Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Rollenerwartungen – Was wollen die von mir?

Wie einfach war doch vordem meine Rolle als Internistin in der Notaufnahme oder gar als Notärztin bei der Feuerwehr. Man erklärte in knappen verständlichen Worten Verdachtsdiagnose und Therapieoptionen – und bekam häufig die Antwort: „So genau will ich es gar nicht wissen, Frau Doktor!“ Kritischer und raffinierter die Frage: „Würden Sie Ihre Mutter auch so behandeln?“ Nie hat jemand eingewandt: „Wo steht das denn eigentlich? Welche Vorschrift? Welcher Paragraf?“

Es war nun nicht so, dass ich meine Leitlinien und die unserer Fachdisziplinen nicht im Kopf gehabt hätte. Aber darüber wollte kein Patient mit mir diskutieren, und ich bin auch gelegentlich davon abgewichen im klaren Bewusstsein, dass ich als Fachärztin meinen Handlungs- und Entscheidungsspielraum schon kennen würde. „Machen Sie, wie Sie es für richtig halten, ich vertraue Ihnen!“ – wie gut tat doch dieses Vertrauen.

„Wir kommen immer rechtzeitig!“, das gab mir ein altgedienter Dienstgruppenleiter der Feuerwehr mit einem sehr bestimmten Gesichtsausdruck auf den Weg. Nur mit dieser Überzeugung kann der Notarzt arbeiten. Einige Menschen konnten wir „dem Teufel von der Schippe“ ziehen, aber viele mussten wir auch gehen lassen. Fünf Menschlein als Notärztin erfolgreich zu entbinden: Das waren die schönsten Erlebnisse!

Oft dachte ich an das Exlibris vom Kollegen Meder: Auf dem Schutzumschlag des Büchleins versucht der Arzt, den Sensenmann mit der Spritze zu verjagen. Aber wer jagt wen? Die Rollenerwartungen in der kurativen Medizin waren klar und werden gerade in Notfallsituationen wenig hinterfragt. Über meinem Schreibtisch hingen „Der Jungbrunnen“ von Lukas Cranach aus dem Jahre 1546 ( Abb. 1) und ein Druck der Ravensburger Schutzmantelmadonna von 1480 ( Abb. 2). Beides kann man im Original auf der Museumsinsel in Berlin betrachten.

Unter Gender-Aspekten ist das Bild Cranachs interessant: Männer karren ihre alten Weiblein von links an den Brunnenrand. Im Brunnen werden die Weiblein verjüngt und rechts springen sie knackig und verführerisch aus dem Wasser, um dann ohne Umstände mit dort wartenden Herren in den Büschen zu verschwinden. Ja, wenn es mit der Medizin auch so leicht ginge! Viele solcher Erwartungen müssen enttäuscht werden. „Gesundbrunnen“ ist zwar eine U-Bahn-Haltestelle im Berliner Wedding, aber Gesundbrunnen im Cranach‘schen Sinne, wo schlaffe Männer in Waschbrettbauch-Heroen oder faltige Frauen in Page-Three-Girls verwandelt werden, gibt es auch im Wedding nicht.

In der Welt der präventiven Arbeitsmedizin sind die Erwartungen etwas kleiner. Eher fühlen wir uns – um nochmals im Museum vorbeizuschauen – an die spätmittelalterlichen Schutzmantelmadonnen erinnert, unter deren Gewand die Mühseligen und Beladenen Obdach und Erquickung suchen ... . Aber mit der Erquickung ist es nicht so einfach. Es fehlen Marias überirdische Größe und oftmals der „direkte Draht nach oben“, ihre Kompetenz, Wunder zu vollbringen.

