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Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15

Haftung der Berufsgenossenschaft für Erstversorgungsfehler

Ausgangsproblematik

Der Kläger wurde nach dem Arbeitsunfall in das W.-Krankenhaus eingeliefert und dort von einer Ärztin, durch die sich der Chefarzt in seiner Funktion als Durchgangsarzt (D-Arzt) vertreten ließ, untersucht und erstbehandelt. Im D-Arztbericht wurde nach Fertigung von Röntgenaufnahmen die Erstdiagnose „Prellung der Brustwirbelsäule“ notiert, die Erstversorgung erfolgte „symptomatisch“ und als Art der Heilbehandlung wurde „allgemeine Heilbehandlung durch anderen Arzt“ angeordnet. Der Kläger wurde als „arbeitsfähig“ entlassen. Erst bei der Vorstellung 9 Tage später bei einem anderen D-Arzt wurde eine Fraktur des ersten Lendenwirbels mit Hinterkantenbeteiligung erkannt. Der Kläger wurde operiert und erhielt wegen der nach Arbeitsfähigkeit verbliebenen Unfallfolgen eine vorläufige Erwerbsminderungsrente von 20 v. H. für ca. 2,5 Jahre.

Der Kläger macht geltend, der behandelnden Ärztin sei am Unfalltag ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil sie eine Fraktur nicht erkannt habe. Die Fraktur hätte durch Ruhigstellung ohne Operation ausheilen können. Folgen seien dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit und Minderbeweglichkeit der Wirbelsäule. Er verlangt Schadensersatz von dem Chefarzt des W.-Krankenhauses, weil er als D-Arzt und Chefarzt für die Fehlbehandlung bei der Eingangsdiagnose und Erstversorgung verantwortlich sei.

Die Klage war in allen drei Instanzen erfolglos, weil der Kläger seine Schadensersatzansprüche gegenüber dem falschen Beklagten geltend gemacht hatte. Der Bundesgerichtshof (BGH) stellte letztinstanzlich fest, für die behauptete Pflichtverletzung haftet nicht der beklagte D-Arzt persönlich. Vielmehr sei mit Amtshaftungsansprüchen gem. Art. 34 GG iVm § 839 BGB die Berufsgenossenschaft in Anspruch zu nehmen. D-Ärzte handelten bei ihrer Entscheidung, ob und in welcher Weise ein Verletzter in die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung übernommen werden soll, in Ausübung eines öffentlichen Amtes im Verantwortungsbereich der Berufsgenossenschaft. Dazu zähle auch die Untersuchung zur Diagnosestellung, die Erstdiagnose sowie die Überwachung des Heilerfolgs.

Heilbehandlung keine Ausübung öffentlichen Rechts

Der BGH stellt zunächst klar, dass grundsätzlich die Behandlung nach einem Arbeitsunfall nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG erfolge. Die ärztliche Behandlung sei keine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe, da die Heilbehandlung als solche keine der Berufsgenossenschaft obliegende Pflicht darstelle. Der Arzt, der die Heilbehandlung durchführe, übe deshalb kein öffentliches Amt aus und haftet für Fehler persönlich.

Die Tätigkeit eines D-Arztes werde jedoch nicht in vollem Umfang dem Privatrecht zugeordnet. Ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich sei, entscheide grundsätzlich der D-Arzt nach Art und Schwere der Verletzung. Bei dieser Entscheidung erfülle er eine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe und übe damit ein öffentliches Amt aus. Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der Verletzte dadurch geschädigt, haftet für Schäden in diesem Fall nach ständiger Rechtsprechung des Senates nicht der D-Arzt persönlich, sondern die Berufsgenossenschaft nach Art. 34 Satz 1 GG iVm § 839 BGB. Dies gelte auch, soweit die Überwachung des Heilerfolgs lediglich als Grundlage der Entscheidung diene, ob der Verletzte in der allgemeinen Heilbehandlung verbleibt oder in die besondere Heilbehandlung überwiesen werden soll.

Diagnosestellung als öffentliches Amt?

Die Frage, ob der D-Arzt auch bei der Untersuchung zur Diagnosestellung und bei der Diagnosestellung ein öffentliches Amt ausübe, sei aber höchstrichterlich bisher nicht geklärt.

In der obergerichtlichen Rechtsprechung werde bei der Einordnung eines Diagnosefehlers teilweise angenommen, dass sich die Pflichten des D-Arztes bei der Ausübung seines öffentlichen Amtes mit denen aus einem privatrechtlichen Behandlungsvertrag mit dem Patienten überschneiden („doppelte Zielrichtung“). Danach sei es für die Frage der Haftung entscheidend, in welchem Bereich sich der Fehler bei der Untersuchung auswirke. Komme es aufgrund dessen zu einer fehlerhaften Entscheidung der Frage, ob eine besondere Heilbehandlung einzuleiten sei, und werde der Patient dadurch geschädigt, so sei die Tätigkeit des D-Arztes als hoheitlich zu qualifizieren und es hafte der Unfallversicherungsträger. Wirke sich der Diagnosefehler hingegen so aus, dass es zu einer unsachgemäßen Heilbehandlung durch den D-Arzt komme, so hafte er persönlich nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen.

