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REPORTAGE

Der BEM-Prozess — bei den Führungskräften ansetzen

Marlies Michaelis

Mehrere Schilder auf dem Betriebsgelände zeigen den Mitarbeitern, wo sie behandelt werden oder ein Gespräch mit dem Arzt suchen können. „Gesundheitszentrum“ steht auf den metallgrauen Schildern, etwa 30 Zentimeter hoch. Die Räume von Dr. Stephan Schlosser und seinem Team – neben ihm noch zwei Krankenschwestern und ein Rettungsassistent – liegen im Erdgeschoss, barrierefrei. Er ist zuständig für knapp 3000 Mitarbeiter der Firma Trumpf im schwäbischen Ditzingen, nur ein paar Kilometer von Stuttgart entfernt. Das Unternehmen ist Weltmarktführer bei Werkzeugmaschinen und Industrielasern. Dr. Schlosser behandelt Verletzungen, die im Arbeitsalltag entstehen können, ebenso wie Schwächeanfälle und ab und an auch Mitarbeiter, die von einer Auslandsreise zurückkommen, an hohem Fieber leiden und vielleicht eine Infektion von der Reise mitgebracht haben

Führungskräfte haben den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und merken am ehesten, wenn jemand mit seiner Arbeit nicht zurechtkommt

Dr. Schlosser ist auch maßgeblicher Akteur innerhalb des BEM-Verfahrens bei Trumpf. Im BEM-Prozess – wie auch in anderen Bereichen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements – setzt er bei der gesundheitlichen Störung an. „Immer dann, wenn die Arbeit nicht gelingt“, so Dr. Schlosser, „soll dies so früh wie möglich auffallen.“ Hauptansprechpartner sind dabei für ihn die Führungskräfte in einem Unternehmen. Bei Trumpf weist er zum Thema Gesundheit neben der Geschäftsführung besonders die mittlere Führungsebene ein. „Die haben doch den Kontakt zu ihren Mitarbeitern und merken am ehesten, wenn jemand mit seiner Arbeit nicht zurechtkommt“. Die Führungskräfte werden entsprechend geschult. Jeder, der bei Trumpf neu in eine Leitungsfunktion kommt, erhält eine Grundschulung, bei der Dr. Schlosser darstellt, dass Probleme bei der Arbeit aufmerksam machen sollten. Er ist dann Ansprechpartner für die Führungskräfte, die ihm ihre Beobachtungen mitteilen. Innerhalb der Grundschulung weist er auch auf die gesetzlichen Regelungen zum BEM hin. Erfahrene Führungskräfte belegen Aufbauseminare, in denen der Betriebsarzt im Gespräch die Fragen der Teilnehmer zum Umgang mit gesundheitlichen Aspekten erörtert.

Die Spannung zwischen Arbeit und Gesundheit aushalten

Es ist guter Standard in vielen Betrieben, dass sich alle beteiligten Personen bei Problemen verschiedenster Art zusammen an einen Tisch setzen. Einen entsprechenden Ansatz verfolgt Dr. Schlosser auch bei den BEM-Gesprächen: Alle Beteiligten setzten sich zusammen, um mit dem Mitarbeiter über die Probleme zu sprechen. Im Idealfall besteht kein Konflikt zwischen Arbeit und Gesundheit. Dr. Schlosser hält es aber für Augenwischerei, immer nur davon zu reden, dass Arbeit und Gesundheit automatisch eine „Win-win Situation“ schafft. „Wir müssen wieder lernen, den Konflikt zwischen Arbeit und Gesundheit auszuhalten“, so der Betriebsarzt. Die Frage, die sich für ihn stellt, ist: „Was können wir im Einzelfall ändern, damit die Arbeit gut tut?“ Gerade im BEM-Prozess stellt sich diese Frage mit besonderer Dringlichkeit – und das BEM-Gespräch dient dazu, für jeden einzelnen Betroffenen Antworten zu finden. Dabei beginnt dieser Prozess nicht nur dann, wenn die jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb von zwölf Monaten sechs Wochen Fehlzeit hatten. Vielmehr weist Dr. Schlosser die Führungskräfte darauf hin, dass eine Reaktion immer dann notwendig ist, wenn die Arbeit nicht gelingt oder wenn es offensichtliche Gesundheitsstörungen gibt. Diese können den geschulten Führungskräften auffallen – oder auch dem Betriebsarzt, dem Betriebsrat oder dem Personalreferenten. Es geht hierbei nicht um Überwachung und Kontrolle, sondern um Hilfe für die Betroffenen.

Das BEM-Gespräch wird bei Trumpf von der Personalabteilung einberufen. Der Mitarbeiter, seine direkte Führungskraft, die Personalreferentin oder der Personalreferent, ein Betriebsratsvertreter und der Betriebsarzt sind gesetzte Teilnehmer. Weitere Teilnehmer (Integrationsfachdienst, Krankenkasse, DRV, Therapieeinrichtung) können je nach Fall auch von extern hinzugeladen werden. Grundsätzlich soll im BEM-Gespräch immer mit dem und nicht über den Mitarbeiter gesprochen werden. Dennoch erweisen sich in Einzelfällen kurze Vorbesprechungen ohne den Mitarbeiter als hilfreich. Besonders wichtig: den Betroffenen deutlich zu machen, dass es darum geht, ihnen zu helfen. Bei einigen BEM-Kandidaten überwog laut den Schilderungen von Dr. Schlosser zunächst die Angst vor diesem BEM-Gespräch.

Epilepsie eines Auszubildenden

Für manche Betroffenen war das BEM-Gespräch aber auch von Anfang an eine willkommene Anlaufstelle. So erging es dem Vater eines Auszubildenden. Der junge Mann begann – noch minderjährig – eine Ausbildung zum Mechatroniker. Dr. Schlosser sah ihn das erste Mal bei einer Vorsorgeuntersuchung, die unauffällig verlief. Ein Auszubildender wie jeder andere in dem Betrieb. Doch dann erhielt der Ausbildungsleiter einen Anruf vom Vater: Der Junge habe im Ferienlager einen Anfall gehabt. Die Diagnose beim Neurologen zeigte: Es war ein zerebraler Anfall, der Auszubildende litt an Epilepsie. Von Seiten des Neurologen erfolgte die medikamentöse Behandlung. Und der Vater nahm – da sein Sohn zu dem Zeitpunkt noch minderjährig war – an dem BEM-Gespräch teil. Erst durch das BEM-Gespräch und eine damit verbundene Betriebsbegehung wurde dem Vater deutlich, welche gesundheitliche Risiken dem Auszubildenden drohen könnten, sollte er an seinem Arbeitsplatz einen Anfall erleiden. Denn der Neurologe hatte empfohlen, der Junge könne wieder arbeiten, sofern er nicht als Handwerker mit gefährlichen Geräten wie Kreissägen hantieren würde. Hier hatte Dr. Schlosser, da er die Lage am Arbeitsplatz kannte, eine gänzlich andere Meinung. Die Betriebsbegehung zeigte dann dem Vater, dass auch bei modernster Fertigung wie bei Trumpf offene, drehende Maschinenteile und das Arbeiten auf Leitern zur Produktion gehören. Dr. Schlosser nahm im Anschluss den Kontakt zum Neurologen auf und klärte mit ihm die passende Empfehlung. Diese sah vor, dass der Betroffene ein Jahr nach Beginn der Medikation wieder an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren sollte und bis dahin im Bürobereich eingesetzt werden sollte. Für den Vater war dann auch wichtig, dass bei einem weiteren BEM-Gespräch auch das Risiko thematisiert wurde, das bei der Rückkehr an den ursprünglichen Arbeitsplatz bestehen bleiben würde. „Der junge Mann hat nun seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet derzeit völlig normal“, so Dr. Schlosser. Hier haben sich gemäß seiner Einschätzung die Elemente des BEMs bewährt – gute Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsleiter, Betriebsarzt, Betroffenen und externem Arzt mit dem Ziel, über einen gemeinsam abgestimmten Prozess schrittweise zum Gelingen der Arbeit beizutragen.

Arbeiten trotz Depression

Auch bei anderen Mitarbeitern trug das Konzept Früchte, über eine gute Schulung der Führungskräfte und ein verständnisvolles BEM-Gespräch eine langsame Wiedereingliederung zu erreichen. So im Falle einer Frau, die schon fast zwei Jahrzehnte im technischen Bereich der Firma arbeitete. Die Frau bekam einen neuen Vorgesetzten und bei einem der ersten Gespräche mit dem neuen Chef brach die Frau unvermittelt in Tränen aus. Sie erzählte ihm ihre gesamte Vorgeschichte. Der Vorgesetzte veranlasste ein BEM-Gespräch – aufgrund seiner Verunsicherung zunächst ohne die Mitarbeiterin. Durch das BEM-Gespräch erfährt Dr. Schlosser von dem Fall. Er vermutet, dass die Frau an Depressionen leidet und lädt sie auch zu Einzelgesprächen in die ruhige und vertrauenserweckende Atmosphäre des Gesundheitszentrums ein. Bei weiteren BEM-Gesprächen ist die Betroffene dabei und verliert langsam ihre Angst vor den Gesprächen. Erfolgsbedingung hierfür war aus Sicht von Dr. Schlosser eine sehr gute Gesprächsführung durch die Personalabteilung. Die Teilnehmer im BEM-Gespräch erfahren vieles über die problematische private Situation der Frau. Auch in der Vergangenheit waren schon hohe Fehlzeiten angefallen. Zwischenzeitlich ist die Frau wieder für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben. Danach stimmt sie einer Reha zu und beginnt auch mit einer Wiedereingliederung. Sie wirkt ängstlich und verunsichert, benötigt stabilisierende Elemente. Tatsächlich stellt sich die Situation so dar, dass die Probleme eher im privaten Bereich liegen und im BEM-Gespräch überlegt wird, ob sie nicht mehr als die vereinbarten 20 Stunden pro Woche arbeiten sollte, da die Arbeit ihr Sicherheit gibt. Die Mitarbeiterin kann neuerdings formulieren, dass sie auf ihre Zeit in der Firma sehr positiv zurücksieht. „Für diese Frau ist die Arbeit definitiv mehr eine Stütze als eine Plage“, so Dr. Schlosser.

BEM ohne lange Abwesenheit

Doch nicht bei allen BEM-Verfahren, ergibt sich ein Erfolgserlebnis für alle Beteiligten. So bei dem Fall eines älteren Mannes, der ursprünglich eine handwerkliche Ausbildung absolviert hatte. Hier fand das BEM-Gespräch zunächst ohne den Mitarbeiter statt, weil er nicht teilnehmen mochte. Das Leistungsbild des Mannes hatte sich verschlechtert und der Vorgesetzte hatte Angst, dem schon seit langem als schwierig geltenden Mitarbeiter die Nachricht zu überbringen. Im Betrieb war der Betroffene immer wieder durch Streitigkeiten aufgefallen, die Kommunikation mit ihm galt als schwierig. Das Angebot der Führungskraft, sich vom Betriebsarzt unter vier Augen unterstützen zu lassen, lehnte der Mitarbeiter zunächst ab. Trotzdem erstellte der Vorgesetzte die Leistungsbeurteilung – und der Mitarbeiter wurde entsprechend heruntergestuft. In der Folge erhielt Dr. Schlosser einen Anruf vom Hausarzt. Letzterer berichtet dem Betriebsarzt, dass sich der Mitarbeiter bei ihm beschwert hätte, er würde schlecht behandelt. Kurz nach dieser Beschwerde gab es dann doch den ersten Termin für ein BEM-Gespräch mit dem Mitarbeiter. Es bleibt trotz mehrerer Termine und verschiedener Umsetzungen in der Vergangenheit unklar, wie ein optimaler Arbeitsplatz aus Sicht des Mitarbeiters aussehen müsste. Ersatzweise bemüht sich die Führungskraft durch überdurchschnittlich aufwendiges Anleiten und Überwachen am aktuellen Arbeitsplatz die Situation zu verbessern. Erschwerend wirken die immer wieder aufflammenden Konflikte mit Kollegen. Die Ratschläge des Umfeldes, sich einer medizinischen Diagnostik und ggf. einer Therapie zu unterziehen, ignorierte der Mitarbeiter jahrelang beharrlich. Erst die gemeinsamen Bemühungen in den BEM-Gesprächen haben ihn für eine professionelle Unterstützung geöffnet. Nach mehreren Krisengesprächen mit zunehmend deutlicherem Feedback erklärt der Betroffene sich schließlich bereit, an einem psychologischen Institut professionelle Hilfe zu suchen. Eine eindeutige Dia-gnose für den Betroffenen gibt es zurzeit noch nicht. Trotz aller Bemühungen der Helfenden im BEM-Gespräch ist bei diesem Betroffenen laut dem Betriebsarzt trotz monatelanger Unterstützung noch keine Verbesserung erkennbar. Die Wiedereingliederung mit Unterstützung von Vorgesetzten, Betriebsarzt, Betriebsrat, Personalabteilung und Integrationsbeauftragten ist zunächst nicht gelungen.

Der Betriebsarzt als Prozessentwickler

So ist Dr. Schlosser im Rahmen des BEM-Verfahrens nicht derjenige, der den runden Tisch einberuft. Wie alle anderen Beteiligten kann auch er in Einzelfällen derjenige sein, der auf einen bestimmten Fall aufmerksam macht. Darüber hinaus ist er bei Trumpf auch der Gestalter von Gesundheitsprozessen – weil er innerhalb des Betriebs alle Beteiligten und maßgeblich die Führungskräfte konsequent im Rahmen von Schulungen darauf hinweist, an welchen Stellen sie aufmerksam sein müssen und wohin sie sich wenden können.

Sein Prinzip hat in diesem Umfeld Erfolg, weil er jedem Akteur seine Rolle deutlich macht. „Mittlerweile“, so Dr. Schlosser „würde der entsprechende Prozess in der Firma auch stattfinden, ohne dass ich dabei sein müsste.“

    Zur Person

    Dr. med. Stephan Schlosser
    Leiter Gesundheitszentrum
    TRUMPF GmbH + Co. KG
    Johann-Maus-Straße 2
    71254 Ditzingen
    stephan.schlosser@de.trumpf.com

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