Als ironisches Zitat und Denkbild zugleich hängen die beiden Darstellungen nun wieder in meinem betriebsärztlichen Büro. „Befreien Sie sich von Ihrem Schutzmantelmadonnen-Reflex!“, riet mir ein Coach, ärztliche Beratung habe eher etwas von Hebammenkunst. Ich dachte an meine gelungenen Entbindungen. Man hilft den Menschen auf die Welt zu kommen, muss sie von der Mutter lösen – aber dann müssen sie selbst zu atmen beginnen und sich bewegen – wie der Arzt nach dem Examen in seinem Beruf. So ist das!

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!

Diese Impression hatte ich gelegentlich auch früher bei meinen Patienten: Den Status asthmaticus konnte ich durchbrechen, aber mit dem Qualmen aufhören müssen die Patienten schon selbst. Ganz so verhält es sich auf dem präventiven Sektor. Wird präventive Medizin nicht so sehr als „direkte“ Medizin verstanden: Schmerz – Spritze – Wohlgefühl? Oder verlocken auch als lästig empfundene Gesetze und verklausuliert erscheinende Verordnungstexte zu dem Abwehrreflex gegen eine präventive Medizin, die auf längere Frist angelegt ist und keine spektakulären Boulevard-Erfolge verzeichnen kann? Rauchen, Alkohol im Übermaß, gesundheitsabträgliche Arbeitsbedingungen sind gleichsam ein Hammerschlag auf den Daumen, dessen Schmerz man erst in zwei Jahren oder später spürt. Umgekehrt sind die Wirkungen unserer präventiven Arbeitsmedizin oftmals auch erst in zwei Jahren oder noch später spürbar.

Wir müssen daran arbeiten, dass bei „Arbeitsmedizin“ nicht mehr an den Hammerschlag auf den Daumen gedacht wird, müssen auf die Differenzierungs-, Modernisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozesse in der neueren Arbeitsmedizin hinweisen und Betriebsleitungen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein erweitertes Verständnis von „Kausalität“ vermitteln.

Die Antwort eines Betriebsleiters auf die Frage, was er denn für die mittel- bis längerfristige Gesundheitsvorsorge seiner Beschäftigten zu tun gedenke – „Aber dafür haben wir Sie doch!“ – zeigt, wie notwendig es für uns ist, präventiver Arbeitsmedizin eine Didaktik der Prävention an die Seite zu stellen, und zwar sowohl für Geschäftsführungen wie für Beschäftigte, damit sie ihre unternehmerischen Verantwortung einerseits und andererseits ihrer Mitwirkungspflicht bewusst werden.

„Na, mal sehen, was ich mir hier alles eingefangen habe?“, sagte mir eine OP-Schwester, die nach über zwanzigjähriger Tätigkeit erstmals auf einen Betriebsarzt stieß. Wir entnehmen dieser saloppen Bemerkung, dass Mitwirkungspflicht für die Beschäftigten im Gesundheitswesen ein Fremdwort ist und Patienten immer die anderen sind. Es ist, um bei dem Beispiel zu bleiben, vernünftig, sinnvoll und daher notwendig, im Operationssaal tätige Menschen und andere mit Infektionsgefahren Beschäftigte vorsorglich zu untersuchen, zu beraten und auch zu impfen – trotz deutscher Vakzinationsphobie … . Es nützt ihnen und ihren Patienten.

Meine Erfahrungen als Arbeitsmedizinerin stammen nicht nur aus dem Gesundheitswesen, sondern auch aus Seminaren und Diskussionen mit Betriebsräten und Arbeitgebervertretern sowie – besonders eindrücklich – aus Schulungen ärztlicher Praxisinhaber zum Thema Arbeitsschutz in Arztpraxen. (Zu diesem Thema habe ich vor einem Jahr in ASU 6/2012 den Beitrag „Gehen Sie auch zu dem Seminar?“ publiziert.)

Mein ärztlicher Rat zu präventiven arbeitsmedizinischen Untersuchungen wurde gelegentlich beantwortet mit besagter Frage: „Wo steht denn das?“ Nun, so könnte man sagen, nicht im Ministerialblatt, sondern in der Bibel, Markus 12,31: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Ein klarer Auftrag auch an Arbeitgeber und Beschäftigte. Oder etwas profaner – im Grundgesetz, Artikel 2, 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ – auch bei der Arbeit, so möchte man ergänzen.

Viele Probleme lassen sich allein mit „gesundem Menschen- verstand“ lösen

Wem diese Quellenhinweise nicht reichen oder wer sie für überflüssig hält, der kann die Probleme auch durch selbständiges Denken lösen, man nennt es auch „den gesunden Menschenverstand“. Den Betriebsleitungen muss vermittelt werden, dass sich präventive Arbeitsmedizin auch geschäftlich „lohnt“, wenn dies auch nicht der erste Antrieb unserer arbeitsmedizinischen Aktivitäten ist. Return on Invest als Erfolg auch geschäftlicher Art stellt sich aber nicht morgen, sondern – sagen wir – in zwei Jahren oder später ein (s. oben).

Wie angenehm ist es, auch einmal auf präventionsbegeisterte Menschen zu treffen, die von erfolgreichen Gesundheitskampagnen im Betrieb berichten. Eine Betriebskultur kann positiv belebt werden durch gegenseitige Wertschätzung und durch Respekt auch gegenüber beeinträchtigten Mitarbeitern. Betriebsräte berichten stolz von erfolgreichem betrieblichen Eingliederungsmanagement. Gelegentlich war ich selbst perplex, als Beschäftigte, die ohne finanzielle Einbuße in die Frührente hätten gehen können, mir erklärten, sie wollten wieder arbeiten, weil ihnen die Arbeit Spaß mache und der Kontakt zu Kollegen wichtig für ihre Lebensfreude sei.

Vielleicht muss es sich einfach mehr herumsprechen, wofür Arbeitsmedizin steht. „Sind Sie denn richtige Ärztin?“, fragte neulich eine Auszubildende in meinem Betrieb. „Ja, ich bin ‚richtige‘ Ärztin, die auf die Beschäftigten im Betrieb schaut und auf den Betrieb als soziales Gebilde und Gesamtorganismus.“ – „Na“, so die junge Frau, „da haben Sie ja ganz schön was zu tun.“ Richtig.

Wir haben nie Zeit, den Zaun zu reparieren, weil wir erst die Hühner einfangen müssen!

Wir sollten den Sinn von Prävention und damit von moderner betriebsärztlicher Tätigkeit didaktisch vermitteln, aber nicht aufdringlich. Denken wir an die Hebammenkunst: Atmen und Bewegen müssen sich die Menschen von alleine. Von ärztlichem Rat kann nur profitieren, wer auch bereit ist, ihn zu empfangen. Nur der wird ihn auch zu schätzen wissen. Nun trifft man als Arzt zum Glück selten auf aggressive Abwehr, eher auf hilflose Kurzsichtigkeit. „Wir haben nie Zeit, den Zaun zu reparieren, weil wir erst die Hühner einfangen müssen!“. In diesem Ausspruch wird die Einteilung in primäre Prävention (den Zaun immer gut in Schuss halten), sekundäre Prävention (Löcher im Zaun rechtzeitig reparieren) und tertiäre Prävention (mit viel Körpereinsatz die entlaufenen Hühner wieder einfangen) trefflich auf den Punkt gebracht. Es gibt eben noch zu viele, die lieber „Hühner einfangen“ als sich an einem ganzheitlichen und vorausschauenden Konzept des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu orientieren.

Ach ja, oben wurde aus der Bibel zitiert. Es gibt da noch einen Satz, der uns Betriebsärzte betrifft: „Niemand setzt sein Licht unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter.“ 

    Autorin

    Dr. med. Ulrike Hein-Rusinek

    Leitende Betriebsärztin im Gesundheitsmangement

    REWE-Group

    Domstraße 20 – 50668 Köln

    ulrike.hein-rusinek@rewe-group.com

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen