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Interessierte Selbstgefährdung — von der direkten zur indirekten Steuerung

Man kennt es von Freiberuflern und Selbstständigen, ganz be-sonders von Existenzgründern: Wenn Kunden abspringen und der Umsatz einbricht, wenn die Existenz der eigenen Unternehmung bedroht ist, dann wird oft ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit gearbeitet. Dasselbe geschieht, wenn sich einmalige Erfolgschancen oder neue Perspektiven für die eigene berufliche Zukunft bieten. Auch dann wirft man unter Umständen die eigene Gesundheit in die Bresche. Immer öfter kommt diese Art von Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit jedoch auch bei Mitarbeitenden vor. Neue Steuerungsformen holen die Leistungsdynamik selbstständiger Existenzgründer in die Betriebe. Je mehr die eigene Arbeit gemessen wird am Erfolg, an der Erreichung von Zielen, an Kennziffern, an der Überbietung von Benchmarks, desto mehr gleichen sich die Phänomene an: es kommt zur interessierten Selbstgefährdung.

Mit „interessierter Selbstgefährdung“ meinen wir ein Verhalten, bei dem man sich selbst dabei zusieht, wie das persönliche Arbeitshandeln die eigene Gesundheit ge-fährdet – aus einem Interesse am beruflichen Erfolg heraus (Peters 2011). Beispiele sind etwa: krank zur Arbeit kommen, auf Erholungspausen verzichten, am Wochenende oder im Urlaub arbeiten, länger als zehn Stunden am Tag arbeiten, in einem hohen Ausmaß unbezahlte Überstunden leisten. Solche Phänomene kamen auch in der Vergangenheit vor, beispielsweise aufgrund hoher Identifikation mit dem Unternehmen.

Die Ursachen für die gesundheitskriti-schen Verhaltensweisen sind jedoch zunehmend an anderen Stellen zu suchen: Mitarbeitende berichten, dass sie selbst dann, wenn sie ein solches Problem erkannt haben und darunter leiden, keinen Weg zur Veränderung finden. Angebote zur Verhaltensprävention, etwa zum Zeit- und Stressmanagement, können ihre Probleme nicht lösen, auch Appelle an mehr Selbstdisziplin oder einen gesundheitsförderlichen Führungsstil reichen nicht aus.

Die Ursachen sind in der Dynamik zu finden, die durch neue, produktivitätssteigernde Managementkonzepte ausgelöst wird, wie sie zunehmend nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern auch in einigen Non-Profit-Organisationen und der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Junghanns u. Morschhäuser 2013; Chevalier u. Kaluza, in Druck).

Typische Hinweise auf praktizierte indirekte Steuerung

Zentrales Kennzeichen der neuen Steuerungsformen ist die Führung durch Ziele (Management by Objectives, MbO) bei gleichzeitiger Konfrontation der Mitarbeitenden mit unternehmerischen Herausforderungen und den Rahmenbedingungen des Marktes. Durch Einführung von Profit-Centern, der Orientierung an Benchmarks, der Stärkung unternehmensinterner Konkurrenzverhältnisse (z. B. zwischen Standorten) oder auch der Androhung der Schließung von Werksteilen bei Nichterreichung von Renditezielen, werden marktförmige Verhältnisse in die Unternehmen getragen bzw. in den Unternehmen nachgebildet. Diese Veränderungen sind meist mit Hinweisen auf Globalisierung, Kostendruck oder die Erwartungen der Shareholder verbunden, auf die das Management reagieren muss.

In mitarbeiterorientierten Unternehmen, die sich im Branchenvergleich durch ein fort-schrittliches Betriebliches Gesundheitsmanagement auszeichneten und die wir in den letzten neun Jahren untersuchen konnten, haben wir jeweils folgende sechs Merkmale praktizierter indirekter Steuerung identifizieren können:

