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Das Projekt “Ernst Wilhelm Baader (1892—1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus“

Das Projekt „Ernst Wilhelm Baader (1892–1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus“

Gegenstand eines zweijährigen medizinhistorischen Projekts (2011–2013) waren die Rolle Ernst Wilhelm Baaders und die Entwicklung des Fachs Arbeitsmedizin in der Zeit des Nationalsozialismus. Auf der Basis umfangreicher archivalischer Quellen wurde ein differenziertes Bild seines Wirkens herausgearbeitet. Baader erweist sich als karrierebewusster und ehrgeiziger Wissenschaftler, der die sich ihm und seinem Fach bietenden Möglichkeiten im „Dritten Reich“ aktiv ergriff. Wie viele andere Mediziner verstand es Baader nach 1945, seine Verstrickung in die Medizin der NS-Zeit komplett zu verdrängen und als vermeintlich unbelasteter Gelehrter einen international ausgerichteten Neuanfang ins Werk zu setzen.

Schlüsselwörter: Medizingeschichte – Ernst Wilhelm Baader – Nationalsozialismus – „Vergangenheitsbewältigung“ – Antisemitismus – Menschenversuche – KZ Breendonk

The historical project „Ernst Wilhelm Baader (1892–1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus“

A historical project (2011–2013) concerning E.W. Baader´s role during National Socialism and the development of occupational medicine uncovered a great variety of archival sources. Baader emerged as an ambitious scientist, anxious to promote his career within the new frame set by Nazi state and ideology. Like many of his medical collegues Baader after 1945 succeeded in suppressing his active role during Nazism; according to his self-image as guiltless scientist Baader became crucial for building up the international contacts of German occupational medicine.

Keywords: historical project – Ernst Wilhelm Baader – National Socialism – coping with the past – anti-Semitism – experiments on human beings – concentration camp Breendonk

P. Rauh

K.-H. Leven

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2013; 48: 403–409

Einleitung

In den Jahren 2011 bis 2013 untersuchten die Autoren (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg) in einem Forschungsprojekt, das durch die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin (DGAUM) initiiert und von dieser sowie von der Ernst Wilhelm Baader-Stiftung finanziell unterstützt wurde, Person und Wirken Ernst Wilhelm Baaders während des Nationalsozialismus.1 Diesem Projekt voraus ging eine mehrjährige intensive Diskussion innerhalb der DGAUM; die Frankfurter Arbeitsmedizinerin Gine Elsner legte 2011 eine Studie vor, die Baaders Rolle auf der Basis größtenteils veröffentlichter Quellen darstellte und bewertete (Elsner 2011). Das Projekt des Erlanger Instituts zielte darauf, umfangreiche und bisher noch nicht ausgewertete archivalische Quellen zu berücksichtigen, um ein möglichst ausgewogenes Bild von Baaders Werdegang im „Dritten Reich“ zu erlangen. Insgesamt wurden die Bestände von 13 Archiven in Deutschland und der Schweiz gesichtet und in die Analyse einbezogen. Die Forschungsergebnisse liegen nunmehr in Form einer Monographie vor und sollen im folgenden in ihren wichtigsten Zügen skizziert werden (Rauh u. Leven 2013, S. 224–226 und S. 227–251).

