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Plädoyer für ein bundesweites Forschungs- und Aktionsprogramm “Public Health und Humanisierung der Arbeit“

R. Müller

ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2018; 53: 606–607

In ihrem Aufruf „Public Health und die Welt der Arbeit – ein Memorandum“ plädieren Müller et al. (2016) für ein Forschungs- und Aktionsprogramm „Public Health und Humanisierung der Arbeit“, damit sich neue Kooperationen und Kompetenzen für eine wirklich inter- bzw. transdisziplinäre Arbeits- und Gesundheitsforschung herausbilden können. Ihr Appell richtet sich nicht nur an die Politik, sondern explizit an die wissenschaftlichen Akteure in den bislang eher getrennten Feldern der Arbeits- und Gesundheitsforschung. Darüber hinaus ist der Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis ein relevanter Aspekt, der weiterführend adressiert werden muss.

Ein erfolgreiches Zusammenwirken der wissenschaftlichen Akteure mit den Akteuren der betrieblichen und überbetrieblichen Praxis bedarf einer wissenschaftlichen Grundlegung im Verständnis von Inter- und Transdisziplinarität: Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie sowie Wissenschaftler und Praktiker anderer Spezialisierungen sind hier herausgefordert. Damit richtet sich das Memorandum ebenfalls an die Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin. Die Autoren verweisen auf ein beiden Feldern gemeinsames Ziel, nämlich sowohl der Sicherung der individuellen wie zugleich der öffentlichen Gesundheit verpflichtet zu sein.

Diese doppelte Perspektive wird von ihnen mit Überlegungen zu „Humanvermögen im Lebenslauf“ konzeptionell neu gerahmt.

Es handelt sich um eine interdisziplinäre Reformulierung des Ansatzes einer „Humanisierung der Arbeit“ und ist geeignet, um den Erwartungen Rechnung zu tragen, die von Seiten der deutschen und europäischen Politik in letzter Zeit an die Akteure der einschlägigen Wissenschaften herangetragen werden.

Die Anfrage der Politik an die Arbeits- und Gesundheitsforschung

Beide, die Europäische Kommission in ihrer strategischen Kommunikation zu „Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz“ vom Juni 2014 und der Deutsche Bundestag in seinen Empfehlungen vom März 2016 für eine „innovative Arbeitsforschung“ zur „Humanisierung unserer Arbeitswelt und mehr Beschäftigung“, plädieren für eine erweiterte wissenschaftliche und politische Herangehensweise an das Thema Arbeit und Gesundheit.

Historisch und systematisch gehört eine menschengerechte Arbeit unabdingbar zu den Bestrebungen von Public Health und Global Health. Zentrale Bestandteile der Politikprogramme der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Gestaltung menschenwürdiger Arbeit („decent work“) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit haben zuletzt auch Eingang in die neue internationale „2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen gefunden (Senghaas-Knobloch 2017). Die Bundesregierung will die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie dementsprechend ausrichten (Bundesregierung 2016).

Diesen politischen Beschlüssen und Zielsetzungen steht eine komplementäre Wissenschafts-Initiative zu Public/Global Health zur Seite. Sie ist in der 2015 publizierten gemeinsamen Stellungnahme der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften zu „Public Health in Deutschland – Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen“ dokumentiert (Leopoldina 2015).

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat ein breit angelegtes Programm mit einem umfangreichen Dialogprozess zu Arbeit 4.0 aufgelegt ( www.arbeitenviernull.de ). Ergebnisse des Dialogs sind in „Weißbuch Arbeiten 4.0“ niedergelegt. Hier wird auf das Programm „Humanisierung des Arbeitslebens (HdA)“ der 1970er und 1980er verwiesen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat zudem 2017 den Abschlussbericht ihrer Kommission „Arbeit der Zukunft“ vorgelegt (Hoffmann et al. 2017).

Gesundheit als politische Aufgabe und öffentliches Gut

Gesundheit kann, abstrakt gesprochen, als eine Funktion der biologischen Ausstattung, der Lebensumwelt und des individuellen bzw. kollektiven Handelns verstanden werden. Im Gesundheitsbegriff ist demgemäß die Welt der Natur mit der Welt der Gesellschaft verknüpft. Der Begriff hat anthropologische, funktionale und normative Aspekte. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (GG Artikel 2) zielt auf die physische und psychische Gesundheit und gilt als Grund- und Menschenrecht, das staatlich zu gewährleisten ist. Gleichzeitig ist die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung eine wesentliche Bedingung sowohl für die umfassend zu verstehende Arbeits- und Handlungsfähigkeit der Einzelnen als auch für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft (Müller 2009).

Für Europa hat die Weltgesundheitsorganisation eine am Lebenslauf orientierte Public-Health-Strategie zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit vorgeschlagen (WHO Europe 2013). In einer für die WHO durchgeführten Untersuchung zu gesundheitlicher Ungleichheit wird der umfassende Ansatz von Public Health deutlich: „We must address the social determinants of health, such as the conditions in which people are born, grow, live, work, and age – these components are key determinants of health equity. These conditions of daily life are, in turn, influenced by structural drivers: economic arrangements, distribution of power, gender equity, policy frameworks, and the values of society” (Marmot et al. 2012).

