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Risiko Freizeitlärm

Untersuchungen zu lärmbedingtem Hörverlust bei Kindern und Jugendlichen in Baden-Württemberg

I n den letzten Jahren ist bei Jugendlichen insgesamt eine Verminderung des Hörvermögens zu verzeichnen. Als wesentliche Ursache hierfür wird der Freizeitlärm angesehen. Die Gefahr einer Hörschädigung durch Freizeitlärm hat sich beträchtlich erhöht. Anlass zur Sorge gibt die Exposition durch die neue Generation von Abspielgeräten mit MP3-Technologie, die es erlaubt, Musik mit erheblich höherem Schallpegel zu hören. Obwohl die Verkaufszahlen herkömmlicher MP3-Player in Deutschland bereits wieder rückläufig sind, ist der Trend, unterwegs Musik zu hören, ungebrochen.

Das Musikhören ist für Jugendliche die wichtigste Medientätigkeit. Das berichtet die Basisstudie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland „Jugend, Information, (Multi)-Media 2012“. Für neun von zehn Jugendlichen ist Musikhören sehr wichtig oder wichtig.

Auch über den potenziellen Zugang und Besitz von eigenen Mediengeräten wurden in dieser Studie aktuelle Umfrageergebnisse publiziert: Insgesamt besitzen 96 % der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ein eigenes Handy – davon entfallen 47 % auf Smartphones wie z. B. das iPhone. Etwa vier Fünftel haben einen eigenen Computer und einen MP3-Player. Im Vergleich zur „Jugend, Information, (Multi)-Media“-Studie 2011 lässt sich vor allem eine deutliche Steigerung bei der Ausstattung mit Smartphones feststellen. Welche Konsequenzen dieses veränderte Freizeitverhalten für die Jugendlichen hat, will das LGA herausfinden. Gehörschäden kumulieren über die gesamte Lebenszeit hinweg, daher sind auch geringfügige Vorschäden bei Kindern sehr ernst zu nehmen.

Das Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg setzt daher einen Schwerpunkt auf präventive Projekte und Aktivitäten zum Thema Freizeitlärm und führt eine Studie zu lärmbedingtem Hörverlust bei Kindern und Jugendlichen durch. Über standardisierte Hörprüfungen und Fragebogenaktionen sollen ausreichende und verlässliche Daten zum Hörvermögen und Hörverhalten von Kindern und Jugendlichen gewonnen werden. Auf dieser Grundlage sollen konkrete Strategien für die Prävention von Hörschäden entwickelt werden. In diesem Beitrag wird die Studie beschrieben und erste Ergebnisse am Beispiel einer Stuttgarter Realschule vorgestellt.

Studiendesign

Die Untersuchung ist als Querschnittstudie mit Jahrgangskollektiven von Kindern und Jugendlichen im Alter von 10–18 Jahren konzipiert und läuft seit 2011 an Schulen im Raum Stuttgart. Ziel ist es, insgesamt ca. 1000 Schüler zu untersuchen und zu ihren Musikhörgewohnheiten (Discobesuche, intensive Nutzung tragbarer Abspielgeräte über Ohrhörer) und Lärmempfinden zu befragen. Dabei sollen verhaltensbedingte Expositionsfaktoren, die das Gehör schädigen können, beschrieben werden. Mittels Audiometrie-Screening sollen Kinder und Jugendliche mit reduziertem Hörvermögen identifiziert und Zusammenhänge mit dem Freizeitverhalten aufgezeigt werden. Absoluten Hörschwellen werden nicht bestimmt.

Instrumente

  • Schulinformation
  • Studienunterlagen: Elterninformation, Jugendinformation, Einverständniserklärung, Gesundheitsfragebogen (von den Eltern auszufüllen)
  • Interviewfragebogen: Jugendfragebogen (am Untersuchungstag)
  • Screening-Luftleitungs-Hörtest (Reinton-Audiometer OSCILLA USB 300BS mit circumauralem Audiometriekopfhörer)
  • Broschüre zur Hörgesundheit

Standardisierte Untersuchung

Die Rekrutierung der Probanden erfolgte jahrgangsweise durch Ausgabe der Studienunterlagen über die Klassenlehrer. Interessenten meldeten sich durch Rückgabe des Gesundheitsfragebogens und Einverständniserklärung. Die Tests fanden vormittags während der Unterrichtszeit im Schulgebäude statt. Hierfür standen zwei separate Räume zur Verfügung.

Zuerst wurde jedem Probanden der Testablauf erläutert. Nach einem Übungstest wurde eine Doppelmessung durchgeführt. Es wurden 10 Frequenzen in randomisierter Reihenfolge von 0,125 kHz bis 8 kHz angeboten. Der Anfangsschalldruck betrug 5 dB, dann wurde der Schallpegel in 5-dB-Schritten gesteigert. Jeder Teilnehmer erhielt einen Befundbrief mit Audiogrammausdruck, schriftlicher Bewertung und einer Broschüre zur Hörgesundheit. Im Falle auffälliger Hörbefunde wurde zur weiteren Abklärung durch einen Facharzt geraten.