„Vergangenheitsbewältigung“

Der Umgang der deutschen Ärzte, ihrer Fachgesellschaften und (Standes-)Organisationen mit ihrer NS-Vergangenheit, in Publizistik und allgemeiner Öffentlichkeit gerne als „Vergangenheitsbewältigung“ (miss)verstanden, hat im Abstand von zwei Generationen zum Ende des „Dritten Reiches“ inzwischen selbst eine Geschichte. Wenn heute Handbuchwissen ist, dass die Medizin eine Leitwissenschaft der NS-Zeit war, so ist dies das Resultat eines jahrzehntelangen gewundenen und mit starken Verwerfungen verbundenen Lernprozesses (Jütte et al. 2011). Die Bearbeitung der NS-Vergangenheit der Medizin hat vielfältige Aspekte; standen anfangs die medizinischen Verbrechen im Zentrum des Interesses, so hat sich das Forschungsfeld in den vergangenen Jahrzehnten stark verbreitert und ausdifferenziert (präziser Überblick über den Forschungsstand bei Roelcke 2012). So erschienen Arbeiten zur Entwicklung einzelner medizinischer Fakultäten und wichtiger Forschungseinrichtungen. Seit den späten 1990er Jahren begannen die medizinischen Fachgesellschaften, beginnend mit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (Eduard Seidler, Freiburg), sich mit ihrer NS-Geschichte zu befassen.2 Eine verblüffende Kontinuität von Karrieren und Strukturen nach 1945 lässt sich für nahezu alle medizinischen Fächer erkennen, auch für diejenigen, die inhaltlich eng und spezifisch mit der NS-Ideologie verflochten waren. Die allgemeine Strategie der Selbstentschuldigung, wenn eine solche nach 1945 überhaupt für notwendig befunden wurde, bestand in der Behauptung, die wissenschaftliche Medizin sei während der NS-Zeit durch die Ideologie geknechtet gewesen und mit dem Untergang des NS-Staates wieder „freie“ und „wahre“ Wissenschaft geworden. Viele Hochschullehrer gaben daher, etwa in den sog. „Entnazifizierungsverfahren“ an, während der NS-Zeit in einer Art inneren Widerstands verharrt zu haben.

Methoden und Ziele des Projekts

Die gegenwärtige historische Beschäftigung mit dem Themenfeld NS-Medizin zielt weniger darauf, NS-Medizinverbrecher zu entlarven, sondern darauf, das Selbstverständnis von Interessengruppen, die Wissenschaftspolitik und die Expansion von Fächern, ferner die Handlungsoptionen von Leitfiguren in einem totalitären Kontext differenziert darzustellen. Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM), die seit 1962 besteht, hat mit Ernst Wilhelm Baader (1892–1962) einen Gründungspräsidenten, der seine prägenden Berufsjahre in der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Zeit hatte. Durch die seit 1968 bestehende E.W. BaaderStiftung, die aus dem Vermögen Baaders und seiner Frau zur Förderung arbeitsmedizinischer Projekte errichtet wurde, weiterhin durch die regelmäßige „E.W. Baader-Gedächtnisvorlesung“ anlässlich der Jahrestagung der DGAUM sowie durch den „E.W. Baader-Preis“ besteht eine mehr als symbolische Bindung der Fachgesellschaft an E.W. Baader. Die 1962 von Baader gegründete Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin hat zwar aus chronologischen Gründen im Wortsinne keine NS-Vergangenheit, allerdings ist sie eben durch die Person Baaders mit der NS-Zeit direkt verbunden. Dessen Werdegang und Wirken in der NS-Zeit und nach 1945 sind daher einer eingehenden Untersuchung wert, da der Name „Baader“ für Jahrzehnte das Selbstbild und die Tradition der deutschen Arbeitsmedizin prägte. Im Sinne einer sozialgeschichtlich angelegten Biografie wird die gesellschaftliche Bedingtheit von Baaders Leben und beruflicher Entwicklung erfasst (s. hierzu vor allem Gestrich 1988, Einleitung). Zugrunde liegt dieser Methodik die Vorstellung, dass auch das selbstverantwortliche Individuum durch ein familiäres, soziales und gesellschaftliches Umfeld bestimmt ist. Hinzu kommen individuelle Charaktereigenschaften, die in einem Leben durchgängig wirksam werden. Steht so das Individuum Baader im Zentrum der Betrachtung, so dient seine Person zugleich als eine Art Sonde, um grundlegende Erkenntnisse über soziale, wissenschaftliche und ideologische Prozesse in seinem beruflichen Handlungsfeld sichtbar zu machen (vgl. Gallus 2005). Indem der Blick über 1945 hinaus gerichtet wird, gelingt es am Beispiel Baaders auch, Erkenntnisse über das Selbstbild derartiger Eliten zu gewinnen, ihre „Bearbeitung“ der NS-Vergangenheit und Integration in einen neuen bundesrepublikanischen Kontext, die bis heute fortwirkt.

