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Gemeinsame Jahrestagung von DGAUM, ÖGA und SGARM in Bregenz, 13. — 16. März 2013

Arbeit darf nicht krank machen

Der Rücken tut weh, die Gelenke schmerzen, keine Sitzposition will so recht Linderung bringen: die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Beschwerden im Bereich der Gelenke, Knochen und Muskeln steigt weiter an. Arbeitsbedingte Fehlbelastungen, Leistungsdruck und Stress haben großen Einfluss auf die Gesundheit, allen voran auf die Gesundheit des Muskel- und Skelettapparates. Das zeigt sich auch in den Fehlzeiten von Arbeitnehmern: 20 % aller Krankheitsfälle gehen in Deutschland auf diese Erkrankungen zurück. In der Europäischen Union leiden 25 % unter Rückenschmerzen, 23 % haben Muskelschmerzen. 62 % der Arbeitnehmer in den 27 Ländern der Europäischen Union führen über ein Viertel der Arbeitszeit oder länger repetitive Hand- und Armbewegungen aus, 46 % nehmen schmerzhafte oder ermüdende Körperhaltungen ein, 35 % tragen oder bewegen schwere Lasten. Besonders gefährdet sind nach Angaben der europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz Arbeitskräfte, die in der Landwirtschaft, in Baubetrieben, im Handwerk, in der Pflege, Gastronomie, aber auch in der Dateneingabe beschäftigt sind.

Zufriedene Besucher, zufriedene Aussteller

Diese Zahlen sprechen für sich und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften für Arbeitsmedizin aus Deutschland (DGAUM), Österreich (ÖGA) und der Schweiz (SGARM) haben mit ihrer ersten gemeinsamen Jahrestagung, die vom 13. bis 16. März im Dreiländereck in Bregenz am Bodensee stattgefunden hat, auf diese Entwicklungen reagiert und bewusst unter dem Motto „Arbeit darf nicht krank machen“ das Thema „Muskel-Skelett-Erkrankungen und Beruf“ in den Mittelpunkt gestellt. Ziel war hier nicht nur der Wissenstransfer um die physiologische Entstehung dieser Erkrankungen, sondern auch die Diskussion von Arbeits- und Lebenswelten, um Maßnahmen zur gesundheitsförderlichen Veränderung von Arbeitsbedingungen und individuellem Verhalten der Mitarbeiter zu entwickeln. Die insgesamt knapp 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Idee einer länderübergreifenden Jahrestagung sehr positiv aufgegriffen und in den einzelnen Veranstaltungen intensiv diskutiert, für die Belange ihres Faches gestritten und so gezeigt, wie lebendig die Arbeitsmedizin in all ihren unterschiedlichen Facetten heute ist. Auch die anwesenden Aussteller aus der Industrie haben das Konzept einer gemeinsamen Jahrestagung der Fachgesellschaften Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sehr positiv aufgenommen. In Bregenz waren die über 440 Quadratmeter große Ausstellungsflächen bis auf den letzten Zentimeter ausgebucht und die insgesamt 41 sich präsentierenden Unternehmen hatten die Gelegenheit zu vielfältigen Kontakten mit dem Fachpublikum.