  • Ergebnis- und Erfolgsorientierung: In Anlehnung an MbO werden Systeme zur Leistungssteuerung eingesetzt, die auf dem Erreichen ökonomisch relevanter Kennzahlen und Ziele basieren und sich beispielsweise an Key Performance Indicators (KPI) orientieren. Das fehlende Erreichen der Ziele hat negative Konsequenzen und kann sich sowohl auf die einzelne arbeitende Person als auch auf größere Bereiche des Unternehmens beziehen, etwa wenn eine Werksschließung in Aussicht gestellt wird, wenn der Standort nicht in der Lage sein wird, in drei Jahren die von Shareholdern erwarteten Renditeziele zu erfüllen.
  • Dynamische Ziele: Die Ziele sind nicht statisch, sondern dynamisch. Beispielsweise wird seitens der Geschäftsleitung explizit erwartet, dass im Unternehmen jedes Jahr 10 % mehr Umsatz, Gewinn o. Ä. generiert und dass dies auch von den einzelnen Business Units erreicht wird. Auch eine angestrebte Erhöhung des Marktanteils ist ein dynamisches Ziel, da fortlaufend auf die Aktivitäten der Konkurrenz am Markt geachtet und reagiert werden muss.
  • Leistungsdynamik über unternehmensinterne Konkurrenz: Indem Standorte, Business Units, Teams usw. hinsichtlich der ökonomisch relevanten Kennzahlen und Ziele untereinander verglichen und solche Kennzahlen auch hierarchieübergreifend bereitgestellt werden, entstehen unmittelbar Vergleichsprozesse. Der Leiter eines Schweizer Industriewerks merkte hierzu an, dass für den eigenen Standort nicht die anderen Anbieter am Markt gefährlich seien, sondern vielmehr die anderen Standorte in Europa, die zum gleichen Konzern gehören und mit denen der Schweizer Standort verglichen werde. Neben diesem unternehmensinternen Benchmarking gibt es zahlreiche weitere Mechanismen, die die Leistungsdynamik erhöhen. Beispielsweise bestehen Vorgaben bei der Leistungsbewertung, wonach eine Mitarbei-terin nur positiv bewertet werden kann, wenn gleichzeitig ein anderes Teammitglied kritisch bewertet wird, so dass Konkurrenzverhältnisse innerhalb der einzelnen Teams entstehen.
  • Rahmenbedingungen top-down festlegen: Im Kontrast zu tatsächlichen Selbststän-digen sind abhängig Beschäftigte nicht nur mit Anforderungen des Marktes kon-frontiert, sondern zusätzlich mit zahlreichen internen Vorgaben und Reglementierungen. So werden z. B. Prozessvorgaben definiert, die sehr genaue und starre Handlungsanweisungen beinhalten. Berichtspflichten dienen dazu, regelmäßig den Stand der Zielerreichung, der Einhaltung von Qualitätsstandards und Ähn-liches zu dokumentieren. Es wird fortlaufend, teilweise engmaschig und sogar täglich „getrackt“, ob die einzelnen Einheiten und Mitarbeitenden bei der Zielverfolgung erwartungskonforme Kennzahlen vorlegen.
  • Verantwortung für Zielerreichung konsequent top-down delegieren: Im Gegensatz zu den gesetzten Rahmenbedingungen wird die Verantwortung für die Zielerreichung konsequent delegiert. Besonders offensichtlich ist dies bei konsequenter Umsetzung der Vertrauensarbeitszeit, das bedeutet, es wird nicht mehr wie bei der direkten Steuerung die investierte Arbeitszeit und die fachliche Qualität der Arbeit zur Bewertung der Leistung herangezogen, sondern das Erreichen vorgegebener bzw. vereinbarter Erfolgskennzahlen. Wo und wann man arbeitet, liegt in der eigenen Verantwortung, auf die obligatorische Arbeitszeiterfassung wird verzichtet. Auch ohne Vertrauensarbeitszeit gilt aber: Zielerreichung und nachweisbarer Erfolg, nicht die Arbeitszeit ist entscheidend bei der Bewertung der Arbeitsleistung. Wenn Probleme im Arbeitsalltag auftreten, muss sich der Beschäftigte selbst um eine Lösung kümmern – dies kann z. B. mit Sätzen wie „Wer ein Problem hat, ist das Problem“ veranschaulicht und Teil der Unternehmenskultur werden.
  • Beteiligung der Mitarbeitenden: Indirekte Steuerung kann sehr unterschiedlich umgesetzt werden, beispielsweise können Ziele einseitig vorgegeben oder auch stärker ausgehandelt werden. Das leistungs- und motivationssteigernde Potenzial indirekter Steuerung entwickelt sich vor allem dann, wenn die Einbindung von Mitarbeitenden angestrebt und gelebt wird, also z. B. anspruchsvolle Ziele auch von den Mitarbeitenden selbst formuliert und vorgeschlagen werden. So können Unternehmen viel Wert auf einen partnerschaftlich geprägten Führungsstil legen und im Rahmen von Systemen zur kontinuierlichen Verbesserung (KVP, Kaizen o. Ä.) Mitarbeitende dazu auffordern, beständig Verbesserungsvorschläge zur Erhöhung der Produktivität im eigenen Bereich zu unterbreiten.

Die neue Doppelrolle der Mitarbeitenden

Das folgende Beispiel dient der Veranschaulichung, was sich für Mitarbeitende im Arbeitsalltag ändern kann.

Als entscheidende Veränderung entsteht für die Mitarbeitenden eine neue Doppelrolle. Nach wie vor muss die fachliche Arbeit qualitativ hochwertig gemacht werden, was die wesentliche Erwartungshaltung bei direkter Steuerung war. Auf den Punkt gebracht: Bei direkter Steuerung (Command-and-Control) sollten im Rahmen der vereinbarten Ar-beitszeit die Anweisungen des Chefs befolgt und fachlich einwandfreie Arbeit geleistet werden, wobei das individuelle Arbeits-verhalten kontrolliert wurde. Die Bewertung der eigenen Arbeit orientierte sich bei der direkten Steuerung daran, ob der Mitarbeitende sich anstrengte und Mühe gab. Aber bei der indirekten Steuerung achtet der Mitarbeitende gleichzeitig und zusätzlich darauf, dass sich die eigene Arbeit für das Unternehmen auch rentiert oder dass er im Wettbewerb besser dasteht. Die Frage lautet somit, ob der Mitarbeitende Erfolg bei der Zielerreichung vorweisen kann. Wäh-rend der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens früher eine reine Managementaufgabe war, rechnen nun auch abhängig Beschäftigte bei all ihren Aktivitäten mit, ob sich das, was sie gerade tun, für das Unternehmen rentiert.

Ambivalente Auswirkungen der indirekten Steuerung: Chancen und Risiken

Führung durch Ziele setzt auf die Autonomie der Beschäftigten. Bei konsequenter Um-setzung können und müssen die Beschäftigten selbstständig und unter Nutzung der verfügbaren Handlungs- und Entscheidungs-spielräume am Markt agieren. Diese Verände-rung kann Spielräume erhöhen (z. B. flexible Arbeitsregelungen) und ist unter arbeitspsychologischen Gesichtspunkten zunächst einmal positiv zu bewerten. Zugleich geht die Verbreitung der neuen Managementkonzepte mit einer Veränderung und Zunahme psychischer Belastungen und Bean-spruchungen einher. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Im Folgenden stellen wir gesundheitsrelevante Chancen sowie Risiken indirekter Steuerung vor. Anschließend zeigen wir am Beispiel einer Befragung in einem indirekt gesteuerten Dienstleistungsunternehmen auf, wie häufig genau diese Chancen und Risiken aus Sicht der Mitarbeitenden auftreten.

Gesundheitsrelevante Chancen der indirekten Steuerung sind:

  • Mitarbeitende können mehr Verantwortung übernehmen. Erwartungen an zu er-reichende Ziele werden klar formuliert und die Art der Umsetzung wird vom Mitarbeitenden selbst beeinflusst.
  • Die innovativen Managementtechniken sollen Mitarbeitende anregen, ihr ganzes individuelles Potenzial zu entwickeln und in die Arbeit einzubringen.
  • Mitarbeitende können Erfolg verstärkt auf die persönliche Anstrengung zurück-führen, also stolz auf die eigene Arbeit und auf die selbst erreichten Ziele entwickeln. Gerade erfolgsmotivierte Mitarbeitende entfalten sich und wollen auch anspruchsvolle Ziele erhalten.
  • Mitarbeitende zeigen Selbstbewusstsein, werden sich ihres eigenen Wertes für das Unternehmen bewusst und handeln ihre eigene Arbeitssituation stärker aus als in der Vergangenheit. Sie prüfen Alternativen und verlassen das Unternehmen, wenn sich reizvolle Alternativen bieten.
  • Anspruchsvolle Zielvorgaben kombinie-ren Teamziele und individuell angepasste Ziele. Dies kann zu einem sehr hohen Gemeinschaftsgefühl bei gemeinsamer Zielerreichung führen.