Handlungsfelder E.W. Baaders in der Zeit des Nationalsozialismus

Das Erlanger Forschungsprojekt konzentrierte sich vornehmlich auf Baaders Wirken im und seine ideologische Nähe zum „Dritten Reich“, seine Zeit als Militärarzt und seine Tätigkeit als Wissenschaftler. Auf allen Feldern ergaben sich markante Befunde, die hier ausschnittweise präsentiert werden. Dass Baader, anders als von ihm selbst nach 1945 konstatiert, während der NS-Zeit keine „antinazistische Haltung“ an den Tag legte, ist offensichtlich, bedarf jedoch einer differenzierten Betrachtung.3 Dies soll zunächst beispielhaft an dem Themenfeld „Antisemitismus“ angerissen werden.

Antisemitismus

Der Antisemitismus, ab 1933 zur Staatsdoktrin erhoben, bedeutete für zahlreiche Ärzte und Ärztinnen jüdischer Herkunft das Ende ihrer Karriere, den Beginn einer sozialen Deklassierung und Misshandlung bis hin zu Emigration und Ermordung. Im Feld der Arbeitsmedizin waren hiervon Ludwig Teleky (1872–1957), Benno Chajes (1880–1938), Georg W. Loewenstein (1890–1998) und Franz Karl Meyer-Brodnitz (1897–1943) betroffen.4 Mit allen hatte Baader vor 1933 zusammengearbeitet; mit Teleky hielt er auch dann noch Kontakt, als dieser, aus Deutschland vertrieben, nach Wien ging. Das Verhältnis Baader-Teleky ist durch einen Briefwechsel und gedruckte Arbeiten recht gut über Jahrzehnte in seiner Komplexität zu erfassen.5 Tatsache ist, dass Baader keinerlei Kommentar zu Telekys Vertreibung 1933 abgab; die reichsweite Entlassung Beamter jüdischer Herkunft war durch „das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 geregelt. Eine öffentliche Äußerung hiergegen hätte erheblichen Mut erfordert und hätte sich womöglich negativ auf die eigene Karriere auswirken können. Wie viele andere Ärzte protestierte Baader nicht, sondern profitierte davon, dass in Berlin zahlreiche Chefarztstellen frei wurden, von denen er sich diejenige in Berlin-Neukölln auswählte. Dort wurde er Nachfolger des Internisten Rudolf Ehrmann (1879–1963), einer internationalen Kapazität. Dass Baader dem vertriebenen Ehrmann fachlich nicht ebenbürtig war, wurde in den kommenden Jahren auch im internen Schriftverkehr von Behörden und Parteidienststellen wiederholt bemerkt. Der erzwungene Exodus jüdischer Ärzte senkte das allgemeine Niveau des wissenschaftlichen Standards – diese Tatsache wurde zwar aktenkundig, doch wurde die Ursache, der staatlich durchgesetzte Rassismus ebenso wenig beim Namen genannt wie die jüdischen Opfer. Aus der Emigration konstatierte Thomas Mann im Mai 1938 scharfsinnig: „Der wissenschaftliche Rückgang Deutschlands, sein rapides Ins-Hintertreffen-Geraten auf allen Gebieten des Geistes ist schon heute ein öffentliches Geheimnis. Er wird sich unheilvoll vollenden und zu umfassender, nie wieder gut zu machender praktischer Auswirkung gelangen“ (Erika Mann 1938, Geleitwort Thomas Manns).

