungsstandes natürlich problematisch. Zugunsten des Patienten bitte ich an dieser Stelle: Wenn Sie auch nur den kleinsten Verdacht haben, dass die Behandlung bei Ihrem Klienten nicht optimal ist, dann treffen Sie keine abschließende Aussage zur Berufseignung, sondern verweisen auf eine nochmalige Überprüfung in einer Epilepsieklinik – oder Sie schicken den Betroffenen gleich in unser Berufsbildungswerk. 

    Weitere Infos

    BG Information 585: Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Epilepsie

    http://publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/bgi585.pdf

    Autorin

    Heike Elsner

    Ärztin im Berufsbildungswerk Bethel

    An der Rehwiese 63

    33617 Bielefeld

    heike.elsner@bethel.de

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