Gesundheitsrelevante Risiken der indirekten Steuerung sind:

  • Nicht nur Angst vor Misserfolg und Arbeitsplatzverlust, auch Begeisterung für die eigene Arbeit kann zu Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber führen. Das eigene Interesse am Erfolg geht mit interessierter Selbstgefährdung bei der Arbeit einher, so dass Mitarbeitende beispielsweise auch dann arbeiten, wenn sie krank sind oder sich in der Freizeit er-holen sollten. Oben wurde dieses Phänomen bereits ausführlich erläutert.
  • Innere Zerrissenheit nimmt zu: Konflikte, die Mitarbeitende früher mit anderen hatten (z. B. mit ihren direkten Vorgesetz-ten), haben sie nun mit sich selbst. Über-stunden oder Arbeiten bei Krankheit wer-den aus eigenem Antrieb heraus (d. h. ohne Anweisung von oben) absolviert, um den eigenen Erfolg zu sichern.
  • Vielfach werden Konflikte zwischen fach-lichem und unternehmerischem Gewis-sen berichtet, etwa wenn Softwareent-wickler aus Kostengründen eine Software freigeben, obwohl sie genau wissen, dass noch Programmierfehler auszumerzen wären – oder Pflegekräfte persönliche Zuwendung zu Patientinnen und Patienten reduzieren müssen, da die veranschlagte Zeitdauer und die Personaldecke dies nicht mehr zulassen. Dies kann mit einem Wunsch „Zurück zur guten alten Zeit“ einhergehen, insbesondere wenn der Wechsel von direkter zur indirekter Steuerung nicht als Veränderungs-prozess begleitet wird.
  • Angesichts dynamisch bzw. fortlaufend höherer Ziele (Zielspiralen: „Jedes Jahr eine Schippe drauflegen“) sind Mitarbeitende häufiger mit Überlastsituatio-nen konfrontiert und fragen sich, wohin die Reise geht, also wie lange die zuneh-mende Arbeitsmenge bewältigt werden kann. Der eigene Erfolg (z. B. herausragende Verkaufsergebnisse aufgrund besonders guter Marktlage) kann dann sogar als Gefahr erlebt werden, da man sich fragt, wie man dieses Ergebnis im Folgejahr wieder erreichen kann. In der Folge ist der Wunsch nach persönlicher Wertschätzung sehr stark ausgeprägt („was ich früher geleistet habe, das zählt nicht mehr“). Zudem werden Ungerech-tigkeitserfahrungen gemacht, wenn ho-her Einsatz gezeigt wird und z. B. der Ausfall kranker Kollegen kompensiert wurde, aber dennoch bestimmte, eventuell von Beginn an unrealistisch hohe Ziele nicht erreicht werden konnten.
  • Selbst wenn indirekte Steuerung praktiziert wird, ist häufig das Fortbestehen von Elementen direkter Steuerung fest-zustellen, d. h. die beiden Steuerungsprinzipien werden vermischt. Beispiels-weise bestehen konkrete Verhaltensvorschriften wie „Besuchen Sie als Firmenkundenberater einmal pro Quartal Ihren Kunden“, selbst wenn dies die Kunden gar nicht wünschen und so eine erfolgreiche Kundenbetreuung gefährdet wird. Zudem können auch Tools der indirekten Steuerung Widersprüche auslösen, etwa durch ausuferndes Controlling und Berichtspflichten. Mitarbeitende leiden dann darunter, dass solche hausgemach-ten zeitraubenden Aufgaben die Arbeit mit dem Kunden unnötig erschweren.
  • Mitarbeitende bemängeln, dass sie bei bestehenden Problemen allein gelassen werden. Wer auf ein Problem hinweist, wird z. B. aufgefordert, dies zu lösen. Hinweise auf unrealistisch hohe Ziele, die im Rahmen der Arbeitszeit nicht erreicht werden können, werden von (hö-heren) Führungskräften ignoriert oder gar als Zeichen mangelnder Leistungsbereitschaft interpretiert. Oder bei kriti-schen Angaben in einer Mitarbeitenden-befragung wird die Führungskraft unter Druck gesetzt, mit dem Team Lösungen abzuleiten, ohne notwendige Unterstützung einfordern zu können. Mitarbeitende werden deshalb kreativ, um etwa das bestehende Controlling zu überlisten und falsche Angaben zu machen, z. B. den Projektstatus beschönigend auf „grün“ setzen, um in Ruhe und ohne störende Rückfragen weiterarbeiten zu können, in Mitarbeitendenbefragungen erhöhte Zufriedenheit angeben oder sich bei der Arbeitszeiterfassung auszustempeln, um länger als zehn Stunden arbeiten zu können.
  • Mitarbeitende erleben sich nun auch selbst als „schuldige“ Mitverursacher des zunehmenden Leistungsdrucks. Wenn auf Probleme im Projekt nicht frühzei-tig hingewiesen wurde oder in der jähr-lichen Zielvereinbarung hohe Ziele akzeptiert und selbst formuliert werden, dann sucht man später die Schuld bei sich und fühlt sich verpflichtet, Ziele auch dann noch zu erreichen, wenn sie unrealistisch sind.
  • Mit den geschönten Angaben ist meist ein Realitätsverlust in der Organisation auf höheren Hierarchieebenen verbunden, wenn fortlaufend verzerrte Anga-ben in Befragungen zur Arbeitssituation, zum Projektstand in Meetings usw. kur-sieren und über reale Probleme ab einer bestimmten Hierarchieebene gar nicht mehr gesprochen wird. Wenn nur noch Erfolgsgeschichten erzählt werden dür-fen, kann das für den Einzelnen mit einem Gefühl der Vereinzelung einherge-hen („geht das nur mir so?“), insbesondere wenn auch auf Teamebene der vertrauensvolle Austausch nicht gelingt.
  • Wenn Ziele nicht nur auf individueller, sondern auch auf der Team- und Abteilungsebene festgelegt werden, entwickeln Mitarbeitende zunehmend ein persönliches Interesse daran, dass sich ihre direkten Kolleginnen und Kollegen stark engagieren oder zumindest die gleiche Leistung erbringen. Leistungsschwächere und Erkrankte sind dann nicht gern gesehen. Vor allem wenn auf Schwierigkeiten von Unternehmensseite nicht reagiert wird, z. B. kein Ersatz bei Erkrankung oder Personalmangel bereitgestellt wird, steigt der Gruppendruck und damit auch die Bereitschaft, über die eigenen Leistungsgrenzen zu gehen. Konflikte nehmen zu.

Ambivalente Auswirkungen am Beispiel eines Dienstleistungsunternehmens

Im Rahmen einer Fallstudie in einem indirekt gesteuerten Dienstleistungsunterneh-men hatten wir die Gelegenheit, die Erfah-rungen mit indirekter Steuerung von Mitarbeitenden einschätzen zu lassen (andere Fallstudien werden in Krause et al. 2012 zu-sammengefasst). 493 Mitarbeitende wurden aufbauend auf einem Impulsvortrag zur in-direkten Steuerung nach eigenen Erfahrungen gefragt. In den Tabellen 1 und 2 sind jene Chancen und Risiken enthalten, zu denen Mitarbeitende in einer anonymen schrift-lichen Befragung Auskunft gegeben haben. Gefragt wurde nach ihren Erfahrungen zu den Chancen und Risiken, die oben erläutert wurden. Da keine Messung vor und nach Einführung der indirekten Steuerung enthalten ist, können keine kausalen Rückschlüsse gezogen werden.

Die Ergebnisse in  Tabelle 1 geben Hin-weise, dass die angenommenen Chancen der indirekten Steuerung zum Vorschein kommen. So sagten 69 % der Mitarbeitenden, dass sie die Art der Umsetzung im eigenen Verantwortungsbereich oft oder sehr oft beeinflussen, weitere 20 % gaben manchmal an. Nur 11 % gaben hingegen selten oder (fast) nie an. Auch Stolz auf die eigene Arbeit sowie ein hohes Gemeinschaftsgefühl wurden vielfach erlebt. Etwas weniger verbreitet ist das Zeigen von Selbstbewusstsein, um die eigene Arbeitssituation auszuhandeln.

In  Tabelle 2 geht es um Ergebnisse zu den Risiken, also zu den kritischen Erfah-rungen bei der indirekten Steuerung. So fällt auf, dass Ungerechtigkeitserfahrungen, Einschränkungen des eigenen selbstständigen Handelns und Konflikte zwischen fachlichen und unternehmerischen Ansprüchen beson-ders viele Mitarbeitende betreffen (jeweils mindestens 73 % geben manchmal/oft/sehr oft an). Interessierte Selbstgefährdung tritt bei fast zwei Dritteln zumindest manchmal auf, bei einem Drittel sogar (sehr) oft.

Facetten der interessierten Selbstgefährdung

Um indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung in Unternehmen erkennen und verstehen zu können, bedarf es der offe-nen Kommunikation in geschützten Kommunikationsräumen. Ergänzend liegen inzwischen Instrumente vor, die in schriftliche Befragungen integriert werden können. Beispielsweise haben Krause et al. (in Druck) einen Fragebogen vorgelegt, um Selbstgefährdung messen zu können (Kurzversion von Baeriswyl et al. 2014). In Fallstudien wurden acht Facetten der Selbstgefährdung ermittelt, von denen sechs im Fragebogen erfasst werden:

  • Ausdehnen der eigenen Arbeitszeit meint die zeitliche und örtliche Entgrenzung der Arbeit. Die private und familiäre Zeit sowie Erholung und Ausgleich werden zugunsten der Arbeitszeit reduziert. Die Erreichbarkeit in der Freizeit ist ebenfalls hier einzuordnen
  • Intensivieren der Arbeitszeit beinhaltet eine Erhöhung der Intensität und Geschwindigkeit der eigenen Arbeit. So verzichten die arbeitenden Personen z. B. auf gegenseitige Unterstützung bzw. auf den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder ziehen sich im Arbeitsalltag zurück.
  • Die Einnahme von Substanzen zum Er-holen beinhaltet Strategien, um sich nach einem anstrengenden Tag zu entspannen, um trotz Grübeln nach der Arbeit abzuschalten und um das Ein- und Durchschlafen zu erleichtern – und zwar auch mit Blick auf die Arbeitsanforderungen an dem Folgetag.
  • Die Einnahme stimulierender Substanzen zum Erhalt und zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit wurde in den letz-ten Jahren unter Stichwörtern wie Neuro-enhancement und Gehirndoping behan-delt. Gemeint ist hier das Einnehmen von Aufputschmitteln und/oder Medikamen-ten.
  • Präsentismus bezeichnet das Arbeiten trotz Krankheit bzw. der Verzicht auf Re-generation bei Krankheiten.
  • Vortäuschen meint das bewusste Bereitstellen falscher Informationen sowie das Verschweigen und Zurückhalten von In-formationen, z. B. wird eine hohe eigene Leistungsfähigkeit suggeriert, indem – trotz bestehender Überlastung – zusätzliche Arbeitsaufgaben angenommen, ei-gene Schwächen und Ängste verschwiegen oder in Statistiken, Berichten und bei Treffen falsche Angaben zum Stand eines Projekts gemacht werden.
  • Senken der Qualität meint ein Arbeitshandeln, bei dem die fachliche Qualität der eigenen Arbeit so stark reduziert oder auf das Erledigen wichtiger Sekundäraufgaben, die langfristig für eine qualita-tiv hochwertige Arbeit notwendig sind, ganz verzichtet wird (z. B. wird gegen Professionalitätsstandards verstoßen), so dass negative Konsequenzen für die eigene Person, für Personen im Arbeitsumfeld oder Kunden in Kauf genommen werden.
  • Umgehen von Sicherheits- und Schutzstandards meint das fehlende Einhalten von formellen und informellen Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, obwohl der arbeitenden Person diese Regelungen oder Standards bekannt sind. Indem die Regelungen oder Standards von der arbeitenden Person aktiv unterlaufen werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Unfällen, Erkrankungen und Verschleiß.