Anders als viele Karrieristen dieser Jahre vermied Baader es jedoch, die Vertreibung jüdischer Kollegen hämisch bzw. affirmierend zu kommentieren. Seine Bande mit Teleky blieben bestehen, da Baader Telekys Position als Herausgeber des „Archivs für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene“ übernahm. Teleky, als „nichtarischer“ Herausgeber einer in Deutschland erscheinenden Zeitschrift nicht mehr tragbar, war, trotz fachlicher Vorbehalte gegenüber Baader, mit dieser Lösung einverstanden, da er Baader, so Teleky in einer brieflichen Mitteilung an Zangger „als Mensch außerordentlich hoch“ schätzte und ihm Baader „daher lieber wäre als ein anderer – wenn es denn schon einer sein muss.“6 Teleky hob auch hervor, dass Baader ihn bei Begegnungen auf internationalen Kongressen weiterhin „sehr nett und ordentlich“ behandelte, während „die offiziellen deutschen Vertreter von meiner Anwesenheit keine Kenntnis nahmen.“7 Baader half, so schrieb Teleky 1934, indem er ihn auf Arbeitsmöglichkeiten im Ausland hinwies.8 Wenn Baader offensichtlich die Vertreibung Telekys in keiner Weise billigte oder begrüßte, so bedeutete sein Mitgefühl für ein Opfer des staatlichen Antisemitismus nicht, dass er der NS-Ideologie auf diesem Feld grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. So veröffentlichte Baader, der am 1. Mai 1933 als einer der sog. „Märzgefallenen“ der NSDAP beigetreten war, im Anschluss an einen arbeitsmedizinischen Kongress in Mailand im November 1933 einen medizinhistorischen Artikel über Bernadino Ramazzini (1633–1714), in dem er antisemitische Stereotypen bediente und Ramazzini als „Rasseforscher“ im NS-ideologischen Sinne darstellte.9 Inwieweit aus diesem demonstrativ angepassten Verhalten auf eine innere Überzeugung rückzuschließen ist, muss offenbleiben. Allerdings steht fest, dass Baader von keiner Seite gezwungen wurde, sich in antisemitischem Sinne zu äußern.

Nach dem Krieg verstand es Baader, die Kontakte mit Teleky, der unterdessen in New York lebte, wieder aufzunehmen; wichtiger noch als die Care-Pakete des Ehepaars Teleky waren die Entlastungsschreiben (zeitgenössisch „Persilscheine“ genannt), die Teleky seinen in Deutschland verbliebenen arbeitsmedizinischen Kollegen ausstellte. Baader und Franz Koelsch (1876–1970), seit 1909 Bayerischer Landesgewerbearzt in München und über Jahrzehnte prägende Kraft der deutschen Arbeitsmedizin, nutzten runde Geburtstage Telekys, um diesen in Fachzeitschriften und durch öffentliche Ehrungen, so eine Straßenbenennung in Hamm, dem Wirkungsort Baaders in den 1950er Jahren, zu würdigen, wobei sie die schmachvolle Behandlung Telekys in der NS-Zeit verharmlosten.10

Sanitätsoffizier, Beratender Internist, KZ Breendonk

Als E.W. Baader kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges die militärärztliche Laufbahn einschlug, war dies keineswegs eine Art Flucht vor dem NS-Regime, wie er selbst und ihm wohl gesonnene Mitarbeiter und Kollegen nach 1945 versicherten.11

Vielmehr befand sich Baader, zu Kriegsbeginn 48 Jahre alt, hinsichtlich seiner Karriere zu diesem Zeitpunkt in einer Sackgasse. Sein in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ungemein schneller beruflicher Aufstieg stagnierte bereits seit einiger Zeit. Dies hing jedoch nicht etwa damit zusammen, dass Baaders politische Zuverlässigkeit kritisch hinterfragt wurde; vielmehr gab es latente Zweifel an seiner wissenschaftlichen Expertise, die seinen weiteren Aufstieg im NS-Wissenschaftsbetrieb verhinderten (Leven u. Rauh 2012, S. 74 f.).Insofern war seine Tätigkeit als Leiter eines Kriegslazaretts im Rang eines Oberstabsarztes eine naheliegende Entscheidung.

Als Militärmediziner legte Baader dieselben Verhaltensmuster an den Tag, die er auch im Zivilbereich erkennen ließ. Er begegnet als ein extrem ehrgeiziger und dienstbeflissener Arzt, der jedoch auch auf dem militärischen Sektor die gegen seine ärztlich-wissenschaftlichen Fähigkeiten gehegten Zweifel nie ganz zerstreuen konnte. Kompensatorisch bemühte er sich, Handlungsfelder, die der NS-Ideologie besonders nahe lagen, geflissentlich zu bearbeiten. So stand für Baader in seiner Funktion als Beratender Internist seit 1942 die Enttarnung von (vermeintlichen) Simulanten im Vordergrund seines ärztlichen Interesses. Dieser selbst gewählte Tätigkeitsschwerpunkt ließ darauf schließen, dass er die individuellen Interessen der Soldaten, die seine Patienten waren, den militärischen Zielvorgaben unterordnete (Rauh u. Leven 2013, S. 148–154).

Befehlsgehorsam legte Baader auch in Belgien an den Tag, wo er als Beratender Internist Einblick in und medizinische Mitverantwortung für die Zustände im KZ Breendonk hatte.12 Aufgrund der dort vorherrschenden katastrophalen Haftbedingungen galt das Lager in der belgischen Bevölkerung schon bald als die „Hölle von Breendonk“. Der verheerende Ruf des KZ Breendonk belastete das Ansehen der Besatzungsmacht, wodurch die angestrebte Besatzungspolitik im Sinne einer möglichst effizienten Auspressung des Gebiets behindert wurde. Daher sah sich die Militärverwaltung zum Einschreiten veranlasst. Baader gehörte zu einer Gruppe von Militärärzten, die auf Befehl des leitenden Sanitätsoffiziers Pläne entwarfen, um die Versorgungssituation der KZ-Häftlinge zu verbessern. Doch spiegelte diese verantwortliche Haltung nur die eine Seite wider; die andere war, dass Baader durch den ständigen Kontakt mit den halbverhungerten und fast zu Tode gefolterten KZ-Insassen, die ab Herbst 1941 in den Militärlazaretten seines Tätigkeitsbereiches behandelt wurden, sowie durch seine im Auftrag des Sanitätsoffiziers durchgeführten Besichtigungen des KZ Breendonk einen detaillierten Einblick in die NS-Rassen- und Vernichtungspolitik bekam. Spätestens an dieser Stelle musste Baader klar geworden sein, welchem Unrechtsregime er diente.

Menschenversuche mit Zwangsarbeitern

Mit Billigung Baaders und unter Verwendung seines Namens veröffentlichte Paul Rössing, in Abwesenheit Baaders während des Zweiten Weltkrieges kommissarischer Leiter des Universitätsinstitutes für Berufskrankheiten, 1944 eine Studie, die auf ernährungswissenschaftlichen Versuchen an sowjetischen Zwangsarbeitern aus einem Berliner Lager basierte (Rössing 1944; vgl. auch Rauh u. Leven 2013, S. 172–181). Das konkrete Forschungsinteresse galt hierbei der Wirksamkeit des Nicotinsäureamids bei infolge von Mangelernährung entstehenden Schleimhauterkrankungen wie z. Beispiel Gingivitis. Die Mediziner des Instituts für Berufskrankheiten machten sich die Wehr- und Rechtlosigkeit sowie die desaströse Ernährungssituation der „Ostarbeiter“ für diese Versuchsreihe zunutze. Sie sahen in den Massen an Zwangsarbeitern potenzielle Versuchspersonen in nahezu unbegrenzter Auswahl.

Hiermit machte sich Baader einer eklatanten medizinethischen Grenzüberschreitung schuldig. Ungeachtet der Tatsache, ob und in welchem Maß bei diesen Versuchen Probanden zu Schaden kamen, was nicht dokumentiert wurde, wiegt der Befund einer Beteiligung Baaders an einem Medizinverbrechen schwer. An der vom Institut für Berufskrankheiten durchgeführten Versuchsreihe wird einmal mehr deutlich, wie faszinierend die Offerte des NS-Staates auf die Wissenschaftler wirkte, unbürokratisch und ohne ethische Rücksichtnahmen Humanexperimente durchzuführen.

Die 1931 vom Reichsinnenministerium erlassenen „Richtlinien“, die derartige Experimente verboten, waren während der NS-Zeit weiterhin in Kraft, auch wenn sie ständig missachtet wurden (Schleiermacher u. Schlagen 2008, S. 255; Rauh u. Leven 2013, S. 181–186). Festzuhalten ist, dass Baader und viele andere deutsche Mediziner in den Kriegsjahren bei ethisch unzulässigen Humanversuchen keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigten, allerdings skrupulös die technischen Standards der Versuche und medizinstatistische Probleme im Auge behielten.

Ausblick und Fazit

Ernst Wilhelm Baader war weder Ideologe noch Visionär, sondern ein ehrgeiziger Pragmatiker, Netzwerker und Entwicklungshelfer der Arbeitsmedizin. Diese Eigenschaften waren es auch, die für seine erstaunliche Nachkriegskarriere sorgten. Baader, am Ende des Zweiten Weltkriegs Mitte 50 und voller Tatendrang, vermochte noch einmal in seinem Fach Fuß zu fassen: Als Leiter eines Krankenhauses in Hamm und Honorarprofessor für Arbeitsmedizin an der Universität Münster stieß er jedoch an seine Grenzen, da seine Selbstwahrnehmung hinsichtlich seiner fachlichen und persönlichen Eigenarten nicht mit der Fremdwahrnehmung übereinstimmte. Baader fand jedoch mit intuitiver Treffsicherheit ein neues Tätigkeitsfeld, das ihn auf den Gipfelpunkt seiner Laufbahn führen sollte. Anknüpfend an seine bereits nach dem Ersten Weltkrieg begonnene Reisetätigkeit wirkte er bis in sein Todesjahr 1962 als höchst erfolgreicher „Außenminister“ seines Fachs. Baader besuchte in arbeitsmedizinischer Mission sämtliche Kontinente und unterließ es nie, seine Universität über dort erlangte Ehrungen in Kenntnis zu setzen (Rauh u. Leven 2013, S. 205–218). Auch fachlich wurde er nun als prägende Gestalt der Arbeitsmedizin in West- und Ostdeutschland anerkannt. Sein ehemaliger Mitarbeiter Ernst Holstein ließ ihn von dem bedeutenden DDR-Maler Bert Heller Mitte der 1950er Jahre porträtieren. Es war daher folgerichtig, dass die arbeitsmedizinische Fachgesellschaft DGAUM 1962 auf Initiative Baaders entstand.

Betrachtet man abschließend Baaders Werdegang im „Dritten Reich“, so waren seine Haltung und Handlungen nicht immer deckungsgleich mit der NS-Ideologie. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass er mit Ludwig Teleky zu einer Zeit Kontakt hielt, als ihm daraus keine Vorteile erwuchsen. Wenn Baader auch kein sozialmedizinischer Vordenker wie z. B. Teleky war, so war er ebenso wenig ein Arbeitsmediziner, der sich im „Dritten Reich“ vorbehaltlos mit dem NS-Leistungsfanatismus identifizierte. Insbesondere der forcierten Ausbeutung der jugendlichen Arbeitskraft stand er durchaus skeptisch gegenüber. Einer Leistungsmedizin, wie sie den Gesundheitsexperten der DAF vorschwebte, stand er sicherlich fern. Doch aus Baaders punktuell divergierenden Standpunkten lässt sich keineswegs eine grundsätzliche Distanz dem NSRegime gegenüber ableiten. Die Funktionseliten aus Wirtschaft, Militär und Wissenschaft, so auch Baader, schlossen sich mehrheitlich erst nach 1933 der NDSAP an. Ihre generelle Zustimmung zu den Zielen des NS-Staats war keineswegs gleichbedeutend mit einer völligen Übereinstimmung in allen ideologischen Einzelfragen.