Bereits bei der Eröffnungspressekonferenz machten die Präsidenten der Fachgesellschaften, Prof. Dr. Hans Drexler (DGAUM), Dr. Christine Klien (ÖGA), Dr. Klaus Stadtmüller (SGARM), vor den versammelten Medienvertretern deutlich, dass moderne Arbeitsmedizin nichts mit einer Gesundheitspolizei im Auftrag der Personalabteilung eines Unternehmens zu tun hat, sondern mit wissenschaftlichen, evidenzbasierten Methoden arbeitet und forschungsorientiert Lösungsansätze für aktuelle Fragen der beruflichen Lebenswirklichkeit von Menschen sucht. Aktuelle Forschungsschwerpunkte erkannten die drei Präsidenten der Fachgesellschaften in den Themenfeldern psychomentale Belastungen, der Prävention von Angehörigen sog. Hochrisikogruppen, die täglich mit Gefahrstoffen arbeiten müssen, sowie im Feld des Umgangs mit neuen Materialien, etwa Nanopartikeln, die auf dem Gebiet der Haut- und Atemwegserkrankungen zunehmend Relevanz erhalten. Gerade der Haut als dem größten Organ des Menschen gelte es weiterhin Aufmerksamkeit zu zollen, denn viele allergische Reaktionen der Haut gehören zum Arbeitsalltag von Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern. Insofern gelte es, so Drexler, nach wie vor, Arbeitsbelastungen so gering wie möglich zu halten und Arbeitsbedingungen für die Menschen zu verbessern.

Veränderung von Arbeitswelten – Veränderung der Arbeitsmedizin

Zum wissenschaftlichen Programm der Tagung gehörten insgesamt 50 Veranstaltungen, darunter waren neben den Sitzungen (33) auch Foren und Seminare (7) bzw. Workshops (6). Das Programmheft zählte insgesamt über 280 Referentinnen und -referenten, die im Rahmen der unterschiedlichen Veranstaltungen Vorträge hielten. In allen Veranstaltungsformaten wurde deutlich, dass die arbeitsmedizinische Prävention und Gesundheitsförderung in den letzten Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Arbeit sicherer geworden ist, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zurückgegangen sind und die Gestaltung von Arbeit und Arbeitsabläufen optimiert werden konnten. Untersuchungen belegen nachdrücklich, dass arbeitsmedizinische Prävention und Gesundheitsförderung primär kein Kostenfaktor sind, wenn es gilt, Krebs- oder Atemwegserkrankungen bzw. Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sowie psychischen Erkrankungen effizient entgegenzuwirken, sondern zum Unternehmensgewinn beitragen. Über den betrieblichen Bereich hinaus können durch die bestehenden Strukturen von Arbeitsmedizinern und Betriebsärzten allgemeine Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung angeschoben werden. Gerade im Bereich der Vermeidung beruflich bedingter psychischer Belastungen und Erkrankungen kann sich eine an den realen Lebensverhältnissen des einzelnen Arbeitnehmers bzw. Arbeitnehmerin orientierte Präventionsstrategie und -arbeit positiv auswirken. Nicht nur im Forum „Psychische Gesundheit“ und im Seminar „Psyche“ war dies ein Thema, auch bei der Diskussion der gesundheitlichen „Gefährdung bei Lehrkräften“ an Schulen spielte dieser wichtige Aspekt eine große Rolle.

In allen Fachdiskussionen war unbestritten, dass demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Globalisierung der Arbeitswelt, eine zunehmende Verdichtung der Arbeitsanforderungen sowie die Einführung neuer Technologien zu einer großen Herausforderung für die Gesellschaft allgemein und somit auch für die Arbeitswelt werden. Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein, muss das Fach Arbeitsmedizin sich jedoch weiter entwickeln und vor allem eine aktive Nachwuchsarbeit betreiben, damit auch künftig genügend Arbeitsmediziner zur Verfügung stehen, um sowohl eine zukunftsorientierte Forschung als auch eine adäquate Versorgung für unsere Gesellschaft leisten zu können. Vor diesem Hintergrund hatten die Veranstalter spezielle Angebote im Programm aufgenommen, so etwa ein Seminar für Nachwuchswissenschaftler oder Angebote für den Bereich der Versorgungsforschung. Weiterhin diskutierten die anwesenden Fachärztinnen und Fachärzte und das interessierte Publikum über die Novellierung der Weiterbildungsordnung „Arbeitsmedizin“, die derzeit in Deutschland die Bundesärztekammer angestoßen hat, um so die Weiterbildungsperspektiven für diesen Facharzt Beruf so attraktiv wie möglich zu halten.

Die gesamte Bandbreite der modernen Arbeitsmedizin und den gesellschaftlichen Entwicklungen, denen das Fach in den kommenden Jahren ausgesetzt sein wird, entfaltete der emeritierte Ordinarius am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich, Prof. Helmut Krüger, in seinem Festvortrag anlässlich der Eröffnungsveranstaltung. Krüger reflektierte die Veränderungen der Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf die Arbeitnehmer aus physiomentaler, psychomentaler und psychosozialer Sicht einerseits sowie vor dem Hintergrund der Diskussion einer nachhaltigen Veränderung der Wirtschaftsethik in Europa andererseits. Nach seiner Auffassung muss die Arbeitsmedizin sich verändern und ihre primäre Orientierung an den Aspekten pathologische Veränderungen des Menschen, Morbidität und Mortalität aufgeben und noch mehr als bisher ihr wissenschaftliches und klinisches Interesse weiter entwickeln, in deren Mittelpunkt vermehrt die Fragen nach den sozialen Systemen sowie nach Regelkreisen stehen, die für die unmittelbaren Lebens- und Arbeitskontexte der arbeitenden Bevölkerung von zentralen Bedeutung sind. Nicht zuletzt die demografischen Veränderungen in allen europäischen Gesellschaften werden nach Krügers Ansicht zu einer nachhaltigen Veränderung der Arbeitswelten führen, deren Erforschung das Fach Arbeitsmedizin sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen und zu stellen hat. Neue wissenschaftliche Perspektiven werden notwendig sein, wenn es gilt, die Frage zu beantworten, wie älter werdende Menschen länger in Arbeitsprozessen gesund leben und arbeiten können. Logisch-kausale Ursache-Wirkungs- bzw. sog. Leistungs-Modelle werden sicherlich von anderen, moderneren Methodologien und Modellen abgelöst werden müssen, in denen die Fragen nach den die Gesellschaft und das Individuum prägenden Systemen und deren aktive Gestaltung im Vordergrund des Erkenntnisinteresses stehen sollte.

Arbeitsmedizin in Europa: Vielfalt als Chance

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt dieses Kongresses, der im 60. Jahr des Bestehens der österreichischen Fachgesellschaft stattfand, drehte sich um „Arbeitsmedizin in Europa“. Die wissenschaftlichen und fachlich-medizinischen Grundlagen der arbeitsmedizinischen Tätigkeit sind zwar unabhängig von Ländergrenzen, aber anders als viele andere medizinische Fachgebiete kennt die Arbeitsmedizin bis heute weder große europäische Kongresse noch gibt es einen europäischen Berufs- oder Fachverband in der Arbeitsmedizin. Vor diesem Hintergrund haben die Initiatoren und Tagungsleiter des Bregenzer Kongresses - aus Deutschland: Professor Thomas Kraus und Professor Stephan Letzel, aus Österreich Dr. Christine Klien und Dr. Reinhard Jäger, aus der Schweiz: Dr. Klaus E. Stadtmüller und Dr. Claudia Pletscher – sehr bewusst das Thema Europa in den Mittelpunkt dieser trinationalen Veranstaltung gestellt. Dies umso mehr, da die Praxis der Arbeitsmedizin in jedem Land gekennzeichnet wird durch die Anwendung arbeitsmedizinischen Wissens in Situationen, die durch rechtliche Regulierungen und wirtschaftliche Gegebenheiten geprägt sind. Dabei sind in der Arbeitsmedizin die Unterschiede in der Umsetzung zwischen den Ländern ähnlich groß wie die Unterschiede der Gesundheitssysteme und des öffentlichen Gesundheitswesens zwischen den Ländern. Ein Exempel: Während es in der Schweiz ebenso wie in Deutschland nicht zu den Aufgaben des Arbeitsmediziners gehört, Arbeitsunfähigkeit zu beurteilen oder gar zu kontrollieren, ist es in den Niederlanden geradezu das Kerngeschäft der arbeitsmedizinischen Dienste. Ein anderes Beispiel ist der Unterschied zwischen den Ländern bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge. In einigen Ländern in Europa ist für jeden Arbeitnehmer eine solche Vorsorgeuntersuchung vorgesehen, jedes Jahr und unabhängig von den beruflichen Belastungen, während in anderen Ländern solche Untersuchungen eng verknüpft sind mit besonderen beruflichen Gefährdungen und Belastungen. Erklärbar sind solche Unterschiede nicht allein mit dem medizinischen Fachwissen, dies wurde gerade in der großen letzten Sitzung der Tagung am Samstag unter dem Titel „Arbeitsmedizin in Europa“ am letzten Kongresstag deutlich.

Experten aus Belgien, Deutschland, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz, Schweden, Slowenien und Tschechien sowie vom WHO-Regionalbüro in Bonn diskutierten sowohl über die Vielfalt des Fachs Arbeitsmedizin als auch über Möglichkeiten einer Harmonisierung von Ausbildungswegen und Tätigkeitsschwerpunkten in den einzelnen europäischen Ländern. Allerdings werden die unterschiedlichen Traditionen und seit langen Jahren gepflegten Kulturen im Bereich der Arbeitsmedizin der einzelnen Länder kaum einen einfachen Harmonisierungsprozess möglich machen. Gerade in der abschließenden Podiumsdiskussion wurde daher nicht zu Unrecht die Frage aufgeworfen, ob eine Harmonisierung des Fachgebiets in den einzelnen Ländern nicht doch mit einem zu großen Verlust an Individualität und Geschichtlichkeit in den jeweiligen Ländern einhergehen werde. Viel wichtiger, so das Votum im Podium, erscheine es daher, einen regen Austausch, wie etwa im Rahmen einer solchen Jahrestagung in Bregenz, zu pflegen und immer wieder die unterschiedlichen arbeitsmedizinischen Perspektiven und Ansätze vor dem Hintergrund der bestehenden kulturellen Vielfalt in den europäischen Ländern sich zu vergegenwärtigen und konstruktiv zu diskutieren.

Wenn es überhaupt ein abschließendes Fazit dieser international geprägten Sitzung und dieser länderübergreifenden Jahrestagung gibt, dann dieses: Die Arbeitsmedizin versteht sich immer mehr in einer Dienstleistungsfunktion sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer. Sie leistet einen Beitrag zum Unternehmenserfolg, indem durch Prävention individuelle Krankheit vermieden wird und damit vermeidbare Störungen der Prozesse in den Unternehmen. Gerade international tätige Firmen und über nationale Grenzen hinweg mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benötigen heute mehr denn je hinreichende Informationen, warum angesichts erlebter Unterschiede in den Ländern bestimmte Verfahrens- und existierende Arbeitsrealitäten sich in dem einen Land so gestalten, während diese in einem andern Land sich gänzlich anders darstellen. Dies zeigt, wie kontextgebunden das Fach Arbeitsmedizin an die sozialen Lebens- und Arbeitswelten ist und wie spannend es sein kann, die Interaktionen zwischen den einzelnen sozialen Systemen der europäischen Länder an sich, aber auch das Verhältnis zwischen arbeitenden Individuen und deren unmittelbaren Lebens- und Arbeitswelten zu erforschen, um darauf aufbauend adäquate und zukunftsweisende Versorgungsperspektiven zu entwickeln. Gerade die gemeinsame Jahrestagung der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat gezeigt, wie wichtig und anregend ein Austausch über die Ländergrenzen und die engen Horizonte nationaler Gegebenheiten ist. Es bleibt zu hoffen, dass diese Kooperation in den kommenden Jahren zum allseitigen Nutzen weitergeführt und gepflegt wird. Bregenz kann nur der Anfang gewesen sein.  

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