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Matthias Fabra in ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2017; 52: 278–289

“Ist die Musikerdystonie wirklich eine Berufskrankheit?“

Diskussionsbeitrag

Herr Dr. Fabra, Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut in einer Hamburger Gutachtenpraxis, schildert seine bisherige Sichtweise der Musikerdystonie als im Wesentlichen auf genetischen und psychischen Faktoren basierende Störung, bei der die feinmotorische Tätigkeit hoher Intensität naturwissenschaftlich und rechtlich eher nachrangig sei.

Durch den Aufsatz zieht sich allerdings die gedankliche Vermengung der Prüfschritte

  • zur Entwicklung neuer Berufskrankheiten mit denjenigen
  • für die Bejahung einer Berufskrankheit im Einzelfall.

Größtenteils legt Herr Dr. Fabra die Prüfschritte b) für die Fragestellung a) an, hier sehe ich den zentralen Denkfehler.

Sowohl im Abschlussbericht unseres DGUV-Forschungsvorhabens (Rozanski et al. 2014) als auch in der Publikation Rozanski et al. (2015) wie auch in der wissenschaftlichen Begründung (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2016) wurden die Themen „Genetik“ und „Psyche“ mit Literaturzitaten und Bewertung kritisch abgehandelt – es handelt sich um wichtige Aspekte, die jedoch die Kausalität der feinmotorischen Tätigkeit hoher Intensität bei Berufsmusikern nicht im Entferntesten in den Hintergrund treten lassen. Auch bei anderen Berufskrankheiten können genetische und psychische Faktoren eine Rolle spielen, man denke beispielsweise an allergische obstruktive Atemwegserkrankungen (als BK 4301) oder an Handekzeme (als BK 5101), und auch bei vielen anderen Berufskrankheiten erkrankt glücklicherweise nur ein gewisser Prozentsatz gleichartig exponierter Versicherter, ohne dass wir wissen, warum. Prädispositionen spielen bei praktisch allen Berufskrankheiten eine Rolle. Die „Anlage“ ist jedoch mitversichert, die versicherte Tätigkeit darf im Kausalitätsgefüge keine alleinige Gelegenheitsursache sein.

Die Einschätzung von Herrn Dr. Fabra, dass „die Veranlagung und vor allem die charakterliche Neigung eines Menschen, sich für eine Tätigkeit als Profimusiker zu entscheiden, bei solchen Menschen, die gleichzeitig zur Entwicklung einer Dystonie prädisponiert sind, erhöht zu sein scheint“, ist eine gewagte, kreative, querdenkerische, durchaus interessante, aber auch zynische, durch absolut nichts gestützte Privat-Hypothese, die möglicherweise durch künftige Studien, auf die ich gespannt bin, zu prüfen sein wird.

Nach Tätigwerden des Verordnungsgebers im Sinne der neuen Berufskrankheit würde eine generell ablehnende gutachterliche Einschätzung mit von Herrn Dr. Fabra vorstehend skizzierter Argumentation nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens entsprechen – seine Sichtweise ist schlichtweg durch neue Fakten überholt.

Dennis Nowak, München

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Berufskrankheiten-Verordnung, Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten“, Bek. des BMAS vom 1.7.2016, – IVa 4-45222 – Fokale Dystonie.

Rozanski V, Rehfuess E, Bötzel K, Nowak D: Trägt intensives Musizieren wesentlich zur Pathogenese der fokalen aufgabenspezifischen Dystonie des professionellen Musikers bei? Ein systematischer Review. BMAS Forschungsdatenbank, DGUV, 2014 (www.dguv.de/Forschung/Projektverzeichnis/FF-FB0202.jsp).

Rozanski VE, Rehfuess E, Bötzel K, Nowak D: Aufgabenspezifische Dystonie bei professionellen Musikern. Dtsch Ärztebl Int 2015; 112: 871–877.

Replik des Autors

Herrn Professor Nowak gebührt Dank dafür, dass er in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Mitautor innerhalb des DGUV-Forschungsprojektes FB-0202 noch einmal in die Diskussion zur Frage der Musikerdystonie als Berufskrankheit eintritt. Die von ihm vorgetragenen Einwendungen werden allerdings für kaum tragfähig erachtet:

Natürlich ist die Frage, ob ein Störungsbild infolge einer durch berufliche Tätigkeit einwirkenden Noxe entsteht – und damit Berufskrankheit (BK) wird –, medizinisch anhand genau der Maßstäbe (Becker 2007b, 2010a; Bultmann u. Fabra 2009) zu beantworten, wie sie später im individuellen Fall – also wenn die Verwaltung vor der Frage steht, ob die Dystonie eines Musikers als BK anzuerkennen sei oder nicht – anzuwenden sind. Andernfalls würde man eine BK einführen, die bei einer Einzelprüfung in keinem einzigen Fall anerkannt werde könnte. Dies wäre widersinnig. Auch Herr Professor Nowak bejaht im Übrigen die Notwendigkeit der Prüfschritte „einfache Kausalität“ gefolgt von „Kausalität der wesentlichen Bedingung“ innerhalb der von ihm mitverantworteten Studie: Er legt nämlich – zu Recht – an späterer Stelle seiner Leserzuschrift dar, die „versicherte Tätigkeit [dürfe] … im Kausalitätsgefüge keine alleinige Gelegenheitsursache sein“, um eine BK herbeiführen zu können. Hier hätte man sich in der von ihm mitverantworteten Studie eine von Anfang an saubere schrittweise Beweisführung gewünscht.

Die von Herrn Professor Nowak behaupteten „neuen Fakten“, infolge derer die in meinem Aufsatz vorgetragene „Sichtweise … schlichtweg überholt“ sei, halten einer kritischen Überprüfung meines Erachtens nicht stand. Das DGUV-Forschungsprojekt FB-0202 umfasst ja keine eigene Empirie, sondern stützt sich auf eine sehr umfassende und sorgfältige Literaturrecherche, die anhand der Kausalitätskriterien nach Sir Bradford Hill (1965) bewertet wurde. Genau dies habe ich auch in meinem Aufsatz versucht, allerdings mit begründet abweichendem Ausgang. Die bewerteten „Fakten“, wie sie sich aus der großenteils überschneidenden Literatur ergeben, sind dieselben, lediglich ist die von den Autoren des DGUV-Forschungsprojektes FB-0202 daraus hergeleitete nahezu bedingungslose Empfehlung der Anerkenntnis der Musikerdystonie als BK damit nicht zu begründen.

Zu den einzelnen Punkten würde ich mir eine differenziertere inhaltliche Auseinandersetzung mit den Autoren der Studie wünschen, die allerdings die Möglichkeiten einer Leserzuschrift überschritten hätte.

Matthias Fabra, Hamburg

Die Literaturangaben beziehen sich auf das Literaturverzeichnis des Aufsatzes.

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