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SCHWERPUNKT

Erfassung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz

Die heutige Arbeitswelt ist gekennzeichnet durch verschiedenartige technologische und organisatorische Veränderungen. Insbesondere Tätigkeitsmerkmale wie eine hohe Arbeitsintensität und ein zunehmender Zeitdruck können psychische Belastungen am Arbeitsplatz darstellen, die wiederum mit einem reduzierten individuellen Wohlbefinden assoziiert sind (Lohmann-Haislah 2013; Rau u. Buyken 2015). Der Gesetzgeber reagierte auf diese Entwicklungen durch eine Spezifizierung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahre 2013 (§ 5 ArbSchG): Demnach sind Arbeitgeber dazu verpflichtet, einerseits psychische Belastungen bei der Arbeit zu erfassen sowie andererseits ein Arbeitsumfeld zu gestalten, das gesundheitsgefährdenden Belastungen entgegenwirkt (vgl. Infobox).

Herangehensweisen zur Erfassung psychischer Belastungen

Befragungen, Beobachtungen und moderierte Analyseworkshops stellen die grundsätzlichen Methoden einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen dar (GDA-Arbeitsprogramm Psyche, 2016). Die Vorteile von Befragungen liegen beispielsweise darin, dass alle Beschäftigten in die Beurteilung einbezogen werden können. Dadurch kann ein Stimmungsbild zu verschiedenen Anforderungen in der gesamten Belegschaft abgefragt werden. Anhand von Beobachtungen bzw. Beobachtungsinterviews können potenzielle Belastungen hingegen unabhängig vom subjektiven Erleben detailliert erfasst werden. Moderierte Analyseworkshops eigenen sich besonders für kleinere Organisationen bzw. Teams. Für eine differenzierte Beurteilung psychischer Belastungen anhand solcher Workshops sind eine offene Gesprächskultur und eine vertrauensvolle Atmosphäre unabdingbar.

Je nach Vorgehensweise und Detailtiefe werden verschiedene Verfahren für eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen unterschieden (Richter 2010). Orientierende Verfahren zielen darauf ab, erste Ansatzpunkte für mögliche psychische Belastungen bei der Arbeit zu erkennen. Beispiele hierfür sind Checklisten, häufig gekennzeichnet durch ein dichotomes Antwortformat. Screeningverfahren weisen eine größere Analysetiefe auf, wobei die Tätigkeitsmerkmale mehrstufig erfasst werden (z.B. drei- oder fünfstufig). Anhand von Expertenverfahren werden psychische Belastungen bei der Arbeit noch differenzierter beurteilt, beispielsweise durch die Kombination verschiedener Befragungs- und Beobachtungsverfahren.

Die Toolbox der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin gibt einen umfassenden Überblick über Verfahren zur Erfassung psychischer Belastung und Beanspruchung (Richter 2010).

Theoretischer Hintergrund des Verfahrens GPB

Die Gefährdungsbeurteilung Psychische Belastung (GPB; vgl. Sonntag et al. 2016) stellt ein konsensorientiertes, objektives Screeningverfahren zur Erfassung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz dar. Unabhängig von der individuellen Beanspruchung liegt der Fokus der GPB auf den arbeitsbezogenen Belastungen, gemäß DIN EN ISO 10075-1 definiert als all diejenigen Einflüsse, die bei der Arbeit von außen auf den Menschen einwirken. Beispiele hierfür sind die (Un-)Vollständigkeit von Informationen oder das durch die Tätigkeit geforderte Ausmaß an Verantwortung.

Das Anforderungs-Kontroll-Modell von Karasek (1979) stellt den theoretischen Hintergrund der GPB dar, indem zwei Belastungsarten einander gegenübergestellt werden: Das Risiko negativ ausgeprägter Belastungen besteht vor allem dann, wenn z. B. Arbeitsanforderungen („job demands“) steigen, während der Entscheidungsspielraum („job decision latitude“) gering bleibt. Eine solche belastende Tätigkeit kann mit Erschöpfung und Arbeitsunzufriedenheit in Zusammenhang stehen. Über diese beiden Belastungsdimensionen hinaus berücksichtigt die GPB weitere Belastungsarten wie Emotionsregulation und Kundenorientierung, die in unterschiedlichen Konstellationen eine kritische Belastung darstellen können.

Beurteilung psychischer Belastungen durch ein Analyseteam

Bei der Anwendung der GPB beurteilt ein so genanntes Analyseteam – zusammengesetzt aus Vertretern von Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin, Mitbestimmung sowie gegebenenfalls weiteren betrieblichen Experten – potenzielle Belastungen am Arbeitsplatz konsensorientiert und objektiv. Die GPB ist der Kategorie der Beobachtungsinterviews zuzuordnen: Nach einer Schulung des Analyseteams durch einen Arbeitspsychologen findet zunächst eine Beobachtungsphase statt. Die zu beurteilende Tätigkeit wird durch das Analyseteam vor Ort beobachtet, um ein umfassendes Bild der Aufgaben und Anforderungen zu erhalten. Jedes Mitglied des Analyseteams macht sich ein unabhängiges Bild von der Tätigkeit, indem ein standardisierter Beobachtungsbogen ausgefüllt wird. Anschließend bespricht das Analyseteam alle Beobachtungen gemeinsam im Konsens, um die beobachtete Tätigkeit mit allen relevanten Aufgaben und Anforderungen repräsentativ zu erfassen.

Das Verfahren beinhaltet zwölf Belastungsdimensionen mit jeweils vier bis acht Items, die auf einer fünfstufigen Likert-Skala eingeschätzt werden (1 = nie/sehr selten, 2 = selten, 3 = manchmal, 4 = häufig, 5 = ständig). Berücksichtigt werden sowohl Ressourcen (Handlungs- und Zeitspielraum) als auch Anforderungen (z. B. Arbeitskomplexität und Variabilität, s.  Tabelle 1).

Ermittlung kritischer Kombinationen psychischer Belastungen

Über die konsensorientierte Einschätzung der arbeitsbezogenen psychischen Belastungen hinaus liegt eine zweite Besonderheit der GPB darin, dass so genannte kritische Kombinationen psychischer Belastungen ermittelt werden. Mithilfe eines EDV-gestützten Tools werden zunächst die Mittelwerte aller Belastungsdimensionen berechnet. Kritische Kombinationen psychischer Belastungen liegen vor, wenn entsprechende Grenzwerte ( 3,5 bei Anforderungen;  2,5 bei Ressourcen) über- oder unterschritten sind. Eine kritische Belastungskombination ergibt sich beispielweise aus einem hohen Verantwortungsumfang (Mittelwert  3,5) bei gleichzeitig geringem Zeitspielraum (Mittelwert  2,5).  Abbildung 1 zeigt ein Beispiel einer Auswertungsmatrix möglicher kritischer Kombinationen psychischer Belastungen.

Erfahrungen aus der Praxis

Die GPB wurde und wird in mehreren (Groß-)Unternehmen verschiedener Branchen angewendet.  Tabelle 2 gibt einen Überblick über die häufigsten kritischen Kombinationen psychischer Belastungen, basierend auf einer Stichprobe von 161 Tätigkeiten in acht Unternehmen, in denen eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen mittels der GPB durchgeführt wurde.

Branchenübergreifend zeigen sich in dieser Stichprobe die häufigsten kritischen Kombinationen psychischer Belastungen bei dem Zusammenspiel geringer Variabilität mit geringer Arbeitskomplexität beziehungsweise geringem Handlungsspielraum (s. Tabelle 2). Diese Kombinationen beziehen sich primär auf sich wiederholende Routineaufgaben, hinweisend auf eine erlebte Monotonie bei der Ausübung der Tätigkeit. Betroffen sind sowohl Tätigkeiten der Produktion als auch Tätigkeiten der Verwaltung bzw. Dienstleistung. Das Risiko einer erlebten arbeitsbezogenen Überforderung spiegelt sich im Gegensatz dazu hauptsächlich in den Kombination von hoher Verantwortung, hohen Kooperationserfordernissen, geringem Zeitspielraum und geringem Handlungsspielraum wider.

Ableitung von Maßnahmen für eine gesunderhaltende Arbeitsgestaltung

Für den Prozess einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist von besonderer Bedeutung, dass nicht ausschließlich potenzielle Gefährdungen erfasst, sondern insbesondere auch geeignet Maßnahmen zur Reduktion solcher Gefährdungen abgeleitet werden. Im Rahmen der GPB knüpfen moderierte Workshops mit allen Beteiligten (Analyseteam sowie Fach- und Führungskräfte der beurteilten Tätigkeit) an die Erfassung der kritischen Kombinationen psychischer Belastungen an: Basierend auf den Erkenntnissen des Analyseteams werden geeignete Maßnahmen abgeleitet und verbindlich festgehalten. Berücksichtigt werden dabei sowohl technische als auch organisatorische und personelle Maßnahmen (Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention).

Die Erfahrungen in der Anwendung der GPB zeigen, dass primär ganzheitliche Aufgaben und Prozesse einen wichtigen Beitrag zu einer gesunderhaltenden Arbeitsgestaltung leisten können. Eine solche Ausgestaltung der Arbeit soll einerseits die Gesundheit der Beschäftigten langfristig stärken sowie andererseits den organisationalen Erfolg nachhaltig steigern, indem psychische Belastungen am Arbeitsplatz reduziert bzw. vermieden werden.

Fazit und Ausblick

Die GPB ist ein bewährtes Verfahren für eine umfassende Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz und kann branchenübergreifend erfolgreich eingesetzt werden. Es werden nicht lediglich negativ auffallende Belastungen identifiziert, sondern darüber hinaus gezielt adäquate Maßnahmen für die Reduktion der ermittelten Belastungen definiert.

Aktuell wird die GPB für einen zeit- und aufwandsökonomischen Einsatz in kleinen und mittleren Unternehmen angepasst. Dies ist von besonderer Relevanz, da kleinen und mittleren Unternehmen oftmals begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen für eine Gefährdungsbeurteilung (psychischer Belastungen) zur Verfügung stehen. Durch eine entsprechende Optimierung der GPB sollen die Spezifika kleinerer Unternehmen verstärkt berücksichtigt werden. Die Anpassung erfolgt im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes „Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen“ (s. „Weitere Infos“).

Literatur

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung – Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin: Erich Schmidt, 2014.

GDA-Arbeitsprogramm Psyche: Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, 2. Aufl . Berlin: GDA-Arbeitsprogramm Psyche, 2016.

Karasek RA: Job demands, job decision latitude, and mental strain: Implications for job redesign. Adm Sci Q 1979; 24: 285–306.

Lohman-Haislah A: Stressreport Deutschland 2012 – Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2013.

Rau R, Buyken D: Der aktuelle Kenntnisstand über Erkrankungsrisiken durch psychische Arbeitsbelastungen: Ein systematisches Review über Metaanalysen und Reviews. Z Arbeits- und Organisationspsychol 2015; 59: 113–129.

Richter G: Toolbox Version 1.2. Instrumente zur Erfassung psychischer Belastungen. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2010.

Sonntag Kh, Turgut S, Feldmann E: Arbeitsbedingte Belastungen erkennen, Stress reduzieren, Wohlbefinden ermöglichen: Ressourcenorientierte Gesundheitsförderung. In Kh. Sonntag (Hrsg.), Personalentwicklung in Organisationen: Psychologische Grundlagen, Methoden und Strategien, 4. Aufl.). Göttingen: Hogrefe, 2016, S. 411–453.

    Info

    Auszug aus dem Arbeitsschutzgesetz (§ 5 ArbSchG)

    (1) Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.

    (2) Der Arbeitgeber hat die Beurteilung je nach Art der Tätigkeiten vorzunehmen. Bei gleichartigen Arbeitsbedingungen ist die Beurteilung eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreichend.

    (3) Eine Gefährdung kann sich insbesondere ergeben durch […] psychische Belastungen bei der Arbeit.

    Weitere Infos

    Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Psychische Belastung

    https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitsgestaltung-im-Betrieb/Psychische-Belastung/_functions/BereichsPublikationssuche_Formular.html?nn=8580646

    Projekt „Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen“

    gesundearbeit-mega.de/

    Für die Autoren

    Prof. Dr. phil. Karlheinz Sonntag

    Arbeits- und Organisationspsychologie

    Universität Heidelberg

    Hauptstraße 47–51

    69117 Heidelberg

    karlheinz.sonntag@psychologie.uni-heidelberg.de

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