Betriebliche Handlungs-möglichkeiten

Die neuen Managementkonzepte sind erfolgreich und produktivitätssteigernd – und sie haben ein grundsätzlich gesundheitsförderliches Potenzial. Es kann folglich nicht darum gehen, die Entwicklung zurückzu-schrauben. Vielmehr muss die Frage nach den unvermeidlichen Nebenwirkungen in den Blick genommen werden, die sich insbesondere in einer Zunahme psychischer Belastungen äußern kann. Dazu muss das neuartige Problem zunächst begriffen werden: Wer aus Angst vor Misserfolg oder in der Hoffnung auf Erfolg die Risiken für die eigene Gesundheit ignoriert, will sich dabei nicht stören lassen. Die Gefährdung der eigenen Gesundheit wird verheimlicht. Die psychischen Belastungen steigen und die Risiken nehmen zu – aber im Verborgenen. Das Problem wird erst offenkundig, wenn es zu spät ist.

Als Voraussetzung für erfolgreiche Prä-vention und Gesundheitsförderung ist abzuleiten, dass alle Beschäftigten die Wirkung neuer Steuerungsformen verstehen und angeleitet werden, die komplexe Wechselwirkung von Steuerung und eigenen Verhaltensweisen nachzuvollziehen. Durch das Fördern des eigenen Denkens über die Wir-kung neuer Steuerungsformen entsteht das Potenzial, Eigeninitiative zu entwickeln und die angesprochenen Nebenwirkungen durch eigenes Handeln zu durchkreuzen, sich also beispielsweise kritisch zu fragen, warum man am Wochenende oder länger als zehn Stunden arbeitet.

Bei Maßnahmenpaketen geht es somit nicht allein um eine Optimierung der indirekten Steuerung (z. B. durch Reduzieren von hinderlichen Verhaltensvorschriften), sondern immer auch um eine Förderung der eigenen Denkweisen, um die Auswirkungen der betrieblichen Veränderungen auf eigene Gefühle und Verhaltensweisen verstehen und erkennen zu können.

Was können betriebliche Akteure, etwa aus Arbeitsmedizin und Arbeits-schutz, schrittweise tun?

  1.  1. Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob indi-rekte Steuerung, interessierte Selbstge-fährdung und ggf. weitere gesundheitsrelevante Risiken (s. Tabelle 2) im eigenen Betrieb relevant und welche Hierarchieebenen besonders betroffen sind.
  2.  2. Das obere Management setzt sich mit den Schattenseiten der Produktivitätsgewinne auseinander und gibt Rückendeckung für nachhaltige Maßnahmen zur Gesundheitsförderung.
  3.  3. In Qualifizierungs-Maßnahmen werden Mitarbeitende in die Lage versetzt, die Veränderungen im Unternehmen sowie die Entstehung von interessierter Selbst-gefährdung zu begreifen und mit Blick auf die Schattenseiten individuell und gemeinsam gegenzusteuern. Führungskräfte werden gefördert, um zu erkennen, welche gesundheitsrelevanten Füh-rungsfragen wichtiger werden.
  4.  4. Werden die Erfolgsorientierung sowie die Selbstständigkeit der Mitarbeiten-den durch unternehmensinterne Stolper-steine konterkariert (z. B. überflüssige Prozessvorgaben, zu enges Controlling, zu viel Zeitaufwand für administrative Aufgaben), werden Erfolgshindernisse unter Beteiligung der Mitarbeitenden identifiziert und beseitigt, so dass die neue Selbstständigkeit auch mit ange-messenen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen einhergeht.
  5.  5. Ein zuverlässiges Frühwarnsystem wird aufgebaut, das auf negative Entwicklun-gen frühzeitig reagiert und sich nicht auf schriftliche Mitarbeiterbefragungen beschränkt. Zu diesem Zweck kann bei-spielsweise ein hierarchieübergreifender, sanktionsfreier Mitarbeitendenbeirat ge-gründet werden.
  6.  6. Gesundheit wird im Kennzahlensystem berücksichtigt, etwa indem ein kontinuierlicher „Realitätscheck“ der Zielsetzungen ermöglicht und dabei auf Veränderungen der Rahmenbedingungen geachtet wird. Auch bestehende Benchmarks gilt es auf ihren Realitätsgehalt für sinnvolle Vergleiche zu überprüfen: Wie sind Maximalwerte zustande gekommen? Ist eine Übertragung auf an-dere Kontexte möglich?

Auf diese Weise wird mehr Sensibilität für die neuartigen Risiken erreicht und ein Beitrag zur Reduzierung psychischer Fehlbelastungen und -beanspruchungen geleistet. 

Literatur

Baeriswyl S, Berset M, Krause A: Selbstgefährdung am Arbeitsplatz: Warnsignale. HR Today Checkliste, 2014 ( www.hrtoday.ch/article/selbstgef-hrdung-am-arbeitsplatz-warnsignale )

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Junghanns G, Morschhäuser M: Immer schneller, immer mehr. Psychische Belastung bei Wissens- und Dienstleistungsarbeit. Wiesbaden: Springer, 2013.

Chevalier A, Kaluza G: Psychosozialer Stress am Arbeitsplatz: Indirekte Unternehmenssteuerung, selbstgefährdendes Verhalten und die Folgen für die Gesundheit. In: Böcken J et al. (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2015 – Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, in Druck.

Krause A, Baeriswyl S, Berset M et al.: Selbstgefähr-dung als Indikator für Mängel bei der Gestaltung mo-bil-flexibler Arbeit: Zur Entwicklung eines Erhebungs-instruments. Wirtschaftspsychologie, in Druck.

Krause A, Dorsemagen C, Stadlinger J, Baeriswyl S: Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefähr-dung: Ergebnisse aus Befragungen und Fallstudien. Konsequenzen für das Betriebliche Gesundheits-management. In: Badura B et al. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2012. Gesundheit in der flexiblen Arbeits-welt: Chancen nutzen – Risiken minimieren. Berlin: Springer, 2012, S. 191–202.

Peters K: Indirekte Steuerung und interessierte Selbst-gefährdung. Eine 180-Grad-Wende bei der betrieblichen Gesundheitsförderung. In: Kratzer N, Dunkel W, Becker K, Hinrichs S (Hrsg.): Arbeit und Gesundheit im Konflikt. Berlin: edition sigma, 2011, S. 105–122.

Fußnoten

1  Dieser Beitrag basiert teilweise auf einem Artikel, der erstmals in HR Today, www.hrtoday.ch, Ausgabe 4/2010 erschienen ist.

    Beispiel

    Was verändert sich in den Unternehmen? Ein Beispiel aus der X-Bank in W.

    Die Filiale der X-Bank in W. hat sechs Mit-arbeiter, die vor allem im Privatkunden-geschäft arbeiten. In dem kleinen Ort W. leben viele junge Familien, die mit Fragen der Baufinanzierung zur Bank kommen und zahlreiche ältere Menschen, denen es um eine sichere Anlage ihrer Ersparnisse geht. Herr B. ist seit 19 Jahren Privatkunden-berater bei der X-Bank in W. Er hat diesen Beruf gewählt, weil er neben einem aus-geprägten kaufmännischen Interesse gerne beratend tätig ist und mit Menschen zu tun hat. In den ersten Jahren hat sich Herr B. in der X-Bank sehr wohl gefühlt. Er ist gerne zur Arbeit gekommen und hat sich mit seinen Kollegen gut verstanden.

    Doch in den letzten Jahren hat sich eini-ges verändert. Der neue Filialleiter ruft sein Team jeden Montag zusammen, um die Ergebnisse der vergangenen Woche zu be-sprechen. Dazu erstellt er eine Übersicht der Ertragszahlen aller Mitarbeiter. Gemein-sam wird besprochen, wie der Ertrag weiter optimiert werden kann. Herr B. hat seitdem Sonntags regelmäßig schlechte Laune und Magenschmerzen. Unter der Woche prüft er täglich seine Ertragsübersicht. Wenn ein Kunde anruft und um einen Termin bittet, zögert Herr B. nun, die Anfrage an einen Kollegen weiterzugeben, selbst wenn er eigentlich schon für die Woche ausgebucht ist. Die Kollegen sind fast zu Konkurrenten geworden. Herr B. merkt, dass er auch in Beratungsgesprächen nun immer wieder nachrechnet, welches der Produkte, die er dem Kunden anbieten kann, für ihn wie viel Ertrag bedeutet. Er will seine Kunden seriös beraten, doch die Angst, am nächs-ten Montag schlecht dazustehen, geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.

    Für die Autoren

    Prof. Dr. phil. Andreas Krause

    Fachhochschule Nordwestschweiz

    Hochschule für Angewandte Psychologie

    Institut Mensch in komplexen Systemen

    Riggenbachstraße 16

    CH-4600 Olten

    andreas.krause@fhnw.ch