Im Anschluss an den Test erfolgte die interviewgesteuerte Befragung des Teilnehmers durch den Untersucher.

Teilergebnisse aus einer Realschule in Stuttgart

Zur Untersuchungen wurden Studienunterlagen an 272 Schüler ausgegeben (5. bis 10. Klasse, 10 bis 17 Jahre alt). 163 Schüler meldeten sich zum Hörtest an. 158 Schüler wurden in die Studie aufgenommen, darunter waren 90 Mädchen und 68 Jungen. 19 % der Teilnehmer hatten einen Migrationshintergrund, 26,7 % wurden nicht in Deutschland geboren.

Ergebnisse der Höruntersuchung

Eine erste Auswertung der Hörtests ergab:

  • 14,5 % der Schüler wiesen bei mindestens einer Testfrequenz einen Hörverlust von mehr als 20 dB(A) auf.
  • 1,9 % der Schüler wiesen bei mindestens einer Testfrequenz einen Hörverlust von mehr als 30 dB(A) auf.
  • Jungen hatten häufiger ein schlechteres Hörvermögen als Mädchen.
  • Schüler der 9. Jahrgangsstufe hatten häufiger ein schlechteres Hörvermögen.
  • 15-jährige Schüler hatten häufiger ein schlechteres Hörvermögen.

Freizeitgewohnheiten

Im Fragebogen wurden die Schüler gefragt, welche vorgegebenen Schallquellen sie benutzen. Die Fragen waren auf Musikhören und andere Beschallungen über Kopfhörer fokussiert: Musik über MP3-Player, über Handys, am PC oder HiFi-Anlage mit Kopfhörern. Besuch von Diskotheken, Konzerte mit elektroakustischer Beschallung, Computerspiele über Kopfhörer. Insbesondere die Beschallung über Kopfhörer wird dabei als problematisch für das Gehör erachtet, weil hohe Lautstärken eingestellt werden können, ohne Beschwerden unbeteiligter Dritter hervorzurufen. Neben den Freizeit- und Hörgewohnheiten an sich wurde auch nach der täglichen Einwirkdauer, der Anzahl der Jahre, in denen die Hörgewohnheiten schon in diesem Ausmaß ausgeübt wurden, und der eingestellten Lautstärke gefragt. Die Auswertungen zeigen:

  • 85,4 % der Teilnehmer haben ein Musikabspielgerät mit Kopf- oder Ohrhörern.
  • 16,3 % der Teilnehmer hören täglich mindesten 1,5 Stunden und länger Musik mit Kopfhörern.
  • 13,3 % der Teilnehmer stellen die Geräte sehr laut ein.

Nach Angaben der Eltern aus dem Gesundheitsfragebogen:

  • 18,3 % der Teilnehmer schauen täglich (an einem Wochentag) mindestens 3 Stunden und länger TV.
  • 9,5 % der Teilnehmer spielen täglich (an einem Wochentag) mindestens 3 Stunden und länger PC Spiele.

Hörbeschwerden

Der Interviewfragebogen umfasste Fragen zu Ohrbeschwerden (Ohrenschmerzen, Ohrgeräusche, taube Ohren), verursacht durch das Hören lauter Musik oder auch andere Geräuschquellen (wie z. B. Spielzeugpistole, Feuerwerk, Schreien ins Ohr etc.).

Nach Angaben der Kinder:

  • 12,5 % der Teilnehmer hatten nach Musikhören Beschwerden.
  • 14,5 % der Teilnehmer hatten nach anderen lauten Ereignissen Ohrbeschwerden, davon 30,4 % feuerwerksbedingt und 26,1 % durch Schreien ins Ohr.

Nach Angaben der Eltern aus dem Gesundheitsfragebogen:

  • 7,6 % der Teilnehmer hatten nach Musikhören Beschwerden.
  • 16,5 % der Teilnehmer hatten nach anderen, lauten Ereignissen Beschwerden.

Gesundheitsstatus

Mit dem Instrument des Gesundheitsfragebogens wurden demografische Angaben wie Alter, Geschlecht und Nationalität, Angaben zur Wohnung und Wohnumgebung, zu Verkehr, Gesundheit und Familiensituation erhoben.

Nach Angaben der Eltern wurden durch einen Arzt/Kinderarzt folgende Beeinträchtigungen festgestellt:

  • bei 27,2 % der Teilnehmer eine Allergie,
  • bei 5,7 % der Teilnehmer Schlafstörungen,
  • bei 34,2 % der Teilnehmer eine Bronchitis,
  • bei 42,4 % der Teilnehmer eine Mittelohrentzündung.

Lärmbelastung

Mit dem Gesundheitsfragebogen, den die Eltern ausfüllten, wurden Daten zur Lärmbelastung in der Wohnumgebung erhoben: allgemeine Daten zur Wohnung (z. B. Entfernung zu verkehrsreichen Straßen), Lage des Kinderschlafzimmers, Art der Fenster etc.

Die Auswertungen zeigen:

  • 33,5 % der Teilnehmer wohnen nur 50 m entfernt von einer verkehrsreichen Straße (Berufs-, Durchgangsverkehr).
  • 43,6 % der Teilnehmer haben ein Schlafzimmer mit Lärmschutzfenster.
  • 12,0 % der Teilnehmer haben ein Schlafzimmer zu einer extrem bis stark befahrenen Haupt- oder Durchgangsstraße.

Lärmbelästigung

Der Interviewfragebogen umfasste Fragen bezüglich unterschiedlicher Lärmquellen: Straßenverkehrslärm, Fluglärm, Schienenverkehrslärm, Baulärm, Nachbarschaftslärm, Industrie- und Gewerbelärm und sonstiger Lärm. Dabei wurde zwischen der Lärmbelästigung tagsüber und nachts unterschieden. Die teilnehmenden Kinder antworteten anhand einer 5-stufigen Skala (Kategorien: nicht gestört, wenig gestört, mittelmäßig gestört, ziemlich gestört, sehr gestört).

Die Auswertungen für tagsüber zeigen:

  • 22,2 % der Teilnehmer fühlen sich durch Straßenverkehrslärm belästigt.
  • 14,6 % der Teilnehmer fühlen sich durch Schienenverkehrslärm belästigt.
  • 18,4 % der Teilnehmer fühlen sich durch Baulärm belästigt.
  • 22,8 % fühlen sich durch Nachbarschaftslärm belästigt.

Nachts wird die Belästigung als deutlich geringer empfunden:

  • 7,6 % der Kinder fühlen sich nachts durch Straßenverkehrslärm belästigt.
  • 5,1 % der Kinder fühlen sich nachts durch Schienenverkehrslärm belästigt.
  • 16,5 % der Kinder fühlen sich nachts durch Nachbarschaftslärm belästigt.

Schlussfolgerung und Ausblick

Schon diese ersten Teilergebnisse der Studie zeigen, dass mehr Schüler als gedacht einer erheblichen Lärmbelastung ausgesetzt sind. Bei einigen Schülern ist bereits in jungen Jahren ein lärmbedingter Hörverlust im Frequenzbereich 3–6 kHz (sog. C5-Senke) nachzuweisen. Auffällig viele Schüler berichteten über störende Ohrgeräusche. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer gezielten Lärmprävention speziell für Kinder und Jugendliche.

Das LGA hat bereits im Jahr 2000 das Projekt „Freizeitlärm im Innenraum – aufgehört“ entwickelt. Ziel des Projekts war die Aufklärung über die Risiken des Freizeitlärms. Die Botschaft lautete: „Einmal erworbene Hörschäden sind nicht heilbar! Wie kann ich das Risiko gering halten, an einem Hörschaden durch Freizeitlärm zu erkranken.“ Bei diesem Projekt wendeten sich die Gesundheitsämter mit professionell vorbereiteten Aktionen direkt an Kinder und Jugendliche in Schulen. Das Landesgesundheitsamt koordinierte die Kampagne und unterstützte die Gesundheitsämter durch das Lärmmobil mit Geräten zur Schallpegelmessung und Hörtests, dem Kunstkopf zur Schallpegelmessung und anderen anschaulichen Materialien, wie die Lärmampel für Klassenzimmer und den Info-Koffer „Tipps & Tools“. Besonderen Anklang fand das kleine Informationsheft speziell für Jungen und Mädchen, das aufklärt und gleichzeitig kindgerechte Tipps gibt, wie die Hörschäden vermieden werden können. Da das Projekt auf große Resonanz bei Jugendlichen, Schulen und der Presse stieß, soll es weiterentwickelt werden.

Eine systematische Erfassung von Knall- und Explosionstraumata sowie anderen lärmbedingten Hörschäden bei Kindern und Jugendlichen durch Hals-Nasen-OhrenÄrzte wäre für eine bessere Einschätzung der Entwicklung der Fallzahlen und die weitere Gestaltung und Evaluation präventiver Maßnahmen sehr hilfreich. 

    Für die Autoren

    Dr. med. Snezana Jovanovic

    Landesgesundheitsamt BWRegierungspräsidium StuttgartNordbahnhofstraße 13570191 Stuttgart

    snezana.jovanovic@rps.bwl.de

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