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Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit

Allgemeines Vorsorgeprogramm in einem Großunternehmen

Um Mitarbeitern ein umfassendes Bild ihres gegenwärtigen Gesundheits- und Fitnesszustandes zu geben und um sie auch unabhängig von tätigkeitsbezogenen Risiken individuell beraten zu können, wird allen Beschäftigten der AUDI AG in regelmäßigen Abständen das Angebot unterbreitet, auf freiwilliger Basis während der bezahlten Anwesenheit an einem allgemeinen Vorsorgeprogramm („Audi Check-up“) teilzunehmen.

Alle relevanten Befunde werden schließlich in einem Beratungsgespräch zwischen Proband und Arbeitsmediziner erörtert, ggf. bestehende medizinische Handlungsfelder angesprochen und mögliche Lösungsstrategien aufgezeigt. Das Präventionsprogramm wird von der Belegschaft sehr geschätzt, was sich in einer Teilnahmequote von ca. 90 % widerspiegelt.

Neben oben beschriebenem Präventionsprogramm führt das Gesundheitswesen der AUDI AG auch Eignungsuntersuchungen auf Basis einer Betriebsvereinbarung sowie Vorsorgeanlässe nach den Vorgaben der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) durch.

Lärm als häufiger physikalischer Belastungsfaktor

Aufgrund der Tatsache, dass Lärm ein in zahlreichen Berufszweigen vorkommender physikalischer Belastungsfaktor ist, stellt die Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) bundesweit eine der häufigsten angezeigten Berufskrankheiten dar (12 321 Anzeigen im Jahr 2015) und ist Spitzenreiter unter den BK-Anerkennungen (6408 Anerkennungen im Jahr 2015; s. „Weitere Infos).

Auch in der Automobilindustrie kann an verschiedenen Arbeitsplätzen trotz technischer und/oder organisatorischer Maßnahmen eine berufliche Lärmexposition bestehen. Dieser Tatsache ist auch geschuldet, dass Lärmangebots- und Pflichtvorsorgen beim Audi-Gesundheitsschutz häufige Vorsorgeanlässe darstellen (z. B. aufgrund verschiedener Tätigkeiten im Presswerk, Werkzeugbau etc.). So wurden im Zeitraum 2010–2015 insgesamt 2463 Lärmvorsorgen durch den Audi-Gesundheitsschutz Ingolstadt durchgeführt. Die Lärmvorsorge erfolgt auf Basis einer tätigkeitsbezogenen Gefährdungsbeurteilung (i. d. R. mit Bestimmung der jeweiligen Tageslärmexpositionspegel und Spitzenschalldruckpegel). Praktisch bzw. inhaltlich orientiert sich der Audi-Gesundheitsschutz an den DGUV-Empfehlungen G20 für arbeitsmedizinische Untersuchungen. Bezüglich der Untersuchungsintervalle werden die Vorgaben der AMR 2.1 „Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge“ umgesetzt.

Daneben sind bei der AUDI AG auch zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt, die bei Audi zwar in einem „lärmfreien“ Arbeitsumfeld agieren (Tageslärmexpositions- bzw. Spitzenschalldruckpegel unterschreitet den unteren Auslösewert), aber bei früheren Arbeitgebern lärmintensive Tätigkeiten ausübten (z. B. gelernte Schreiner, Bauarbeiter, Schlosser etc.). Bei diesen Mitarbeitern ist es oftmals ungeklärt, ob sie während ihrer früheren Lärmexposition eine arbeitsmedizinische Vorsorge erhielten. Für sie – wie auch für alle anderen in der Vergangenheit beruflich lärmexponierten Audi-Mitarbeiter – ermöglicht der Audi-Check-up, der u. a. eine Tonaudiometrie in Luftleitung beinhaltet, die nachträgliche Erfassung eines relevanten Hörverlustes nach früherer beruflicher Lärmexposition.

Prozesse bei lärmtypischen Tonaudiometrieveränderungen im Audi Check-up

Sofern sich in der Tonaudiometrie des Check-ups das Bild einer möglichen Lärmschädigung (Symmetrie, c5-Senke, Grenzwertüberschreitung) ergibt, wird der Proband bezüglich möglicher früherer beruflicher Lärmexposition befragt. Wenn sich aus der Berufsanamnese der Verdacht erhärten lässt, dass ein beruflich verursachter Hörschaden vorliegen könnte, erfolgt zusätzlich die tonaudiometrische Bestimmung der Luft- und Knochenleitung (Testfrequenzen 0,5–6 kHz) inklusive otoskopischer Untersuchung zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung eines Innenohr-/Mittelohrschadens. Für diese Ergänzungsuntersuchung erhält der Proband i. d. R. einen neuen Termin zu Arbeits-/Schichtbeginn, um zu vermeiden, dass das Untersuchungsergebnis durch vorherige Lärmexposition mit Ermüdung der äußeren Haarzellen („Temporary Threshold Shift“) verfälscht wird.

In jenen Fällen, in denen die Lärmexposition anamnestisch in einer früheren Tätigkeit bei der AUDI AG stattgefunden hatte, wird die Exposition durch Einholung von Messwerten (Audi-interner Lärmkataster) in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit eruiert bzw. plausibilisiert.

Sofern sich unter Würdigung der erhobenen Befunde, der Berufsanamnese und der ermittelten/abgeschätzten Lärmexposition der begründete Verdacht auf eine Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) ergibt, wird durch den Arbeitsmediziner schließlich eine Verdachtsanzeige gestellt.

Beitrag des Audi Check-ups zur Erkennung der BK 2301

Durch eine systematische Auswertung aller vom Audi-Gesundheitsschutz Ingolstadt im Zeitraum 2010 bis 2015 gestellter Verdachtsanzeigen wurde ermittelt, welcher Anteil der Anzeigen BK 2301 …

  • … aufgrund einer Lärmvorsorge (Angebots- oder Pflichtvorsorge) erfolgte. Darunter wird verstanden, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Verdachtsanzeige eine Tätigkeit im Lärmangebots-/-pflichtbereich ausübte und im Hörtest der arbeitsmedizinischen Angebots-/Pflichtvorsorge lärmtypische, anzeigewürdige Veränderungen auffielen.
  • … nicht in Zusammenhang mit einer Lärmvorsorge stand. Die BK-Verdachtsanzeige wurde entweder als Folge sonstiger Untersuchungen (z. B. Eignungsuntersuchung bei Staplertätigkeit) oder aufgrund eines Audi Check-ups gestellt. Letztere Subgruppe wurde wiederum unterteilt in Betroffene, die …
  • … während der Beschäftigung bei der AUDI AG zu keinem Zeitpunkt eine Lärmvorsorge erhalten hatten. Die beruflich verursachte mögliche Lärmschädigung fand also z. B. bei einem vorherigen Arbeitgeber statt.
  • … in früheren Jahren bei der AUDI AG zwar eine Lärmvorsorge erhalten hatten. Zum Zeitpunkt der damaligen Lärmvorsorge zeigten sich im Hörtest aber keine anzeigewürdigen Veränderungen.

In den Jahren 2010 bis 2015 wurden durch den Audi-Gesundheitsschutz Ingolstadt bei 30.375 Beschäftigten Audi-Check-ups sowie bei 2463 Mitarbeitern Lärmvorsorgen durchgeführt.

Im betrachteten Zeitraum wurden 242 Verdachtsanzeigen auf BK Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) gestellt und davon 166 Fälle anerkannt bzw. 55 Fälle abgelehnt.

In 19 Fällen wurde das BK-Ermittlungsverfahren aufgrund einer fehlenden Mitwirkung bzw. auf Wunsch des Probanden eingestellt. Zwei Verfahren sind zum Zeitpunkt der Verfassung des Artikels immer noch nicht abgeschlossen.

Aus  Abb. 1 ist erkennbar, dass im betrachteten Zeitraum 23 % (absolut: 56) der gestellten BK-Verdachtsanzeigen aufgrund/im Rahmen einer Lärmvorsorge erfolgten. Umgekehrt betrug der Anteil der Verdachtsanzeigen, die aufgrund im Audi-Check-up aufgefallener suspekter Audiometrieveränderungen gestellt wurden, in Summe 58 % (absolut: 141).

Aus  Abb. 2 ist die Verteilung der Anerkennungen/Ablehnungen nach dem Auslöser für die jeweilige Verdachtsanzeige (arbeitsmedizinische Vorsorge vs. Audi Check-up vs. „sonstige Untersuchungen“) ersichtlich. Es wird deutlich, dass der Anteil der Anerkennungen in allen vier Subgruppen (sehr) hoch ist. Der Anerkennungsanteil (Verhältnis Anerkennungen zu gestellten Anzeigen) liegt dabei in drei von vier Subgruppen deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt von ca. 52 % für die BK 2301 (vgl. Bericht zur „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2015“ zum bundesweiten Anzeigengeschehen für BK 2301: 12 321 Verdachtsanzeigen stehen hier 6408 Anerkennungen gegenüber; s. „Weitere Infos“).

Gleichzeitig ist das Verhältnis von Anerkennungen zu Ablehnungen insbesondere bei den beiden Subgruppen

  • BK-Verdachtsanzeige aufgrund einer Lärmvorsorge und
  • BK-Verdachtsanzeige aufgrund eines Audi-Check-ups (Proband erhielt früher eine Lärmvorsorge)

nahezu gleich (erster und zweiter Balken in Abb. 2).

Diskussion und Zusammenfassung

In unseren Auswertungen fällt der hohe Anteil an Probanden auf, bei denen trotz in der Vergangenheit stattgefundener Lärmvorsorge erst zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen des Audi Check-ups eine BK-Verdachtsanzeige erfolgte.

Ursächlich hierfür dürfte v.a. eine historisch starke Orientierung an der VDI-Richtlinie 2058 Blatt 2 sein. Diese definiert den lärmbedingten Gehörschaden als Hörminderung mit den audiometrisch nachweisbaren Merkmalen eines Haarzellschadens, die bei 3 kHz 40 dB überschreiten. Nach einer höchstrichterlichen Rechtsprechung (Bundessozialgericht (BSG), Az. 2 RU 54/88 vom 27. Juli 1989) erfüllt aber jede Einschränkung des Hörvermögens die medizinischen Voraussetzungen des BK-Tatbestandes. Die erforderlichen Anpassungen im Hinblick auf die Kriterien für die Erstattung einer BK-Verdachtsanzeige Lärm wurden jedoch erst in den Jahren

  • 2008 durch eine Neufassung des Merkblattes zu der Berufskrankheit Nr. 2301 und
  • 2012 in der Neufassung der von der DGUV herausgegebenen Königsteiner Empfehlungen nachvollzogen.

Im neu gefassten Merkblatt findet sich jetzt folgender Hinweis zur Anzeigepflicht: „Der Verdacht auf eine anzeigepflichtige Lärmschwerhörigkeit ist begründet, wenn Versicherte eine Reihe von Jahren unter Lärmbedingungen gearbeitet haben […] und die messbare Hörfunktionsstörung dem Bilde einer lärmbedingten Innenohrschwerhörigkeit entspricht. Ein bestimmtes Ausmaß der Hörminderungen ist nicht Voraussetzung für die Verdachtsanzeige.“

Mit erklärend für unser Ergebnis könnte aber auch die Tatsache sein, dass bei allem Bemühen der betrieblichen Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz verschiedene Gründe denkbar sind, warum Beschäftigte trotz beruflicher Lärmexposition fälschlicherweise nicht zur Lärmvorsorge angemeldet sein können, z. B.

  • bis dato fehlende Erfassung von Arbeitsplätzen als Lärmangebots-/-pflichtbereich im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung;
  • versehentlich ausgebliebene Anmeldung des Beschäftigten zur arbeitsmedizinischen Angebots-/Pflichtvorsorge durch die betriebliche Führungskraft.

Weiterhin zeigen unsere Auswertungen, dass der Anerkennungsanteil bei Beschäftigten, die bei der AUDI AG zu keinem Zeitpunkt eine Lärmvorsorge erhalten hatten (Lärmexposition z. B. bei einem früheren Arbeitgeber), im Vergleich zu Mitarbeitern, die bei der AUDI AG aktuell oder zu einem früheren Zeitpunkt eine Lärmvorsorge erhielten (Gruppe 1 und 2 in Abb. 2), niedriger ist.

Dies dürfte sich im Wesentlichen dadurch erklären, dass in erstgenannter Subgruppe nur eine grobe Abschätzung der Arbeitsverhältnisse bzw. Lärmexposition bei dem früheren Arbeitgeber möglich ist und erst zu einem späteren Zeitpunkt des BK-Verfahrens (nach den Ermittlungen des technischen Aufsichtsdienstes) begutachtet wird, ob eine haftungsbegründende Kausalität für die BK-Anerkennung gegeben ist. Dennoch ist auch in dieser Gruppe der Anerkennungsanteil relativ hoch und entspricht nahezu dem bundesweiten Durchschnitt von ca. 52 % für das Berichtsjahr 2015 (s. „Weitere Infos“).

Als Fazit lässt sich festhalten, dass unsere Auswertungen mit 242 Verdachtsanzeigen im Vergleich zum bundesweiten Berufskrankheitengeschehen zwar auf einer relativ geringen Fallzahl basieren. Gleichzeitig ist unsere Analyse aber ein gutes Beispiel für ein allgemeines Vorsorgeprogramm, in dem man mögliche Hinweise auf lärmtypische Audiometrieveränderungen erhalten kann, um bei passender Berufsanamnese eine Verdachtsanzeige auf BK 2301 mit hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit zu stellen.

    Weitere Infos

    Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2015, Unfallverhütungsbericht Arbeit, Bundesministerium für Arbeit und Soziales

    www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/Suga-2015.html;jsessionid=BD23A41F2735DE68152039F244ECEF48.s2t1

    Für die Autoren

    Dr. med. Andreas Breibeck

    Facharzt für Arbeitsmedizin

    AUDI AG – Gesundheitszentrum Ingolstadt Süd

    I/SW-1 – 85045 Ingolstadt

    andreas.breibeck@audi.de

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