In der Literatur werde teilweise die Auffassung vertreten, der gesetzliche Unfallversicherungsträger sei nur verpflichtet, das durchgangsärztliche Verfahren zu organisieren und zur Verfügung zu stellen. Er habe keine gesetzliche Verpflichtung, den jeweiligen Versicherten selbst zu untersuchen, sondern schulde nur eine unfallmedizinische Versorgung im Sinne des Vorhaltens einer entsprechenden Infrastruktur. Hierfür sei das D-Arztverfahren eingeführt worden, das sicherstellen solle, dass die Unfallverletzten im Regelfall von einem besonders qualifizierten und sachlich ausgestatteten Arzt untersucht würden. Sowohl Diagnose als auch Befunderhebung seien elementare ärztliche Aufgaben, die nicht zu einer öffentlichen Aufgabe würden. Daher komme eine Haftung des gesetzlichen Unfallversicherungsträgers allenfalls in Betracht, wenn die Fehler sich in der Weise auswirkten, dass der Verletzte aufgrund seiner Verletzungen nicht einer adäquaten Form der Heilbehandlung zugeführt werde. Der Arzt hafte mithin für Fehler bei der Untersuchung zur Diagnosestellung und bei der Diagnosestellung stets persönlich.

Andere Auffassungen bejahen eine Haftung der Berufsgenossenschaft für die Folgen eines Diagnosefehlers dann, wenn die Diagnose der Entscheidung des Arztes diene, ob die besondere Heilbehandlung einzuleiten sei, und sich dieser Fehler in der weiteren Behandlung fortsetzt. Eine einheitliche Aufgabe dürfe nicht in haftungsrechtlich unterschiedlich zu beurteilende Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden. Dies gelte auch dann, wenn der Diagnosefehler sich in der weiteren Behandlung durch den D-Arzt selbst fortsetze. Auch in diesem Fall stelle die Behandlung eine Folge der öffentlich-rechtlichen Fehldiagnose dar und bleibe dem öffentlich-rechtlichen Bereich zuzuordnen. Die D-ärztliche Untersuchung mit anschließender Diagnosestellung sei unabdingbarer und damit auch „inhaltlicher“ Teil der öffentlich-rechtlich geprägten Entscheidung des D-Arztes über die weitere Heilbehandlung. Eine haftungsrechtliche Aufspaltung dieses einheitlichen Entscheidungsvorgangs sei weder interessengerecht noch rechtlich überzeugend. Aufgrund des inneren Zusammenhangs mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung müssten die dafür geltenden Grundsätze auch für die zur Entscheidung führenden Untersuchungen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung selbst gelten.

Pflichtaufgaben der Berufsgenossenschaft

Der letztgenannten Auffassung gibt der BGH den Vorzug. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger bei der Durchführung der Heilbehandlung alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung sowie, soweit erforderlich, eine besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird. Schon dies spreche dafür, nicht nur die Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, sondern auch die sie vorbereitenden Maßnahmen als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten. Maßgeblich für eine solche Zuordnung seien aber inhaltliche Überlegungen. Durchgangsärztliche Untersuchungen, insbesondere notwendige Befunderhebungen zur Stellung der richtigen Diagnose und die anschließende Diagnosestellung, sind regelmäßig unabdingbare Voraussetzungen für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Ein Fehler in diesem Stadium würde regelmäßig der Vorgabe des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII entgegenstehen, eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Mithin bilden die Befunderhebung und die Diagnosestellung die Grundlage für die der Berufsgenossenschaft obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist.

Dies werde auch im Streitfall daran deutlich, dass der Kläger aufgrund der ersten fehlerhaften Diagnose als arbeitsfähig angesehen und erst nach der Entscheidung des anderen D-Arztes in die dortige unfallchirurgische Klinik aufgenommen und später operiert wurde. Die Befunderhebung im Rahmen der Eingangsuntersuchung und die zunächst gestellte Diagnose hätten sich notwendigerweise auch dahingehend ausgewirkt, dass die Notwendigkeit der Operation und die Erforderlichkeit einer besonderen Heilbehandlung verneint wurden.

Innerer Zusammenhang zwischen Diagnosestellung und Behandlung

In Anbetracht des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs zwischen der Diagnosestellung, den sie vorbereitenden Maßnahmen und der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung seien jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des D-Arztes zuzuordnen. Indem die richtige Diagnose zugleich eine Bedeutung für die spätere Heilbehandlung haben kann, wäre es eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs, wenn man diese Maßnahmen je nach Sachverhalt als öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich einstufen würde. Im Hinblick darauf, dass die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung durch den D-Arzt in erster Linie zur Erfüllung seiner sich aus dem öffentlichen Amt ergebenden Pflichten vorgenommen würden, seien auch diese Maßnahmen diesem Amt zuzuordnen, mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften. Soweit aus der Rechtsprechung des Senats zur „doppelten Zielrichtung“ etwas anderes abgeleitet werden könne, halte der Senat daran für die vorbereitenden Maßnahmen zur Diagnosestellung und die Diagnosestellung nicht fest. Auf Anfrage habe auch der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mitgeteilt, dass er eine etwaig abweichende Auffassung aufgebe.

Öffentliche Funktion bei Erstversorgung des Unfallverletzten

Mit ähnlicher Begründung revidiert der BGH seine bisherige Auffassung, wonach der Durchgangsarzt für ein fehlerhaftes „Wie“ der Erstversorgung von Unfallverletzungen aus dem privatrechtlichen Behandlungsvertrag persönlich haften sollte. Unter Beachtung des gesetzlichen Auftrags der Berufsgenossenschaften und dessen Umsetzung im Ärztevertrag sei die Erstversorgung durch den D-Arzt ebenfalls der Ausübung des öffentlichen Amtes zuzurechnen.

Wie oben ausgeführt, haben die Unfallversicherungsträger gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VII alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung sowie ggf. eine besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird. Dabei handele es sich um eine öffentlich-rechtliche Pflicht, deren Umsetzung in dem Vertrag zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und der kassenärztlichen Bundesvereinigung (Vertrag gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII) geregelt werde, der entsprechend § 27 Abs. 1 SGB VII insbesondere die Erstversorgung umfasse.

Das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren werde beherrscht von dem Grundsatz, möglichst bei den Verletzungsfolgen, die eine fachärztliche Versorgung erfordern, in unmittelbarem zeitlichem Anschluss an den Unfall eine Versorgung durch den besonders qualifizierten D-Arzt sicherzustellen. Deshalb werde der Verletzte verpflichtet, zunächst zum D-Arzt zu gehen, der entscheiden muss, welche Art der Weiterbehandlung erfolgen soll und der die sofort notwendige Erstversorgung durchzuführen hat. Beides habe seine Grundlage in der Verpflichtung der Berufsgenossenschaften, eine schnelle und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Da der D-Arzt regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig werde, seien bei dieser Tätigkeit unterlaufende Behandlungsfehler der Berufsgenossenschaft zuzurechnen. Denn diese Tätigkeiten gingen ineinander über, können nicht sinnvoll auseinander gehalten werden und stellen auch aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespaltet werden kann.

Dem stehe nicht entgegen, dass die ärztliche Heilbehandlung regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG ist. Die Erstversorgung wird in § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII getrennt von der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung aufgeführt. Dies gilt auch für die §§ 6, 9, 10, 11 des Ärztevertrags, wonach bei Arbeitsunfällen die Heilbehandlung als allgemeine Heilbehandlung oder als besondere Heilbehandlung durchgeführt und die Erstversorgung davon unterschieden wird. Dies ist ein Indiz, dass an die Erstversorgung andere Rechtsfolgen geknüpft werden können als an die nachfolgenden ärztlichen Behandlungen. Die Betrachtung der von dem D-Arzt zu treffenden Erstmaßnahmen als einheitlichen Lebensvorgang vermeide die in der Praxis beklagten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Passivlegitimation. Denn in dem Durchgangsarztbericht dokumentiert der D-Arzt selbst die „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt) “.

Schlussbemerkung

Mit der vorliegenden Entscheidung entspricht der BGH einem lange in der Literatur thematisierten Bedürfnis nach Rechtsklarheit. Bislang stand ein Kläger, der Entschädigung für Sorgfaltspflichtverletzungen bei der D-ärztlichen Erstversorgung geltend machte, vor der kaum rechtssicher zu beantwortenden Frage, wer zu verklagen war. Oft gingen Prozesse – wie vorliegend – verloren, weil schlicht der Falsche verklagt wurde, was wegen der kurzen dreijährigen Verjährungsfrist den endgültigen Anspruchsverlust bedeuten konnte. Für die Zukunft ist nunmehr geklärt, dass – von Vorsatztaten abgesehen – für Schadensersatzansprüche aus der D-ärztlichen Erstversorgung ausschließlich die Berufsgenossenschaft als Dienstherr in Anspruch zu nehmen ist. Ganz nebenbei verringert sich das Haftungsrisiko des D-Arztes, den die Berufsgenossenschaft entsprechend den beamtenrechtlichen Haftungsregeln lediglich im Falle vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Handelns in Regress nehmen darf.

    Definition

    Ein D-Arzt ist ein Facharzt für Chirurgie mit Schwerpunkt Unfallchirurgie oder ein Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie mit Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“, der von den Landesverbänden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung eine besondere Zulassung erhalten hat. Ihm persönlich obliegt die Durchführung oder Steuerung der Heilbehandlung nach Arbeits- und Wegeunfällen, wozu neben der Ermittlung des Unfallsachverhaltes und Entscheidung über die Art der Behandlung auch die evtl. Beteiligung weiterer Fachärzte sowie die Erstellung von Berichten für den Unfallversicherungsträger gehört.

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

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