Im Rückblick ist denn auch weniger die ideologische Nähe des Arbeitsmediziners Baader zu den NS-Zielvorstellungen frappierend, sondern die Verve, mit der er sich von Beginn an öffentlich für den NS-Staat einsetzte. Aus diesem Grund wäre es auch nicht adäquat, Baader lediglich als einen nationalsozialistischen Mitläufer und Opportunisten zu bezeichnen, bei dem sich zudem noch eine innere Distanz zu den NS-Zielvorstellungen ausmachen ließe. Opportunistisch war zwar die Art und Weise, wie er sich dem NS-Regime annäherte. Doch greift diese Kategorisierung für den weiteren Werdegang Baaders zu kurz. Baader wollte im „Dritten Reich“ keineswegs nur mitlaufen, sein Ziel war es vielmehr, eigeninitiativ voranzuschreiten. Insbesondere in den Anfangsjahren war Baader sichtlich begeistert von den Möglichkeiten, die der neue Staat ihm offerierte. Sein Parteieintritt als unmittelbare Reaktion auf die NS-Machtübernahme und die Vehemenz, mit der er für den neuen Staat eintrat, sind ein Lehrstück für die sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollziehende (mentale) Gleichschaltung der deutschen Ärzteschaft. Dass Baader im Nationalsozialismus keine (noch) steilere Karriere machte, lag nicht an seinem fehlenden Willen, sich aus freien Stücken dem Regime anzupreisen, Konzessionen einzugehen und die an ihn gestellten Aufgaben durchzuführen. Baader hatte sich dem NS-Staat wie die meisten zeitgenössischen Wissenschaftler und Ärzte bereitwillig zur Verfügung gestellt. Hierbei behielt er seine eigenen Ziele hinsichtlich Karriere und Expansion des Faches Arbeitsmedizin im Auge. Zu keiner Zeit, so das Zeugnis der Archivalien, widersetzte er sich eindeutig den Anforderungen des NS-Regimes. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, in den späten Kriegsjahren an seinem Universitätsinstitut Menschenversuche mit Zwangsarbeitern durchzuführen. Das recht abrupte Ende seines beruflichen Aufstiegs im „Dritten Reich“ war vielmehr darauf zurückzuführen, dass er mit seiner Persönlichkeit und seinem wissenschaftlichen Werk vom NS-Staat und dessen Repräsentanten nicht sehr geschätzt wurde.

Diese Marginalisierung Baaders erwies sich nach dem Zusammenbruch des NS-Staates als günstig, verstand er es doch, sich nunmehr als „antinazistischen“ Gelehrten zu präsentieren. Gestützt auf entsprechende Aussagen ehemaliger Mitarbeiter und Kollegen führte seine „Entnazifizierung“ zur Einstufung als „völlig entlastet“.

Literatur

Baader EW: Gewerbemedizin – ein neues Pflichtprogramm des Deutschen Arztes. Hefte zur Unfallheilkunde 1930; Beiheft 4: 11–121.

Baader EW: Bernardino Ramazzini (1633–1714). Med Klin 1933; 29: 1633.

Baader EW: Ludwig Teleky 80 Jahre alt. Klin Wschr 1952; 30: 816.

Baader EW: Ludwig Teleky 85 Jahre alt. Arch Gewerbepathol 1957; 15: 539–541.

Elsner G: Schattenseiten einer Arztkarriere. Ernst Wilhelm Baader (1892–1962). Gewerbehygieniker und Gerichtsmediziner. Hamburg: VSA Verlag, 2011.

Elsner G, Steinecke V: „Ja, daran hing sein Herz…“ Der Gewerbehygieniker und engagierte Gewerkschafter Franz Karl Meyer-Brodnitz (1897–1943). Hamburg: VSA Verlag, 2013.

Gallus A: Biographik und Zeitgeschichte. Aus Politik und Zeitgeschichte 2005; 1/2: 40–46.

Gestrich A: Einleitung. Sozialhistorische Biographieforschung. In: Gestrich A, Knoch P, Merkel H (Hrsg.): Biographie sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988: S. 5–28.

Jütte R, Eckart WU, Schmuhl HW, Süss W: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen: Wallstein, 2011, S. 311–323.

Koelsch F: An Dr. Ludwig Teleky zum 80. Geburtstag. Zentralbl Arbeitsmed Arbeitsschutz 1952; 2: 127f.

Leven KH, Rauh P: Ernst Wilhelm Baader (1892–1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2012; 47: 72–75.

Loewenstein G: Lebenserinnerungen. In: Ärztekammer Berlin (Hrsg.): Der Wert des Menschen. Berlin: Edition Hentrich, 1989, S. 36–49.

Mann E: Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich [1938]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997.

Neitzel S, Welzer H: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt/M.: Fischer, 2012.

Rauh P, Leven KH: Ernst Wilhelm Baader (1892–1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialimus (= Medizingeschichte im Kontext, 18). Frankfurt/M., Berlin u. a.: Lang, 2013.

Roelcke V: Medizin im Nationalsozialismus – radikale Manifestation latenter Potentiale moderner Gesellschaften? Historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen. In: Fangerau H, Polanski I (Hrsg.): Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik. Schlüsselthemen. Stuttgart: Steiner, S. 35–50.

Rössing P: Die Beziehungen des Nicotinsäureamids zu Schleimhauterkrankungen im Bereich der Mundhöhle. Klin Wschr 1944; 23: 330–332.

Schleiermacher S, Schagen U: Medizinische Forschung als Pseudowissenschaft. Selbstreinigungsrituale der Medizin nach dem Ärzteprozess. In: Lipphardt V, Rupnow D, Thiel J, Wessely C (Hrsg.): Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nicht-Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008, S. 251–278.

Weder H: Sozialhygiene und pragmatische Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik am Beispiel des Sozial- und Gewerbehygienikers Benno Chajes (1880–1938). Husum: Matthiesen, 2000.

Wulf A: Der Sozialmediziner Ludwig Teleky (1872–1957) und die Entwicklung der Gewerbehygiene zur Arbeitsmedizin. Frankfurt/M.: Mabuse, 2001.

Danksagung: Das Projekt „E.W. Baader und die Medizin im Nationalsozialismus“ wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der DGAUM und der Ernst Wilhelm Baader-Stiftung.

Für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Glückstraße 10

91054 Erlangen

E-Mail: karl-heinz.leven@fau.de

Fußnoten

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Leiter: Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 1 Vorbericht und erste Ergebnisse des Projekts in Leven u. Rauh (2012).

 2 Für die Fächer Augenheilkunde, Chirurgie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Innere Medizin, Psychiatrie, Urologie, Hämatologie und Medizinische Onkologie liegen ebenfalls Forschungsergebnisse vor oder sind Projekte im Gang befindlich.

 3 Die Selbsteinschätzung Baaders findet sich in seiner Entnazifizierungsakte, auf der letzten Seite des „Fragebogens“, im NRW-Landesarchiv (Abteilung Rheinland), Düsseldorf, Signatur NW-1100-BG-34-129, abgebildet bei Leven u. Rauh (2012), S. 74.

 4 Zu Teleky vgl. Wulf (2001), zu Chajes vgl. Weder (2000); zu Meyer-Brodnitz vgl. Elsner u. Steinicke (2013). Loewenstein äußerte sich rückschauend sehr kritisch über Baaders Verhalten nach 1933; vgl. Loewenstein (1989).

 5 Als Quelle dient hier insbesondere ein Briefwechsel zwischen Ludwig Teleky und dem Zürcher Gewerbehygieniker Heinrich Zangger (1874–1957), Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Heinrich Zangger.

 6 Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Zangger, Nr. 70, Brief von Teleky an Zangger, 11.10.1935; hierzu Rauh/Leven, Baader (2013), S. 110–113.

 7 Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Zangger, Nr. 70, Brief von Teleky an Zangger, 13.2.1934.

 8 Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Zangger, Nr. 70, Brief von Teleky an Zangger, 25.7.1934.

 9 Baader, Ramazzini (1933); hierzu Rauh u. Leven (2013), S. 102–105.

 10 Koelsch, Teleky zum 80. Geburtstag (1952); Baader, Teleky 80 Jahre alt (1952); Baader, Teleky 85 Jahre alt (1957), vgl. Rauh u. Leven (2013), S. 114–120.

 11 NRW-Landesarchiv, NW-1100-BG 34–129; Schreiben Ernst Holsteins vom 29.5.1947.

 12 NRW-Landesarchiv (Abteilung Rheinland), Düsseldorf, NW-1100-BG 34–129 (Entnazifizierungsakte Baader); vgl. Rauh u. Leven (2013), S. 154–164.

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