Humanvermögen als Schlüsselkonzept für eine innovative Arbeits- und Gesundheitsforschung

Für die erfolgreiche Realisierung einer Gesundheitsforschung, die sich der menschengerechten Gestaltung der Arbeitswelt verpflichtet weiß, ist eine tragfähige theoretische Fundierung notwendig, die geeignet ist, die verschiedenen analytischen Dimensionen und Orientierungen begrifflich zu erfassen. Zugleich sollten Potenziale für die Verknüpfung verschiedener Politikfelder aufgezeigt werden können. Mit den Konzepten zum Human- und Arbeitsvermögen im Lebenslauf liegt eine solche mögliche Fundierung vor. Zum Humanvermögen gehören neben dem Arbeitsvermögen (Pfeiffer 2004) innerhalb des gesellschaftlichen Leistungstauschs auch die Fähigkeiten zum politischen und gemeinnützigen Engagement, zur Betreuung von nahe stehenden Alten und Kranken und zur Elternverantwortung.

Mit dem Konzept des Humanvermögens kann die Wechselwirkung der biologischen und der subjektiv-personalen Entwicklungsmöglichkeiten sowie der gesellschaftlichen und der staatlichen Bedingungen im Lebenslauf untersucht werden. Die Chancen eines interdisziplinären Zugangs zu Humanvermögen können an den neueren interdisziplinären Diskursen zwischen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen veranschaulicht werden, beispielsweise zu den Kategorien Stress, Resilienz, Rhythmus oder auch soziale Kognition. Diese Kategorien werden sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften wie auch in der Psychologie neuerdings im wechselseitigen Bezug aufeinander erforscht und könnten so eine Scharnierfunktion für die theoretische Klärung von Human- und Arbeitsvermögen übernehmen.

Anstoß

Das vorliegende Memorandum könnte den Anstoß für einen mehrstufigen Prozess bilden, in dem Vertreter-/innen der Arbeits- und Gesundheitswissenschaften, Medizin und Ingenieur- sowie Rechtswissenschaft Themen, Inhalte, Grundsätze und Schlussfolgerungen für ein gemeinsames Verständnis von Public Health und der Welt der Arbeit identifizieren.

Literatur

Müller R, Senghaas-Knobloch E, Larisch J: Public Health und die Welt der Arbeit – ein Memorandum. Z Arbeitswiss 2016; 70: 126–136.

EU-Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über einen strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2014–2020 (COM 2014; 332 final).

Deutscher Bundestag: Innovative Arbeitsforschung für eine Humanisierung unserer Arbeitswelt und mehr Beschäftigung. Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Drucksache 18/7363, 2016.

Senghaas-Knobloch E: Gerechte Teilhabe durch Arbeit? Die Decent Work Agenda für eine weltweit inklusive gesellschaftliche Entwicklung. In: Misselhorn C, Behrendt H (Hrsg.): Arbeit, Gerechtigkeit und Inklusion. Ein Weg zu gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe. Stuttgart: J.B. Metzler, 2017, S. 211–228.

Bundesregierung: Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Neuauflage. Entwurf. Stand: 30. Mai 2016: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975274/214552/bc6c3313d40dd1da060732d16310677a/2016-05-31-download-nachhaltigkeitsstrategie-entwurf-data.pdf?download=1 (Zugriff: 15.9.2016).

Leopoldina: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Public Health in Deutschland. Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen [Stellungnahme]. Halle (Saale), 2015.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Weißbuch Arbeiten 4.0. www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a883-weissbuch.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (Zugriff 11.6.2017).

Hoffmann R, Jürgens K, Schildmann C: Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Bielefeld: transcript Verlag, 2017.

Müller R: Zur Sicherung von Gesundheit als individuelles, öffentliches und betriebliches produktives Potenzial In: Obinger H, Rieger E (Hrsg.): Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien. Herausforderungen, Reformen und Perspektiven. Festschrift für Stephan Leibfried. Frankfurt am Main: Campus, 2009, S. 119–136.

WHO Europe: Gesundheit 2020. Rahmenkonzept und Strategie der Europäischen Region für das 21. Jahrhundert. Kopenhagen: WHO Europe, 2013.

Marmot M, Allen J, Bell R, Bloomer E, Goldblatt P: WHO European review of social determinants of health and the health divide. Lancet 2012; 380: 1011–1029.

Pfeiffer S: Arbeitsvermögen. Ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung. Wiesbaden: Springer, 2004.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Verfasser

Prof. Dr. med. Dipl.-Soz. Rainer Müller

SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik

Universität Bremen

Mary-Somerville-Straße 5

28359 Bremen

mueller@uni-bremen.de

Fußnoten

SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen