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Der psychische Primärschaden und die Schwierigkeit seines Nachweises

Kasuistik Frau O.

Im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft hatte die Zahnärztin Frau O. mit ihren beiden damals 6- und 9-jährigen Söhnen anlässlich einer Flugschau einen Informationsstand betrieben, als ein startendes Flugzeug jäh von der Startbahn ausgeschert und in die Besuchermenge hineingerast war. Mit dem Rücken zur Startbahn stehend habe sie nur den Schrei, „Achtung, ein Flugzeug“ vernommen und sei blindlings – den Motorenlärm im Rücken – losgerannt zur rechten Seite hin, wo sie auch ihren weglaufenden älteren Sohn wahrgenommen habe, während der andere wohl zur linken in Deckung gerannt sei. Erst auf des Älteren Schrei hin, der „Kleine“ sei verletzt, gewahrte sie diesen, wie er mit merkwürdig verdrehter Körperhaltung reglos auf dem Betonboden lag. Anhand seiner reaktionslos geweiteten Pupillen und der Blutlache am Hinterkopf sei ihr gleich klar gewesen: „Er ist tot, überleben wird er es jedenfalls nicht“. Der Ältere sei in einen akuten Schockzustand geraten und recht schnell ärztlich versorgt worden. Während sie sich weiter um den Jüngeren kümmerte, sei ein Passant herbeigeeilt, ein Arzt, wie sich herausstellte, der sogleich mit Reanimationsmaßnahmen begann und dabei rief: „Ich brauche einen Koffer, sonst geht er mir weg!“ Auf dem Flugfeld, soweit sie sah, überall Panik und Chaos. Überall Verletzte, Blutende, teils am Boden liegend, teils wild durcheinander laufend, schreiend und nach Namen von Vermissten rufend. Da sie ihre beiden Söhne in ärztlicher Obhut wusste, habe sie zur Unterstützung der hinzueilenden Helfer entschlossen mit angepackt und anderen Verletzten Erste Hilfe geleistet. In der allseits herrschenden Hektik und dem großen Durcheinander habe sie auch wahrgenommen, wie die Reanimationsversuche bei einer unbekannten Frau ergebnislos verliefen. Nach schier endlosem Warten auf die Rettungshubschrauber sei es ihr Dank ihres energischen Auftretens gelungen durchzusetzen, dass ihre beiden Söhne nicht separat in weit abgelegene Unfallkliniken, sondern gemeinsam in die nächstgelegene Klinik geflogen wurden und dass sie mitfliegen konnte. Als sie zwei Tage später die Entscheidung treffen musste, die Beatmungsmaschinen des mittlerweile für hirntot erklärten jüngsten Sohnes abzustellen, habe einer der zuständigen Ärzte zu ihr gesagt, er bewundere sie, wie gefasst sie sei, er wäre in der gleichen Situation durchgedreht.

Grundlegende Herausforderungen der psychotraumatologischen Begutachtung

Kausalitätsbeurteilungen psychischer Traumafolgen führen von Gutachter zu Gutachter oft zu extrem unterschiedlichen Ergebnissen. Symptomimmanente Hindernisse der Exploration und besondere traumaspezifische Beziehungsaspekte zwischen Proband und Gutachter können dabei ebenso eine Rolle spielen wie zusätzliche komorbide psychische Störungen, wenn sie die Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung überlagern (Haenel 2012).

Schwierig genug war und bleibt die Kausalitätsbeurteilung einer posttraumatischen Belastungsstörung in Verfahren der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) ohnehin. Denn sie kann ja definitionsgemäß nicht unmittelbar nach einem Unfallgeschehen diagnostiziert werden, sondern erst einen Monat später. Ihre Anerkennung als Folgeschaden setzt allerdings den Vollbeweis eines ursprünglich für körperliche Schädigungsfolgen konzipierten Primärschadens als unmittelbare Unfallfolge voraus (BSG-Urteil vom 6.5.2006 B 2 U 1/05 R).

Im Vergleich zu körperlichen ist es jedoch für psychische Schäden weitaus schwieriger, den geforderten juristischen Beweismaßstab des Vollbeweises eines Primärschadens zu erbringen. Beim Betroffenen ist im Falle eines Unfalls der Fokus der Aufmerksamkeit oft zunächst auf die körperliche Versehrtheit gerichtet. Psychische Phänomene werden weniger beachtet, später vielleicht heruntergespielt, dissimuliert oder gar im Falle einer peritraumatischen Dissoziation nicht bewusst wahrgenommen. Zudem sind Betroffene im Allgemeinen bemüht, psychische Beeinträchtigungen nach Belastungserfahrungen durch die ihnen zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen zuerst einmal ohne medizinische Unterstützung zu kompensieren bzw. ihre Folgen zu minimieren. Daher führen – im Gegensatz zu den körperlichen – erstmalige psychische Symptome meistens nicht sofort in die Notaufnahme. Somit fehlen oft Dokumentationen über akute psychische Beschwerden unmittelbar nach dem Unfallgeschehen und damit auch deren Vollbeweis.

Was ist ein „Vollbeweis“?

„Vollbeweis“ bedeutet, dass „ein Ereignis mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten oder in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen“. Sie müssen belegt sein oder – wenn Belege nicht vorhanden sind – nach den gegebenen Umständen, z. B. aufgrund einer „Glaubhaftmachung“, die Überzeugung gewinnen lassen, dass es so und nicht anders gewesen ist (BSG-Urteil vom 7.2.2001/B 9 V 2301 R).

Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität

Nach diesem Beweismaßstab müssen in der gesetzlichen Unfallversicherung – wie übrigens auch im sozialen Entschädigungsrecht – die folgenden vier Voraussetzungen als mögliche Kausalkettenglieder erfüllt sein:

  1. Es hat ein zeitlich begrenztes und von außen einwirkendes schädigendes Ereignis gegeben.
  2. Dieses Ereignis hat im Anwendungsbereich des betreffenden Gesetzes stattgefunden (z. B. GUV, OEG, StrRehaG).
  3. Es ist in unmittelbar zeitlichem Zusammenhang auf dieses Ereignis eine primäre Gesundheitsschädigung aufgetreten.
  4. Es liegen bleibende Gesundheitsschäden vor.

Die ersten drei Voraussetzungen werden als haftungsbegründende Kausalität zusammengefasst. Fehlt eine, so wird in der gesetzlichen Unfallversicherung erst gar nicht von einem Arbeitsunfall gesprochen und die Versicherungseintrittspflicht entfällt von vornherein. Sind sie erfüllt und tritt die Vierte hinzu, spricht man vom Vorliegen einer so genannten haftungsausfüllenden Kausalität, die dann bei über sechs Monate währenden Gesundheitsfolgeschäden relevant werden und über die Erstattung der Behandlungskosten hinaus zu einer Unfall- oder Beschädigtenrente führen kann.

Die beiden ersten Voraussetzungen prüft die Verwaltung, die beiden letzteren der medizinische oder psychologische Sachverständige, welchem zudem die Beantwortung der Frage nach einem möglichen ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und der festgestellten Gesundheitsstörung obliegt. Für die Begründung dieses Kausalzusammenhangs ist als Beweismaßstab nicht mehr der Vollbeweis erforderlich, sondern die „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ ausreichend. Sie ist dann gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BMAS Versorgungsmedizinverordnung).

Zurück zu Frau O: War es überhaupt ein Unfall?

In obiger Kasuistik der Frau O. sind die ersten beiden Voraussetzungen zur haftungsbegründenen Kausalität erfüllt: Es lag ein von außen einwirkendes, zeitlich begrenztes Ereignis vor, das im Anwendungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung stattgefunden hat, da selbige sich auch auf ehrenamtliche Tätigkeiten erstreckt. Die dritte Voraussetzung jedoch nicht. Denn ein Primärschaden, der wie die beiden vorangegangenen Bedingungen im Vollbeweis vorliegen müsste, war unmittelbar nach dem Unglück weder körperlich noch psychisch nachweisbar. Laut einigen Autoren müsste nun dieser Vorgang mit Hinweis auf die „Beweispflichtigkeit“ des Erstschadens durch Frau O. im Vollbeweis ohne weitere Prüfung beendet werden, unabhängig davon, wie sich ihre gesundheitliche Verfassung im weiteren Verlauf entwickeln wird (Bultmann u. Fabra 2009).

Psychischer Primärschaden

Was ist überhaupt unter einem psychischen Primärschaden bei belastungsreaktiven psychischen Störungen zu verstehen? Worin manifestiert er sich? Hier bestehen große Unsicherheiten. In der AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen wird als „wesentlicher Marker“ eines psychischen Primärschadens die akute Belastungsreaktion angegeben. Gegen diese Angabe spricht die wissenschaftliche Studienlage. Denn hiernach ist die akute Belastungsreaktion, wie übrigens auch die akute Belastungsstörung, keineswegs ein Prädiktor für die spätere Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung und ist damit als „wesentlicher Marker“ eines Primärschadens wenig geeignet (Bryant 2011). Andere Autoren setzen das A2-Kriterium der Definition der posttraumatischen Belastungsstörung nach dem DSM-IV, nach dem die Reaktion des Betroffenen auf das traumatische Ereignis intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen muss, mit dem psychischen Primärschaden gleich (Bultmann u. Fabra 2009). Auch dies ist ein äußerst fragwürdiges Unterfangen. Zum einen werden hier formal Äpfel mit Birnen verglichen, indem das subjektive A2-Ereigniskriterium, was für sich genommen keinerlei Symptomcharakter besitzt, sondern eine schlichte subjektive Reaktionsweise des Betroffenen auf ein existenziell gefährdendes Ereignis beinhaltet, mit einem Symptom, wie es der juristische Fachbegriff des Primärschadens impliziert, gleichgesetzt (Burghardt 2012). Zum anderen hat eine Vielzahl von Studien gezeigt, dass das A2-Kriterium ein sehr schwacher Prädiktor für Symptome der Kriterien B–F innerhalb der auf ein traumatisches Ereignis folgenden sechs Monate ist. Bei bis zu einem knappen Viertel der Stichproben dieser Untersuchungen, in denen die Kriterien B–F nach DSM-IV nach einem objektiv schweren traumatischen Ereignis erhoben werden konnten, ließ sich das A2-Kriterium nicht nachweisen.

Letztlich ist dieser aktuelle wissenschaftliche Stand der Grund dafür, dass das A2-Kriterium im DSM-5 aus der Definition der posttraumatischen Belastungsstörung herausgenommen worden ist. Dennoch soll nach Meinung der Juristen auch bei Anwendung des DSM-5 nicht auf eine zeitnah zum Ereignis bestandene psychische Reaktion verzichtet werden (LSG Hessen vom 25.3.2014-L3 U 207/11).

Psychischer Primärschaden im Vollbeweis?

Wie lässt sich überhaupt ein Nachweis eines psychischen Primärschadens im geforderten Vollbeweis führen, wenn er im Gegensatz zu körperlichen Folgen in den Wirren des Unglücks nicht ausreichend beachtet und dokumentiert worden ist oder Betroffene dazu neigen, direkt nach dem Unglück erstmals auftretende psychische Symptome – vielleicht auch aus Scham – zu bagatellisieren, und sie zunächst ohne medizinisch-psychologische Hilfe zu bewältigen versuchen? Oder die Betroffenen dissoziieren und wirken wie Frau O. in der extremen Notsituation für ihre Umgebung „auffällig unauffällig“. So kann ungeachtet späterer Gesundheitsfolgeschäden allein aufgrund des fehlenden Nachweises eines psychischen Primärschadens die Prüfung der Kausalitätskette formal beendet und ein bestehender Unfallversicherungsschutz zu Unrecht vorenthalten werden (Burghardt 2012). Gerade für psychische reaktive Traumafolgen ist dies von Bedeutung, da sie oft erst längere Zeit nach dem traumatischen Ereignis symptomatisch in Erscheinung treten können. Besonders gilt dies für die posttraumatische Belastungsstörung, von der jede vierte bis zehnte mit verzögertem Beginn (Smid et al. 2009) und wiederum hiervon jede zehnte ohne vorangegangene subsyndromale Symptomatik (Carty et al. 2006) und damit auch ohne Brückensymptome (BMAS Versorgungsmedizinverordnung) auftritt.

Zurück zu Frau O.: Die Folgen der traumatischen Erlebnisse

Erst drei Monate später, nachdem sich der Trubel um Organisation der Bestattung und Regelung von Formalitäten mit den Behörden gelegt hatte, der Sohn beerdigt und das normale Alltagsleben wieder eingetreten war, hatte sich Frau O. in fachärztliche ambulante Behandlung begeben. So finden sich im ersten Befundbericht an die Unfallkasse von der erstbehandelnden Kollegin folgende Symptome notiert: „Affektive Labilität bei depressiver Grundstimmung, erhöhte Reizbarkeit, latente Suizidalität, Gedankenkreisen um das tödliche Ereignis, Schuldgefühle, Konzentrationsstörung, sprunghaftes Denken, Ein- und Durchschlafstörungen, paroxysmale Tachykardien mit Rhythmusstörungen mit Engegefühl über der Brust und Schweißausbrüchen sowie plötzlich einschießende Angst- und Panikattacken, intrusives Wiedererleben der traumatischen Erlebnisse bei Tag sowie auch nachts. Zukunfts- und Existenzsorgen als Selbstständige. Bis zu drei- bis viermal während der Nacht auftretende Angst und Panikattacken mit Herzrasen, Albträume mit dem Bild des auf dem Beton liegenden Sohnes. Aus Angst vor Menschen war sie unfähig, ihr Haus zu verlassen, und schon gar nicht sei es ihr möglich gewesen, ihre Arbeit in der Zahnarztpraxis wieder aufzunehmen“.

Knapp zwei Jahre war Frau O. krank und arbeitsunfähig. Nach wiederholten stationären Behandlungen in einer psychotraumatologisch ausgerichteten Fachklinik und einer ambulanten psychotherapeutischen Weiterbehandlung unter den Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) und einer mittelgradigen depressiven Störung (F32.1) als verlängerte Trauerreaktion auf den Tod des Sohnes ließ sich eine Besserung und Stabilisierung ihrer psychischen Verfassung erzielen, so dass sie danach wieder halbtags in ihrer Praxis tätig sein konnte. Die Angstsymptomatik sowie auch die intrusiven Albträume waren teilremittiert. Jedoch blieben dauerhaft erhöhte innere Anspannung mit schneller Ermüdbarkeit und reduzierter Belastungstoleranz, Konzentrationsmängel, Gereiztheit und Impulsivität mit Affektausbrüchen im Wesentlichen erhalten und schränkten auch fünf Jahre später zum Zeitpunkt der Begutachtung beim Erstautor Frau O.s berufliches wie privates Leben noch erheblich ein.

Weil es sich bei dem Unglücksereignis und seinen Folgen ganz offenbar um eines mit außerordentlichen katastrophalen Ausmaßen gehandelt hatte, hatte die Unfallkasse trotz fehlenden Nachweises eines Primärschadens – wie übrigens auch des A2-Kriteriums nach DSM-IV – die obigen in den ambulanten und stationären Behandlungen sowie in Vorgutachten ebenfalls erhobenen und bestätigten Diagnosen (F43.1 und F32.1) als Schädigungsfolgen anerkannt und war in Leistung getreten. Und dies auch entgegen der gutachterlichen Stellungnahme des ärztlichen Beraters der Unfallkasse, der 16 Monate später feststellte, dass das traumatische Geschehen im Erleben der Versicherten zwar noch eine Rolle spiele, ganz im Vordergrund jedoch eine Reihe unfallunabhängiger Aspekte stünden, vor allem die Trauer um den Tod des Sohnes, die Nachwirkung einer Ehescheidung, eine problematische berufliche Situation sowie Konflikte in der Primärfamilie. Hierbei handele es sich um unfallunabhängige Ursachen, so der Beratungsarzt, der auch im Besonderen darauf hinwies, dass Frau O.s Trauer um den Tod des jüngeren Sohnes und ihre Sorge um die Situation des überlebenden Älteren als unfallunabhängige Ursachen der gegenwärtigen psychischen Verfassung der Versicherten zu werten seien. Letztere Feststellung des ärztlichen Beraters mag paradox klingen und in diesem Zusammenhang etwas zynisch anmuten. Doch wer sich obiger Definition des „Unfalls“ in der gesetzlichen Unfallversicherung und ihrer drei Voraussetzungen erinnert, mag erkennen, dass die zweite Voraussetzung für die beiden Kinder nicht vorlag. Denn nur die Mutter war in ihrer Eigenschaft als ehrenamtliche Repräsentantin der DLRG bei der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, ihre sie begleitenden Kinder jedoch nicht. Somit war auch im versicherungsrechtlichen Sinne den beiden Kindern auch kein „Unfall“ zugestoßen, weswegen der ärztliche Berater trotz des tragischen Todes des Jüngsten in der prolongierten Trauerreaktion der Mutter versicherungsrechtlich keine haftungsrelevanten Schädigungsfolgen für sie erkennen wollte. Er hat wohl irrtümlich die Tatsache unbeachtet gelassen, dass die tödliche Verletzung des jüngsten Sohnes während des Unglücksereignisses im Beisein der Mutter stattgefunden hatte.

Dass aus der Schilderung ihrer Reaktionsweise auf das Unglück und seine Folgen hervorgeht, dass und wie sehr Frau O. dissoziierte, wird anhand der obigen Ausführungen schon sichtbar. Je ausgeprägter die psychische Abwehr, umso tiefgreifender die psychische Verletzung. Eine geschiedene alleinerziehende Mutter zweier Söhne, die als zuvor körperlich und psychisch gesunde, selbstständige Freiberuflerin trotz vorangegangener vielfältiger Belastungen in ihrer Biografie (lebensgefährdende Eileiterschwangerschaft, Ehekrise mit Scheidung, Notlandung als Passagierin im Verkehrsflugzeug) wiederholt zu ihrem überaus aktiven Lebensmodus mit Unternehmungsgeist und ausgiebiger beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit zurückgefunden und damit so manche bittere und auch bedrohliche Lebenserfahrung zu kompensieren vermocht hat: Was macht sie im Augenblick des Unglücks? Nun, sie bedient sich ihrer bisherig gut funktionierenden Bewältigungsstrategie. Sie wird aktiv und versucht damit das traumatische Ereignis zu managen, indem sie auf dem Platz rastlos mithilft, organisiert und auch nach Ankunft der Rettungshubschrauber im allgemeinen Chaos und Durcheinander energisch durchzusetzen weiß, dass ihre beide Kinder gemeinsam mit ihr ins nächste Klinikum geflogen werden, wo ihr zwei Tage später, bei der von ihr zu treffenden Entscheidung, die Beatmungsmaschinen des Jüngsten abzustellen, ein Arzt zu ihr gesagt habe, er bewundere sie, wie gefasst sie sei, er wäre in der gleichen Situation durchgedreht. Und dem Gutachter teilte sie während der gutachterlichen Exploration fünf Jahre später mit, wenn sie heute über das Unglück spräche, sei ihr, als gebe sie den Bericht einer anderen, ihr gänzlich fremden Person wieder.

Fazit

Dieses Beispiel aus der Gutachtenpraxis ist zwar ein recht extremes, aber es zeigt deutlich die Existenz psychischer Schädigungsfolgen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung, ohne dass infolge der ausgeprägten und anhaltenden dissoziativen Symptomatik („auffällige Unauffälligkeit“) der Nachweis eines psychischen Primärschadens möglich gewesen wäre. Es handelt sich um einen Sonderfall bei einem Ereignis katastrophalen Ausmaßes und Folgen. Sicherlich mögen Letztere dazu beigetragen haben, dass hier die gesetzliche Unfallversicherung von Anfang an schnell und vorbehaltlos ihrer Eintrittspflicht nachgekommen war. Aber wie viele schwere Arbeitsunfälle mögen in der gesetzlichen Unfallversicherung vorkommen, die nicht so katastrophal ins Auge fallen, deren Reaktionen, die sie bei den Betroffenen hervorrufen, dennoch bestimmt werden durch dissoziative Abwehr, mit der Folge, dass wegen fehlenden Nachweises eines Primärschadens und damit auch der haftungsbegründenden Kausalität der Vorgang vorab schon ohne weitere Prüfung abgeschlossen und ein bestehender Unfallversicherungsschutz vorenthalten wird? Der so genannten „Psychoklausel“, mit der die privaten Unfallversicherungen ihre Haftung für psychische Schädigungsfolgen von vornherein ausschließen, wäre hierdurch bei der gesetzlichen Unfallversicherung die Hintertür geöffnet. Immerhin ist zu würdigen, dass die Entwicklung der gesetzlichen Unfallversicherung über 100 Jahre auf die Diagnostik und Behandlung körperlicher Unfallfolgen fokussierte und dafür ein der Mechanik angelehntes Verständnis von Ursachen und Wirkung sehr hilfreich war. Die Erweiterung des versicherten Schadensbegriffes auf psychische Unfallfolgen konfrontiert jedoch mit einer erheblichen Komplexitätszunahme.

Die komplexen Einflüsse traumatischer Belastung, dissoziativer Erlebensstörungen, biografischer Vulnerabilitätsfaktoren, psychosozialer Schutzfaktoren und individueller Bewältigungsstrategien erfordern ein gutachterliches Vorgehen und Verstehen, das über die Abklärung mechanischer Kausalzusammenhänge weit hinausgeht. Hilfreich hierfür sind beispielsweise seit mehreren Jahrzehnten elaboriert vorliegende psychodynamische Konzepte und ein biopsychosoziales Verständnis von Störungsentwicklungen, die selbstverständlich auch für psychotraumatologische Zusammenhangsfragen Anwendung finden sollten. Der aus der Unfallchirurgie entlehnte Begriff des Primärschadens bedarf in seiner Anwendung auf ereignisreaktive psychische Störungen einer psychodynamischen Erweiterung bzw. Neudefinition. Auch die bei der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung häufig vorzufindenden Latenzzeiten ohne Nachweisbarkeit von Brückensymptomen müssen als typische Verlaufsform und nicht als zu begutachtender Sonderfall für die Rechtsprechung verstehbar werden. Die Kenntnis dieser komplexen Zusammenhänge erscheint für eine fachgerechte Beantwortung gutachterlicher Fragen nach haftungsbegründender Kausalität von psychischen Unfallfolgen essentiell.

Literatur

Bultmann S, Fabra M: War es überhaupt ein Unfall? Erstschadensbeurteilung bei psychogenen Störungen in der gesetzlichen Unfallversicherung? Med Sach 2009; 105: 172–179.

Burghardt H: (Arbeits-)Unfälle mit der Folge posttraumatischer Belastungsstörungen. Med Sach 2012; 108: 186–190.

Bryant RA: Acute stress disorder as a predictor of posttraumatic stress disorder: a systematic review. J Clin Psychiat 2011; 72: 233–249.

Carty J, O’Donnel ML, Creamer M: Delayed onset PTBS a prospective study of injury survivors. J Affect Dis 2006; 90: 257–261.

Haenel F: Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen. Fortschr Neurol Psychiat 2012; 80: 280–287.

Smid GE, Mooren TTM, van der Mast RC, Gersons BPR, Kleber RJ: Delayed posttraumatic stress disorder: systematic review, meta-analysis, and meta-regression analysis of prospective studies. J Clin Psychiat 2009; 70: 1572–1582.

    Für die Autoren

    Dr. med. Ferdinand Haenel

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

    Charité - Campus Mitte

    Zentrum ÜBERLEBEN gGmbH

    Turmstraße 21 – 10559 Berlin

    f.haenel@bzfo.de

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